Eingeschlossen in den eigenen vier Wänden. Im eigenen, aufgebauten Wir.
INHALT
Agnes Gerstenberg lässt uns in ihrem postdramatischen Stück „Zwanzig Komma drei Meter Ruhe“ zunächst auf zwei Figuren treffen: B und S, er und sie, ein Paar, das zusammen wohnt.
B erzählt uns ...
INHALT
Agnes Gerstenberg lässt uns in ihrem postdramatischen Stück „Zwanzig Komma drei Meter Ruhe“ zunächst auf zwei Figuren treffen: B und S, er und sie, ein Paar, das zusammen wohnt.
B erzählt uns auf akribische Weise wie der Morgen, ja der ganze Tag, der beiden verläuft.
Sie, also S, macht ihm, B, Rührei. Sie geht zu ihrer Arbeit. B bleibt zuhause und hat den ganzen Ablauf genau im Blick. Er zählt die Tagesabschnitte, die parts, in Sekunden, die Umgebung in Meterangaben.
S kommt zu spät von der Arbeit und B's Ablauf ist gestört. Ans Telefon geht er nicht. Er ist vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten.
"für mich gibt es kein Draußen
ich
schließe das Fenster
und dann ist da nichts mehr"
S ist seine einzige Kontaktperson. Bis zu Kapitel zwei, in dem wir eine dritte, außenstehende Person kennenlernen. L (Lena Witte) tritt auf und bald schon zwischen die beiden.
Sie geht gerne feiern, liebt es unter Leuten zu sein und ist spontan – das komplette Gegenteil von B. Je näher sich S und L kommen, umso mehr verliert B den Überblick über sein routiniertes Leben. S bricht aus, bricht ihm weg. L erfährt die Vorgeschichte zwischen B und S und greift so stark in deren Leben ein, dass B am Ende doch einen unerwarteten Schritt macht.
FAZIT
Der Text baut sich sich dynamisch auf und letztlich bleibt mir die Frage: Kann ich das Ende konkret deuten? Und ist das überhaupt wichtig?
Was mir vor allem wichtig erscheint, ist das Gefühl, das mir nach dem Lesen bleibt. Diese Zerrüttung der Lebensrealität von B, welche gerade so aktuell erscheint. Da wir genau jetzt im coronabedingten Lockdown auch in unserer Isolation feststecken. Die eigenen vier Wände werden vertrauter und vertrauter, wir ziehen uns darin zurück. Erstaunlich gegenwärtig ist also dieser Theatertext von Agnes Gerstenberg, der schon 2012 im Rahmen von FORUM Text, einem Lehrgang zum szenischen Schreiben der uniT in Graz, erschien.
Zudem bleibt mir ein unglaubliches Interesse an den Figuren. Wie geht es mit ihnen weiter? Wer genau sind sie? Mir gefällt die Art und Weise, dass dieser Text viel Interpretationsfreiraum lässt.
Zu der interessanten Thematik und Struktur mischt sich auf wunderbare Art eine gekonnte Poetik, welche mich manchmal im Lesen stocken lassen, weil ich mich so über die wunderbare Wortwahl freue.
"weil in der Nacht hatte ich das Gefühl
dein Atem schmiegte sich an mich
mit jedem Ausatmen setzte er sich hier
in meine Beuge
die zwischen Kopf und Schulter weißt du
und irgendwann blieb er dort
auch als du einatmetest blieb er dort
so als wollte er sich dort einquartieren und nie
wieder weggehen"
Insgesamt also ein gelungenes Stück, welches sich kurzweilig lesen lässt und danach zum nochmaligen Lesen und Nachdenken einlädt.