Beeindruckende Biografie einer beeindruckenden Frau
REZENSION - „In der Familienchronik dominieren die berühmten Männer, .... Für die Geschichte der Frauen war da wenig Platz“, bemängelt Autorin Angela Hartwig im Vorwort ihres Buches „Der Pelikan. Das Leben ...
REZENSION - „In der Familienchronik dominieren die berühmten Männer, .... Für die Geschichte der Frauen war da wenig Platz“, bemängelt Autorin Angela Hartwig im Vorwort ihres Buches „Der Pelikan. Das Leben der Lina Richter“. So ist ihre im Juli beim Vergangenheitsverlag veröffentlichte Biografie die erste umfassende Beschreibung der beeindruckenden Lebensleistung der Lina Richter (1872 bis 1960), die als Tochter des Berliner Bankiers Benoit Oppenheim in wohlhabenden bildungsbürgerlichen Kreisen aufwuchs und deren Leben nach der Hochzeit mit dem Philosophie-Professor und Nietzsche-Forscher Raoul Richter (1871 bis 1912), Sohn des Malers Gustav Richter und Enkel des Komponisten Giacomo Meyerbeer, sich nach damaliger gesellschaftlicher Vorstellung auf die Pflichten als Ehefrau und Mutter beschränken sollte.
Schon mit der Heirat des jungen, noch brotlosen Philosophen hatte sich die hochgebildete und selbstbewusste Lina Oppenheim, die Ururgroßmutter der Autorin, gegen den Widerstand des Vaters durchsetzen können, der sich seine Tochter lieber an der Seite eines vermögenden Bankiers gewünscht hatte. Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen und Bildung waren es auch, die der 40-jährigen Witwe den weiteren Weg ebneten. „Selbstständig darf sie nicht über die Zukunft der Familie entscheiden. Ihr und den Kindern wird Raouls Bruder Reinhold als Vormund bestimmt. Die Gesetze der Kaiserzeit bestimmen die entwürdigende … Erniedrigung von Witwen.“ Doch „ein Dasein nur als Hausfrau und Mutter behagt ihr gar nicht, sie fühlt sich einsam und wertlos“, heißt es im Buch. So veröffentlichte die alleinerziehende Mutter von fünf Kindern – von ihnen wird sie „Pelikan“ genannt, da diesem Vogel „die Tugenden der Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft und des Familiensinns zugeschrieben“ werden – zunächst den Nachlass ihres Mannes, dem sie schon zu Lebzeiten als gleichrangige Beraterin zur Seite gestanden hatte, engagierte sich in der Deutschen Vereinigung für Frauenstimmrecht und avancierte sogar zur politischen Beraterin des Prinzen Max von Baden, des letzten kaiserlichen Kanzlers. Nach dem Krieg gründete sie mit ihrem ehemaligen Vorgesetzten im Außenministerium, dem Pädagogen Kurt Hahn (1886 bis 1974), den Lina schon Jahre zuvor im Berliner Salon seiner Mutter kennengelernt hatte, das reformpädagogische Internat Salem am Bodensee und arbeitete dort – wie schon vor ihrer Ehe – wieder als Lehrerin. Wegen ihrer jüdischen Abstammung verlor sie 1934 ihre Lehrerlaubnis. Daraufhin folgte sie Kurt Hahn nach Schottland, wo dieser gerade in Moray die British Salem School (heute Gordonstoun) aufbaute. Erst 1953 kehrte Lina Richter nach Deutschland zurück, wo sie 1960 in Kiel starb. Es war der Tod des britischen Prinzgemahls (2021), der Angela Hartwig den Anstoß gab, die Biografie ihrer Ururgroßmutter zu verfassen, war diese doch des Prinzen Lehrerin sowohl in Salem als auch später in Gordonstoun gewesen.
„Dieses Buch erhebt nicht den Anspruch, wissenschaftlich-akademische Studie zu sein. Vielmehr möchte ich über die zitierten Briefe die Akteurinnen und Akteure in Dialog miteinander treten lassen.“ Und weiter heißt es im Vorwort: „Doch Gespräche in der Familie, ihre Gewohnheiten und Traditionen werden in der Regel nur mündlich von Generation zu Generation weitergegeben. Gerade dieses mündlich Tradierte … birgt Atmosphärisches und Emotionales.“ So verarbeitete die Autorin in ihrem „erzählenden Sachbuch“ vor allem Auszüge aus den 800 erst vor wenigen Jahren aufgefundenen und nun im Berlin-Brandenburgischen Wirtschaftsarchiv archivierten Familienbriefen sowie im Familienkreis Gehörtes.
Auf diese sehr familiäre und persönliche Weise bringt uns die Autorin, die heute als pädagogische Mitarbeiterin einer Grundschule gewissermaßen das reformpädagogische Erbe ihrer Ururgroßmutter erfüllt, nicht nur den ungewöhnlichen Werdegang der Lina Richter, sondern zugleich auch das über fünf Generationen reichende gesellschaftliche Leben und Wirken ihrer teils großbürgerlich jüdischen, teils preußisch adligen Familie aus der Kaiserzeit bis zur Zeit der Nationalsozialisten empathisch wesentlich näher als jede geschichtswissenschaftlich-nüchterne Arbeit. „Ich schätze mich glücklich und stolz, eine Nachfahrin Lina Richters zu sein. Sie war eine bemerkenswerte Frau mit einem bewegten Leben. Ihr Name gehört in die Geschichtsbücher“, schrieb Angela Hartwig kürzlich dem Rezensenten. Es ist gerade dieses Familiäre, das ihre Biografie „Der Pelikan“ lebendiger, deshalb interessanter und umso lesenswerter macht.