Mehr als Schullektüre
Liebe Daisy,
heute hab ich eine kurze, knackige Novelle, die ich dir vorstellen möchte: Fräulein Else von Arthur Schnitzler. Diesmal was von einem Österreicher - war mir das eine Freude mit all den österreichischen ...
Liebe Daisy,
heute hab ich eine kurze, knackige Novelle, die ich dir vorstellen möchte: Fräulein Else von Arthur Schnitzler. Diesmal was von einem Österreicher - war mir das eine Freude mit all den österreichischen Ausdrücken (keine Sorge, bei Unklarheiten gibt es hinten ein Glossar). Kennst du den Herren Schnitzler eigentlich? Ich hab vor Ewigkeiten mal die Schachnovelle von ihm gelesen, kann mich aber kaum noch erinnern. Das Wissen sollte ich definitiv mal wieder auffrischen. Aber Eins nach dem Anderen.
Fräulein Else ist erstmals 1924 erschienen und inhaltlich 1896 angesiedelt. (Letzteres wird so nicht genannt, man findet es aber in der Sekundärliteratur.) Trotzdem spürt man die Ungewissheit der Zwischenkriegszeit in den Nuancen des inneren Monologes, in dem die Novelle verfasst ist. Sie erzählt von der gutbürgerlichen Else, deren Vater in einer finanziell prekären Lage steckt. Es liegt an ihr, ihm auszuhelfen, was sie in einen inneren Zwiespalt bringt.
Ich war zugegebener Maßen beeindruckt wie emanzipiert die Protagonistin sich zeigt: sie möchte nicht heiraten, sondern reisen und beweist sich als durchaus sarkastisch: „Er stellte den einen Fuß auf die Bank. Soll das elegant sein – oder was?“ (S. 31). Sie erkennt die Oberflächlichkeit der Gesellschaft und bleibt sich selbst auch im Zuge ihrer wachsenden Verzweiflung treu. Letztere zeigt Schnitzler mit gekonnter Präzession:
„Wenn Sie mich grüßen, so kehre ich wieder um. So grüßen Sie mich doch. Ich sehe Sie doch so liebenswürdig an ... Er grüßt nicht. Vorbei ist er. Er wendet sich um, ich spüre es. Rufen sie, grüßen Sie! Retten Sie mich! Vielleicht sind Sie an meinem Tode schuld mein Herr! Aber Sie werden es nie erfahren. Adresse bleibt Fiala...“ (S. 63)
Generell war ich sehr positiv davon überrascht, wie schnell ich mich in Elses Gedanken eingefühlt und sie verstanden habe – trotz einiger absurder Momente. Man wusste nie, wohin einen ihr sprunghafter Geist als nächstes führen und wohin sich die Geschichte somit entwickeln würde. Sehr spannend und unkonventionell zu lesen! Natürlich handelt es sich bei der jugendlichen Erzählerin um eine, die nur bedingt zuverlässig ist, aber gerade dieser Blick in den Kopf der Protagonistin hat die Geschichte viel greifbarer und berührender gemacht, als wäre sie in einem anderen Format geschrieben gewesen.
Wenn du also nach einer inhaltlich wie sprachlich interessanten Lektüre Ausschau hältst, kann ich dir diese Novelle nur empfehlen: obwohl sie bei Reclam erschienen ist, was ich bisher mit anstrengender Schullektüre verbunden habe. Eine Einstellung, die ich gerade grob zu überdenken anfange.
Deine Daffy