Ein Alltagsdossier aus Sicht eines an Alzheimer Erkrankten
Bosten, USA:
Maarten Klein ist einundsiebzig Jahre alt und pensioniert. Er lebt mit seiner geliebten Frau Vera, und dem gemeinsamen Hund Robert, in einer Kleinstadt in der Nähe von Bosten. Das Haus ist ...
Bosten, USA:
Maarten Klein ist einundsiebzig Jahre alt und pensioniert. Er lebt mit seiner geliebten Frau Vera, und dem gemeinsamen Hund Robert, in einer Kleinstadt in der Nähe von Bosten. Das Haus ist leer und still geworden, seit die Kinder sind ausgezogen sind.
Plötzlich spürt Maarten Veränderungen an sich selbst, die ihn fürchten lassen. Er ist oft müde, niedergeschlagen, manchmal durcheinander und auch vergesslich. Nun ja, denkt er sich, er hat das Alter erreicht in dem der Körper manch ein Zipperlein zum Vorschein bringen darf.
Aber als die Kälte und die Dunkelheit des vorherrschenden Winters ihn depressiv stimmen und er sich nichts sehnlicher wünscht als dass der Frühling endlich einkehrt, ist er zutiefst bedrückt und verunsichert. Plötzlich hat er Schwierigkeiten seine Gedanken zu ordnen, seine Erinnerungen verblassen, Personen scheinen ineinander zu verschwimmen und wenn er alleine ist, geht einfach alles schief.
Maarten hat nur noch eines im Kopf, bloß nicht mit seinem Durcheinander im Kopf auffallen. So tun als ob. Bloß nichts Vera sagen. Bloß keine Selbstgespräche führen. Immer warten bis die Umstände irgendwie weiterhelfen.
Und so versucht Maarten seinen Alltag zu meistern, bis ein kleiner Spaziergang mit dem Hund zum ungewollten Tagesausflug wird, er die verschlossene Tür zu einer imaginären, dienstlichen Konferenz mit dem Hammer öffnet, auf den Schulbus der längst ausgezogenen Kinder wartet, ein Fenster einschlägt, damit der Hund im winterlichen Garten nicht erfriert und er mitten in der Nacht alle weckt und Klavier spielt.
Maarten spürt dass sich etwas Gravierendes in seinem Körper zusammen braut und er schildert aus seiner Innensicht, wie ihn die Krankheit Alzheimer langsam zermürbt und für alles Lebenswerte unfähig macht.
Der Autor:
Bernlef (eigentlich Hendrik Jan Marsman, 1937–2012) ist vor allem als Lyriker und Verfasser zahlreicher Prosawerke hervorgetreten, der 1984 erschienene Roman Hersenschimmen machte ihn weit über die Niederlande hinaus bekannt. Der deutschen Übersetzung ist ein Nachwort des Autors zum Erfolg des Buches aus dem Jahr 2007 beigegeben. (Quelle: Reclam Verlag)
Reflektionen:
Hirngespinste ist ein sehr eindringlicher Roman, der durch die authentische Figur des Rentners Maarten Klein, die krankheitsbedingten Veränderungen eines an Alzheimer Erkrankten, aus dessen Innensicht tabulos schildert.
Dieses Buch ist ein Geschenk.
Es erlaubt einen tiefen Blick in die völlig irritierte Welt eines an Alzheimer Erkrankten Menschen, der spürt wie sich sein Geist und sein Körper unaufhaltsam verändern. Diese Innensicht, die uns Gesunden bisher weitestgehend verschlossen geblieben ist, wird durch diesen Roman zu einer unheimlichen Ahnung, die wiederum sehr bereichernd ist.
Fast jeder von uns ist schon einmal mit Menschen in Berührung gekommen, die an einer Demenz oder an einer alzheimerischen Krankheit leiden, oder man ist familiär sogar betroffen. Und natürlich wissen wir nicht, wie es tatsächlich in diesen erkrankten Menschen aussieht, was sie fühlen und empfinden und wie sie tatsächlich leiden. Ist die Krankheit erst ausgebrochen, erscheinen die Betroffen oft teilnahmslos, doch bis dahin haben sie schon eine Odyssee aus Ohnmacht, Angst und Verwirrung hinter sich.
Dieses Buch hilft.
Es hilft zu verstehen, was für ein Chaos in dem traurigen Seelenleben eines Erkrankten herrscht. Wie hilflos er sich fühlt, wie verzagt und am Boden zerstört, bis die Krankheit ihn schließlich ganz gefangen nimmt und für immer fesselt.
Ich bin unglaublich dankbar dieses Buch gelesen zu haben, da es mir manch einen einfühlsamen Aha-Moment geschenkt hat. Dieser Roman berührt, aber er erlaubt durchaus auch ein Schmunzeln, denn dem niederländischen Autor liegt es fern, ausschließlich eine melancholische Seite aufzuzeigen.
Berlef erzählt die Geschichte Maarten Kleins in einer Art Alltagsdossier. Dadurch verleiht er dem Roman die Authentizität, die die Erkrankung Alzheimer für jeden Leser zugänglich macht.
Die Figur Maarten Klein ist aus der Ich-Perspektive dargestellt, bis sie mit Fortschreiten der Erkrankung nach und nach in der dritten Person zu denken und zu sprechen beginnt. Und dann ist da Vera, seine geliebte, vertraute Frau, die plötzlich in einem Sog der Entfremdung fast gänzlich verschwindet.
Zitat:
Durch Türen. Wie viele? Und all die Richtungen, es ist zum Schwindeligwerden.
„Auf nach Norden!“ Meine Stimme klingt entschlossen, immerhin, aber viel schwächer. (Abnutzung?)
Veras Hand. (Das ist dich ihre Hand?) Den Blick nicht abwenden jetzt, folgen jetzt, bis ein großes flaches Stück Holz in Sicht kommt, eine glatte, glänzende Fläche, von der man zweifach geknickt, in sitzende Haltung hingepflanzt wird. Halte dich am Holz fest, an der dicken Holzkante. Sonst steigst du auf oder du kenterst.
Es liegt jetzt auch an Wörtern. Leichte Sätze kommen zuerst, schießen wie Korken nach oben, gewollt und ungewollt; die besseren Sätze sind zu lang und zu schwer, sie bleiben irgendwo unter meiner Zunge, dümpeln.
Das Essen. Kann selber essen, hörst du, bin kein kleines Baby mehr. Viel … viel essen. Keine Zeit für Besteck, das verschwindet, unter mir in die Tiefe gescheppert. Muss schnell mit der Hand reingestopft werden. (Ehe sie alles wieder wegnehmen, mich abputzen, mir mit einem rauhen Lappen die Wangen abwischen.)
Licht wird hohl. Ein Mensch ist auch voller Löcher. Ein Mensch müsse geschlossener sein. Aud die Dauer kann man nichts mehr drinbehalten.
Schönes glattes Holz zum Drüberreiben. Bewegung, die Leerlauf verhindert. Lieber nicht so oft zur Seite schauen! Den Blick geradeaus.
Gerufe, dass es wieder schneit. Den Rücken zukehren. Niemals mehr Verwirrung eingestehen.
Soll wieder woanders hin. (Frage:“ Ob man allein gehen kann“) Hätte gekonnt, aber nun doch zu gefährlich.
Schweres Hängen an einem Mohair-Arm. Losgelassen. Falle. Taumele in einen harten Stuhl. Holz an beiden Seiten. Holzlatten rings um meinen Körper. Halte mich an Dingen fest, gegen die wirbelnden Flocken da draußen, die ich nun doch sehen muss. Ein dickes Schneepaket auf Veras blauem Datsun. (Das war soeben wieder einmal ein guter, schwerer, altmodischer Wortsinn.)
Bernlefs ist mit Hirngespinste ein meisterliches Werk gelungen und es ist unglaublich schade, dass es in Deutschland bisher nicht die Publicity erhalten hat, die es längst verdient.
Fazit:
Hirngespinste empfehle ich jedem Leser, der gern eine Ahnung bekommen möchte, was die Erkrankung Alzheimer, oder auch Demenz, in einem erkrankten Menschen mit der Zeit auslöst. Hirngespinste wird berühren, aufrütteln und traurig machen, aber es ist ein Geschenk und eine Bereicherung des Verstehens.