… Oder ist der Weg das Ziel?
Manchmal fällt mir ein Büchlein in die Hand, das so gar nichts mit meinen üblichen literarischen Interessen gemein hat und das mich dennoch, oder trotzdem, fesselt. Normalerweise geht es rasant zu in den ...
Manchmal fällt mir ein Büchlein in die Hand, das so gar nichts mit meinen üblichen literarischen Interessen gemein hat und das mich dennoch, oder trotzdem, fesselt. Normalerweise geht es rasant zu in den Geschichten, die ich verschlinge, da wird auch mal die Welt aus den Angeln gehoben oder eine neue Menschenrasse gezüchtet, meistens hetzt der Autor durch die Story, dass der Leser kaum hinterherkommt.
Nicht so bei Christian Zimmermann, da schrumpft die Geschwindigkeit auf die Schrittfolge des Wandersmannes und gleichzeitig gewinnt die räumliche Ausdehnung existenzielle Ausmaße: 3392 Kilometer von Flumenthal in der Schweiz nach Moskau im Herzen Rußlands. Wer, so wie ich, meistens mit dem Zug durchs Land rauscht, sehnt sich manchmal, wenn die Landschaft beinah unscharf am luftdichten Fenster vorbeirast, nach genau jener Entschleunigung, mit der der Autor auf Reisen geht und sich dabei seinen Weg selbst erarbeitet, der Landschaft und den Elementen direkt ausgesetzt. Land, Kultur und die Menschen, die den jeweiligen Raum bewohnen: Die Begegnungen sind authentisch und unmittelbar und manchmal unvermittelt und voller Überraschungen.
So etwas wie eine Ursehnsucht wird in mir geweckt und die Erinnerungen an einen Klassiker, den ich in jüngeren Jahren mit Interesse gelesen habe und den ich, in den Tag träumend, auf seiner Wanderschaft vor über 200 Jahren begleitet habe, stiegen in mir hoch als ich Zimmermanns Büchlein in den Händen hielt: Johann Gottfried Seumes „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“. Aber auch der Reisebericht eines Stern-Reporters (dessen Name mir entfallen ist) und den mir Lilly mal zugesteckt hatte, fiel mir wieder ein. Alle haben sie sich zu Fuß auf die Reise begeben und ihnen allen wurde diese Erfahrung zu einer existenzieller, zu einer, die das Leben neu geerdet hat.
Und ich sitze im ICE, der pfeilschnell dahinfliegt, und lese, wie ein Schritt vor den anderen gesetzt wird und Christian Zimmermann seinen auf den Namen Mrs. Molly getauften Einkaufswagen vor sich her- und immer weiter Richtung Osten schiebt. Einhundertelf Tage ist er unterwegs und mit jedem neuen Tag erlebt er, wie sich die Welt jeweils ein Stückchen ändert, auch wenn es scheint, als ob sie stillsteht. Je weiter er sich seinem Ziele nähert, desto menschlicher scheint es zu werden, irgendwie verändert allmählich die Landschaft den Volkscharakter. Oder ist es die Weite, die zunimmt, je mehr man die kompakten Siedlungsgebiete Mitteleuropas hinter sich lässt?
Nein, dieser Bericht liefert keine herkömmlich „Spannung“, hier gibt es keine „Action“, keinen „Thrill“ und dennoch ist es eine wunderbare Lektüre, die ich allen, die in ihrem Leben ein wenig Luft holen und wenigstens kurz verharren möchten, wärmstens empfehlen kann. Ich habe mich während der 300 km Eisenbahnfahrt darangemacht und die 3392 km Fußmarsch innerhalb der Fahrtzeit geschafft. Nun muss ich nur noch endlich selbst Schusters Rappen satteln. Werde ich es schaffen? Vor meinem Auge tauchen die Ziele ganz verschwommen aus dem Nebel der Imagination: Syrakus, Moskau … Oder ist der Weg das Ziel?