Nähe – Fremde – Gegenwart
„Die Moral von der Geschichte war, dass man hochhalten müsse, was uns zu Menschen machte, und dazu gehörte auch die Angst vor dem Tod und der Apokalypse.“ Vielleicht bringt genau dieser Satz aus Daniel ...
„Die Moral von der Geschichte war, dass man hochhalten müsse, was uns zu Menschen machte, und dazu gehörte auch die Angst vor dem Tod und der Apokalypse.“ Vielleicht bringt genau dieser Satz aus Daniel Galerals neuem Roman So enden wir die Erzählung auf den Punkt. Dieses Buch mit dem unscheinbaren und zunächst etwas kryptisch erscheinenden Cover bietet maximalen Inhalt bei nahezu minimaler Handlung. Galera hat nach seinem ersten deutschsprachigen Roman Flut (2013) ein Werk geschaffen, das der Gegenwartsgesellschaft den Spiegel vorhält, indem es die Frage nach der Authentizität des Einzelnen sowie der Beständigkeit von Kultur, Denken und Existenz der Welt in Zeiten von Big Data, Globalisierung und Klimakatastrophen stellt. Doch es ist auch ein Roman, der versucht, das verworrene Geflecht zwischenmenschlicher Beziehungen näher zu beleuchten, der das Erinnern und alles Vergangene feiert und vor allem aber den Kampf zwischen den Idealen der Jugend und denen des Erwachsenseins beschreibt.
Galera malt mittels seiner abwechselnd erzählenden Protagonisten Aurora, Emiliano und Antero, die sich auf der Beerdigung des gemeinsamen Freundes Duque nach fünfzehn Jahren wiedertreffen, ein düsteres Bild und wählt als Schauplatz hierfür ausgerechnet seinen eigenen Wohnort, die Stadt Porto Alegre aus, die er detailversessen und mitunter beinahe obsessiv in all ihren heruntergekommenen und kriminellen Facetten beschreibt. Mit Duques Tod und dem Wiedertreffen der Protagonisten beginnt die nicht enden könnende Erinnerung an die gemeinsam erlebten Studienjahre in den 90er Jahren. Es sind Erinnerungen an die gemeinsame Zeit in der Redaktion ihres Online Fanzines Orangotango, Erinnerungen an den Glaube an eine Zukunft, in der das noch in den Kinderschuhen steckende Internet alles möglich machen könne und vor allem sind es Erinnerungen an Zeiten voller Partys, Drogen, Sex und Weltverbesserungspläne.
Inzwischen haben sich jedoch alle drei, mittlerweile Ende dreißig, von ihren Träumen und Illusionen der Jugend verabschiedet und blicken mit Frustration auf die Gegenwart, die in ihren Augen nur der Beginn sein kann „einer langsamen, irreversiblen Katastrophe.“ Sinnbildlich hierfür steht die Stadt Porto Alegre, in der sich Hitze und Gestank wie in Zeiten des Mittelalters über die Stadt zu legen scheinen. Keiner der drei will verständlicherweise an diesem lebensfeindlichen Ort bleiben, doch man fragt sich nach der Lektüre, ob sie denn überhaupt noch leben wollen. Alles scheint falsch an dieser Gegenwart und auch wenn es Galera gelingt, an diesen Stellen Raum für die großen Gesellschaftsfragen der Zeit aufzumachen, so wird doch auch klar, dass es hier noch um etwas anders geht: Den Kampf zwischen Jugend und Erwachsensein. Verzweifelt wird hier versucht nach den einstigen Idealen zu streben und die Vergangenheit in der Gegenwart noch einmal auszuleben, doch ebenso verzweifelt müssen die Freunde feststellen, dass diese Ideale nicht mehr in die Gegenwartsgesellschaft hineinzupassen scheinen.
Auf eine brillant-indirekte Weise gelingt es Galera, diesen Kampf durch eine Ambivalenz in der Sprache auszudrücken. Da ist zum einen die mitunter komplexe Syntax, welche überwiegend die kausalen, vernunftgeleiteten Gedankengänge eines Erwachsenen nachzuzeichnen vermag und zum anderen jedoch lassen sich in genau jenen Satzgebilden jugendsprachliche Begriffe wie „ficken“ und einen typisch jugendlichen Sexismus finden, der in einigen Passagen zwar fehl am Platz wirkt, an anderer Stelle aber geschickt auf den Wunsch der drei Protagonisten verweisen, sich die verlorenen, avantgardistischen Jugendideale zu bewahren und wenigstens in Gedanken so zu sein wie früher. Im Verlauf wird aber immer deutlicher: Dieser Kampf ist verloren. Ausbruchversuche aus der durch Massenmedien geformten Normalität und deren Oberflächlichkeit sind kaum mehr möglich. Antero bringt es auf den Punkt: „Die Zeiten, in denen ein Mensch andere schockieren kann, sind vorbei.“ und „Unaufrichtigkeit ist in ihrer reinsten Form die Ästhetik der Zukunft.“ Man gewinnt den Eindruck, dass die drei ehemaligen Freunde, dessen Verhältnis über die Jahre doch etwas gelitten hat, aufgrund des permanenten Abschweifens in Erinnerung eigentlich mehr in der Vergangenheit leben als im Hier und Jetzt. Während die Erinnerungen immer bunter und ausschweifender werden, fährt die Handlung in der Gegenwart bis zum unvorhergesehenen Schluss des Romans beinahe auf den Nullpunkt und dient nur dazu die Jugend noch einmal zu wiederholen, was mit Auroras ungeplanter Schwangerschaft und Anteros verantwortungslosem Verhalten in die Katastrophe führt. Ob von Galera beabsichtigt oder nicht: Hier entwickelt der Roman eine belehrende Wirkung. Wer in der Vergangenheit lebt, negiert die Gegenwart und Zukunft und zerstört und manipuliert sie mitunter sogar.
Galera trifft die Gegenwart an ihrer vielleicht empfindlichsten Stelle: Ihrer Oberflächlichkeit. Was verbirgt sich denn noch hinter einer Gesellschaft, in der Schönheit massenmedial genormt wird? Im Zeitalter von Photoshop und Fakenews sehnen sich die Enddreißiger nach Authentizität und treffen damit vermutlich das Lebensgefühl so einiger Menschen, die mit Polaroidbildern und verpixelten Videos aufgewachsen sind. Die Oberflächlichkeit ist jedoch kein kollektives Phänomen, sondern findet auch Einzug auch auf Individualebene, in direkter zwischenmenschlicher Beziehung und hat genau dort vielleicht ihren Ursprung. Mittels seiner Protagonisten und der wechselnden Erzählhaltung zeigt Galera uns, wie wir aus der Oberfläche eines Menschen, seinem Öffentlichkeitsauftritt in sozialen Netzwerken auf dessen Charakter und seinen Gefühlszustand schließen und uns ein fatal oberflächliches und zumeist falsches Bild machen. So fügen sich die drei ehemaligen Freund in ihrer mangelnden Kommunikation und ihrer Verschwiegenheit letztlich doch ins Bild der Zeit ein, obwohl keiner der drei sich dies einzugestehen vermag. Es scheint beinahe, als habe Galera das Geheimnis zwischenmenschlicher Nähe in der Gegenwart auf eine düstere Weise gelöst: Wir begegnen einander, betasten die Oberfläche des jeweils anderen, glauben, dass unsere Twitter-Follower unsere Freunde sind und leben letztlich ohne echte Kommunikation und Nähe immer mehr aneinander vorbei, einander ein ewiges Geheimnis bleibend und sterben schließlich geistig einsam.
Am Ende bleibt die beklemmende Frage: Wollen wir so enden?
Zum weiterlesen: https://www.suhrkamp.de/buecher/soendenwir-danielgalera42801.html
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