Fiktive Doppelbiographie –sehr unterhaltsamer Einblick in die Entwicklung zu modernen Wissenschaften
Vorab: der Roman ist eine FIKTIVE Doppelbiographie mit zahlreichen Abweichungen zur Realität, zum Vergleich https://de.wikipedia.org/wiki/DieVermessungderWelt#DieFragederAuthentizit%C3%A4t
Ich empfehle, ...
Vorab: der Roman ist eine FIKTIVE Doppelbiographie mit zahlreichen Abweichungen zur Realität, zum Vergleich https://de.wikipedia.org/wiki/DieVermessungderWelt#DieFragederAuthentizit%C3%A4t
Ich empfehle, vorher kurz diesen Abschnitt des Wikipedia-Artikels anzulesen – man verliert angesichts des mitreißenden Romans sonst leicht den Blick auf die (realen, vom Roman GELEGENTLICH abweichenden) Fakten. Ein Roman „darf das“ natürlich, er ist Fiktion, aber lebendig gemalte Bilder könnten sich sonst vor die Realität schieben, falls man eine Meinung zu den ECHTEN Personen äußern möchte.
Der Deutsche Naturforscherkongress in Berlin 1928 bildet die Rahmenhandlung; Carl Friedrich Gauß reist auf Einladung von Alexander von Humboldt an. Dazwischen und danach eingebettet sind Kapitel, die sich abwechselnd dem Werdegang der beiden jetzt älteren Wissenschaftler widmen.
Kehlmann entfernt sich zwar in einigen Dingen, wie oben angedeutet, von der Realität, folgt aber im Wesentlichen den „echten“ Lebensstufen der beiden Koryphäen. Dabei treten Unterschiede hervor wie auch Gemeinsamkeiten, besonders die absolute Hingabe mit einiger Selbstaufgabe: „In der nächsten Mission bekamen sie Ameisenpastete zu essen. Bonpland weigerte sich, aber Humboldt kostete ein wenig. Dann entschuldigte er sich und verschwand eine Weile im Unterholz.“ S. 122
Über diese Unterschiede und Gemeinsamkeiten und vor dem Hintergrund der jeweiligen wissenschaftlichen Tätigkeiten spannt Autor Kehlmann höchst unterhaltsam ein Wissenschaftspanorama auf, wobei beide oft von ihren Zeitgenossen nicht verstanden werden: „Die Mitte Spaniens sei kein Becken, erklärte Humboldt. Die Geographen seien wieder einmal im Unrecht. Vielmehr sei sie ein Hochplateau und habe einst als Insel aus einem vorzeitlichen Meer geragt.
Selbstverständlich, sagte Bonpland und nahm einen Schluck aus seiner Flasche. Als Insel.“ S. 42 .
Für den Leser ist die Lektüre auch dadurch amüsant, weil er die damals revolutionären neuen Möglichkeiten als längst Vergangenes kennt - oder als weiterhin nicht Erreichtes. Gauß: „Bald, erklärte er, würden Menschen die Menschen mit der Geschwindigkeit eines abgeschossenen Projektils von Stadt zu Stadt tragen. Dann komme man von Göttingen in einer halben Stunde nach Berlin.“ S. 8 f Nun, pünktlich würde heute schon reichen, und das weiß der Leser natürlich.
Ich mag NACH diesem tollen Roman geradezu durch die passenden Wikipedia-Artikel fliegen (nachher, dann lesen sie sich wirklich wie im Fluge). Viele der zeitgenössischen Persönlichkeiten und historischen Bezüge werden im Roman nur angedeutet – die Schlacht von Jena und Auerstadt oder ein vermeintlicher Turnvater Jahn. Namen werden selten genannt, selbst der von Wilhelm Humboldt nie. Somit durchaus ein Einstieg in weitere Lektüre und Recherche.
Vollends begeistert hat mich dann der Schluss, mit dem Kehlmann den Leser entlässt in die Erörterung, was denn nun „besser“ sei: unbequem-halsstarrig beharrend oder angepasst-gefördert, aber auch von den eigenen Plänen abgehalten? Mit Familie und dennoch allein oder allein und auf der Suche?
Fazit: unterhaltsam zurechtgebogen, aber eben wirklich unterhaltsam dabei. 5 Sterne.