Band 10
der Reihe "reihe sonderausgaben"
86,00
€
inkl. MwSt
- Verlag: gutleut verlag
- Themenbereich: Belletristik
- Genre: keine Angabe / keine Angabe
- Seitenzahl: 320
- Ersterscheinung: 28.12.2022
- ISBN: 9783948107420
202 gedichte
Sonderausgabe
Michael Wagener (Illustrator)
Ein gemeinsamer langer Spaziergang an der Küste in einer Symposiumspause 2015 markiert den Anfang einer engen Zusammenarbeit zwischen Autor, Künstler und Verleger, zwischen Dirk Uwe Hansen und Michael Wagener.
Seitdem sind die Bände wolkenformate (2016), sonne geschlossener wimpern mond (2018), aussichtsplattform | welten.9 | darsolarpolar (2020) und sirenenecho (2022) erschienen: 202 gedichte und zahlreiche Bilder. Ergänzt wird die Sonderausgabe 202 gedichte mit einem Text von Dirk Uwe Hansen zu den Büchern, neuen Gedichten und Bildern.
Musenhain und Klippenbrüter
Mir waren die Sirenen immer näher als die Musen. Vielleicht ist das so ein Gefühl von Solidarität mit den Verliererinnen der von Siegern geschriebenen Geschichte — und es spricht ja wohl nicht gegen sie, dass Odysseus, der alte Opportunist, sich nicht auf sie einlassen wollte, und Orpheus so laut schreien musste, dass auf der kleinen Argo nur noch seine Stimme zu hören war, und auch nicht, dass die Musen sich seit Aptera wortwörtlich mit ihren, der Sirenen, Federn schmücken können. Vielleicht ist es auch eine Frage der Herkunft, der liebliche Musenhain schien mir unwirklicher als der raue Strand der Sirenen, die ich mir immer noch als eine Art Halbmöwen denke, nicht solche niedlichen Fischbrötchenräuber, eher Sturmvögel und Klippenbrüter, die tagelang für sich allein über dem Meer schweben können. Die brauchen uns nicht, die singen nicht für die Ohren und schon gar nicht durch die Münder von Menschen, und wir können höchstens versuchen, uns einen Reim auf ihren Gesang zu machen. Der Rest ist ja doch nur misslaunige Zugabe, ihr Vergnügen an verwesenden Seemannskörpergliedern ebenso wie die Sirenen als Verkörperung gefährlicher sexueller Verlockungen; wer solche Ängste hat, dem können weder Musen noch Sirenen helfen.
Und Hilfe brauchte ich, als ich mir in den Kopf gesetzt hatte, einen autobiographischen Zyklus von Gedichten zu schreiben. Sag mir, Sirene, was...? Wen, wenn nicht die allwissenden Sirenen sollte ich um Hilfe anrufen — ἴδμεν δ' ὅσσα γένηται ἐπὶ χθονὶ πουλυβοτείρῃ (wir wissen alles, was geschieht, auf der viele ernährenden Erde), so sagen sie selbst von sich; und so hatte ich dann tatsächlich einen Moment der Dichterweihe (falls ich mir dieses Pathos hier mal erlauben darf): Die Sirenen fingen an, Orte und Fetzen von Erinnerungen, die mir dafür im Kopf herumgespukt hatten, zu kommentieren, so, dass ich nicht anders konnte, als zu versuchen, mir darauf einen Reim zu machen. Was folgte, waren einige Wochen rauschhafter Arbeit, bis aus den in meinem Hirn klingenden Fragmenten und Kommentaren zu Fragmenten achtzehn Gedichte in einem gelben Heft geworden waren. Und es wundert mich inzwischen nicht mehr, dass ich Michael Wagener ausgerechnet auf einem Spaziergang an der Ostsee von dem Zyklus erzählt habe, Anfang einer beglückenden Zusammenarbeit mit dem gutleut verlag, weil sein tiefes Verständnis für Texte und mehr noch seine schonungslose Kritik auf dem Weg vom rauschhaft beseelt Geschriebenem zu druckbaren Texten ganz unverzichtbar war, und seine Bebilderungen gleich noch Wege zu neuen Texten wiesen.
Alles wissen die Sirenen, aber an ihrem Strand liegt die Wirklichkeit in Fragmenten und Fetzen bereit; Fragmente und Fetzen, die nicht aufhören, mich aufzufordern, mir einen Reim auf sie zu machen. Was ich mit kindlicher Feude mache, mit Strandgut, Wolkenbildern, halbvergessenen Orten, Buchstaben, die ich in braunen, schwarzen, orangefarbenen Heften sammeln muss und ... Und immer wieder sind unter den Fraktalen von Welt, denen ich versuche eine neue Sprache zu geben, zufällig übriggebliebene Stückchen griechischer Literatur, die Fragmente der Gedichte Sapphos, in denen schwer oder gar nicht mehr zu verstehende Bruchstücke von Versen und Worten mit ihren verführerischen Rhythmen zusammen neue Bilder ergeben, oder die verstümmelten Reste archaischer Kosmogonien wurden zu solchen Sirenenrufen und Herausforderungen.
Und — wieder so ein seltsam märchenhaftes Geschehen — nach ein paar Jahren, in denen ich am Strand der Sirenen solche Fragmente aufgelesen, in Heften zu Gruppen sortiert und dann zu Gedichten gemacht habe (die dann wieder mit Bildern von Michael zum Leben erweckt wurden), fanden sich unter den Bruchstücken hartnäckig wie Zikadenrufe im Ohr schnarrende Bruchstücke meiner ersten Begegnung mit den Sirenen, die wieder zu neuen Texten werden wollten, ein Echo dessen, womit alles angefangen hatte.
Ich musste also ein neues Heft kaufen …
Dirk Uwe Hansen, Greifswald im Herbst 2022
Seitdem sind die Bände wolkenformate (2016), sonne geschlossener wimpern mond (2018), aussichtsplattform | welten.9 | darsolarpolar (2020) und sirenenecho (2022) erschienen: 202 gedichte und zahlreiche Bilder. Ergänzt wird die Sonderausgabe 202 gedichte mit einem Text von Dirk Uwe Hansen zu den Büchern, neuen Gedichten und Bildern.
Musenhain und Klippenbrüter
Mir waren die Sirenen immer näher als die Musen. Vielleicht ist das so ein Gefühl von Solidarität mit den Verliererinnen der von Siegern geschriebenen Geschichte — und es spricht ja wohl nicht gegen sie, dass Odysseus, der alte Opportunist, sich nicht auf sie einlassen wollte, und Orpheus so laut schreien musste, dass auf der kleinen Argo nur noch seine Stimme zu hören war, und auch nicht, dass die Musen sich seit Aptera wortwörtlich mit ihren, der Sirenen, Federn schmücken können. Vielleicht ist es auch eine Frage der Herkunft, der liebliche Musenhain schien mir unwirklicher als der raue Strand der Sirenen, die ich mir immer noch als eine Art Halbmöwen denke, nicht solche niedlichen Fischbrötchenräuber, eher Sturmvögel und Klippenbrüter, die tagelang für sich allein über dem Meer schweben können. Die brauchen uns nicht, die singen nicht für die Ohren und schon gar nicht durch die Münder von Menschen, und wir können höchstens versuchen, uns einen Reim auf ihren Gesang zu machen. Der Rest ist ja doch nur misslaunige Zugabe, ihr Vergnügen an verwesenden Seemannskörpergliedern ebenso wie die Sirenen als Verkörperung gefährlicher sexueller Verlockungen; wer solche Ängste hat, dem können weder Musen noch Sirenen helfen.
Und Hilfe brauchte ich, als ich mir in den Kopf gesetzt hatte, einen autobiographischen Zyklus von Gedichten zu schreiben. Sag mir, Sirene, was...? Wen, wenn nicht die allwissenden Sirenen sollte ich um Hilfe anrufen — ἴδμεν δ' ὅσσα γένηται ἐπὶ χθονὶ πουλυβοτείρῃ (wir wissen alles, was geschieht, auf der viele ernährenden Erde), so sagen sie selbst von sich; und so hatte ich dann tatsächlich einen Moment der Dichterweihe (falls ich mir dieses Pathos hier mal erlauben darf): Die Sirenen fingen an, Orte und Fetzen von Erinnerungen, die mir dafür im Kopf herumgespukt hatten, zu kommentieren, so, dass ich nicht anders konnte, als zu versuchen, mir darauf einen Reim zu machen. Was folgte, waren einige Wochen rauschhafter Arbeit, bis aus den in meinem Hirn klingenden Fragmenten und Kommentaren zu Fragmenten achtzehn Gedichte in einem gelben Heft geworden waren. Und es wundert mich inzwischen nicht mehr, dass ich Michael Wagener ausgerechnet auf einem Spaziergang an der Ostsee von dem Zyklus erzählt habe, Anfang einer beglückenden Zusammenarbeit mit dem gutleut verlag, weil sein tiefes Verständnis für Texte und mehr noch seine schonungslose Kritik auf dem Weg vom rauschhaft beseelt Geschriebenem zu druckbaren Texten ganz unverzichtbar war, und seine Bebilderungen gleich noch Wege zu neuen Texten wiesen.
Alles wissen die Sirenen, aber an ihrem Strand liegt die Wirklichkeit in Fragmenten und Fetzen bereit; Fragmente und Fetzen, die nicht aufhören, mich aufzufordern, mir einen Reim auf sie zu machen. Was ich mit kindlicher Feude mache, mit Strandgut, Wolkenbildern, halbvergessenen Orten, Buchstaben, die ich in braunen, schwarzen, orangefarbenen Heften sammeln muss und ... Und immer wieder sind unter den Fraktalen von Welt, denen ich versuche eine neue Sprache zu geben, zufällig übriggebliebene Stückchen griechischer Literatur, die Fragmente der Gedichte Sapphos, in denen schwer oder gar nicht mehr zu verstehende Bruchstücke von Versen und Worten mit ihren verführerischen Rhythmen zusammen neue Bilder ergeben, oder die verstümmelten Reste archaischer Kosmogonien wurden zu solchen Sirenenrufen und Herausforderungen.
Und — wieder so ein seltsam märchenhaftes Geschehen — nach ein paar Jahren, in denen ich am Strand der Sirenen solche Fragmente aufgelesen, in Heften zu Gruppen sortiert und dann zu Gedichten gemacht habe (die dann wieder mit Bildern von Michael zum Leben erweckt wurden), fanden sich unter den Bruchstücken hartnäckig wie Zikadenrufe im Ohr schnarrende Bruchstücke meiner ersten Begegnung mit den Sirenen, die wieder zu neuen Texten werden wollten, ein Echo dessen, womit alles angefangen hatte.
Ich musste also ein neues Heft kaufen …
Dirk Uwe Hansen, Greifswald im Herbst 2022
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