Berührt und bleibt im Gedächtnis
„Im Herzen der Gewalt“ ist das zweite Buch des 24-jährigen Franzosen Édouard Louis. Der Roman ist autobiographisch. Im Rückblick schildert der Autor die zufällige Begegnung mit einem jungen Mann, den er ...
„Im Herzen der Gewalt“ ist das zweite Buch des 24-jährigen Franzosen Édouard Louis. Der Roman ist autobiographisch. Im Rückblick schildert der Autor die zufällige Begegnung mit einem jungen Mann, den er am Heiligabend auf der Straße trifft und der sich ihm als Reda vorstellt. Die folgenden Stunden der Nacht enden für Édouard mit einer Morddrohung durch seine Zufallsbekanntschaft. Bereits das Cover des Buchs vermittelte mir die Ausgangslage einer grauen, düsteren Umgebung die dazu führt, dass der Autor den jungen Mann mit zu sich nach Hause nimmt.
Der Geschichte beginnt im Waschsalon. Édouard befindet sich dort, unweit seiner Wohnung, um seine Bettwäsche zu waschen. Es ist überraschenderweise der 1. Weihnachtstag, wenige Stunden nachdem Reda ihm angedroht hat, ihn zu töten. Sein Bedürfnis nach Reinheit nimmt extreme Züge an. Zuhause säubert und desinfiziert er alle Flächen und duscht mehrmals. Doch seine Erinnerungen an das Erlebte kann er nicht so ohne weiteres wegwischen. Gleich auf den ersten Seiten lässt er den Leser ahnen, wie aufgewühlt er von den Ereignissen ist. Seine Schilderung ist ein Aufschrei, ein „ich möchte das nicht erlebt haben“ und doch kann er die Vergangenheit nicht ändern.
Schließlich sucht er fast ein Jahr später Zuflucht bei seiner Schwester in Nordfrankreich, dort, wo auch seine Heimat ist. Während seines Aufenthalts lauscht er aus einem Versteck dem Gespräch seiner Schwester mit ihrem Mann. Sie schildert ihm das, was sie inzwischen von Édouards über die Nacht mit Reda erfahren hat. Aus dieser Distanz heraus reflektiert Édouard die Geschichte für sich und ergänzt das Gespräch für den Leser durch seine Gedanken. Hat der Beginn des Romans sich lediglich auf vage Andeutungen beschränkt, so erfuhr ich nun bruchstückhaft, aber in allen Einzelheiten, was sich in den wenigen Stunden des Zusammenseins mit Reda ereignet hat.
Édouard ist verstört und hat ein großes Bedürfnis zu reden. Er will nicht allein sein mit seiner Geschichte, doch die Geschehnisse verlassen ihn nicht gemeinsam mit seinen Worten sondern bleiben bei ihm. Auch Tränen fließen, jedoch ohne die Erinnerungen mitzunehmen. Seine Freunde raten ihm zu einer Anzeige bei der Polizei. Jeder mit dem er spricht bedauert ihn, jedoch mit dem Unverständnis über die Tatsache, dass Édouard einem Unbekannten so schnell vertraut hat. Für ihn muss es einen Grund geben, warum Reda so gehandelt hat, vielleicht handeln musste. Er sucht dessen Tat zu rechtfertigen. Im Vordergrund steht dabei Redas Status als Immigrant und Kind eines kabylischen Flüchtlings von der er in dieser einen Nacht erzählt hat. Der Autor hat selber in seiner Kindheit und Jugend mit schwierigen Familienverhältnissen gekämpft, bevor er sich aus den engen Ansichten der Dorfbewohner seines damaligen Wohnorts befreien konnte. Letztlich kann er durch seine Argumentation nicht wirklich überzeugen, auch sich selber nicht, denn er selbst hat gezeigt, dass man seine Ziele aus einer ungünstigen Ausgangslage heraus dennoch erreichen kann. Seine ungewollte Opferrolle versucht er abzustreifen, doch eine von ihm gewünschte Mitschuld findet er nicht für sich. Was bleibt ist die ständig wiederkehrende Angst, das alles könnte wieder passieren.
Als Leser habe ich die Verzweiflung von Édouard gespürt, der vergeblich versucht, das Geschehene zu vergessen. Er erzählt intensiv und eindringlich, in hellster Erregung, später auch erschöpft durch seine widerstreitenden Gefühle und sein Gedankenkarussell. Gerade das, was der Autor erlebt hat, kann auch denen von uns passieren, die ihren Empfindungen unbesonnen und spontan nachgeben. Dadurch sind die Schilderungen so beunruhigend in unserer heutigen Zeit zunehmender Gewaltbereitschaft. Der Roman berührt und bleibt im Gedächtnis. Darum eine Leseempfehlung von mir.