Cover-Bild Die Schutzbefohlenen
Teil 62 der Serie "intermedium"
15,00
inkl. MwSt
  • Verlag: belleville
  • Themenbereich: Belletristik - Belletristik: zeitgenössisch
  • Genre: Romane & Erzählungen / Sonstige Romane & Erzählungen
  • Ersterscheinung: 15.05.2014
  • ISBN: 9783943157628
Elfriede Jelinek

Die Schutzbefohlenen

„Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da“, sagt der Chor in Elfriede Jelineks "Die Schutzbefohlenen". Obwohl sie in jüngster Zeit überall präsent sind, die Bilder von Flüchtlingsmengen, die sich auf Booten drängen und unter Lebensgefahr die Festung Europa zu erobern suchen, oder von aufbegehrenden Asylbewerbern in deutschen Städten, die auf öffentlichen Plätzen in den Hungerstreik treten, um auf ihre problematische Behandlung aufmerksam zu machen; Stimmen haben diese Menschen selten. Anders in Jelineks Text: Hier meldet sich ein Chor aus Flüchtlingen und Asylsuchenden in einer lautstarken Litanei zu Wort und wird doch ungehört bleiben von den Angerufenen. Geschrieben als Reaktion auf jüngste Asylproteste in Wien, wo eine Gruppe von Flüchtlingen die Votivkirche besetzte, und später durch Zusatztexte zur Flüchtlingssituation auf Lampedusa erweitert, überführt Elfriede Jelinek in "Die Schutzbefohlenen" das Tagespolitische ins uralte Menschheitsdrama von Flucht und Abweisung: Die puzzleartig aufscheinenden aktuellen Ereignisse verweben sich mit anderen Texten und Diskursen, unter anderem mit "Die Schutzflehenden" des Aischylos. Aus den Schutzflehenden in der ältesten bekannten griechischen Tragödie werden aber vor dem Hintergrund von aufgeklärter westlicher Welt und vermeintlich allgemein gültigen humanistischen Werten die Schutzbefohlenen: also diejenigen, denen man verpflichtet ist, Schutz zu geben. Und es wird die Verweigerung dieses Schutzes nicht weniger als zum Verrat am Menschenrechtsgedanken selbst. Es ist nicht zuletzt die Entlarvung solchen Verrats, um den es im einmal devoten, einmal spöttischen und auch wieder sehr resignierten Chor der Schutzbefohlenen geht, in den sich auch andere Perspektiven mengen. In die Stimmen der Schutzsuchenden nisten sich die der Gegner und die von Ausnahmeerscheinungen, denen aus politischer Gefälligkeit, wegen „besonderer Verdienste“ oder einfach nur wegen ihrer Prominenz Sonderbehandlung zuteilwird.

„Der immanente Agon von Rede und Gegenrede, von projizierter Rede und wiederholter Rede, den Fremden in den Mund gelegter Rede macht den Verrat am Menschenrechtsgedanken in den westlichen Gesellschaften deutlich, ob es sich um Österreich, Deutschland oder anderswo handelt: ‚Und wenn sie erst mal da sind, liegen sie uns auf der Tasche‘, diese Asylbewerber, ‚das werden wir verhindern‘. Im Chor sind alle Stimmen da, neben Hölderlin die xenophobische von Gierbürgern und sogar eine vom Heideggervokabular überformte, deformierte (…). Die Jelineksche Sprache bewirkt das im Heideggerschen Sinne Eigentliche: Sie macht in den Variationen der Prätext-Zitate, den Umdrehungen und Wieder-Umdrehungen sprachlicher Verdrehungen die zu bloß papierner Wahrheit in den Köpfen der Bürger (auch der Politiker als Bürger) verkommene Schutzpflicht des Staates sichtbar, die der Staat gerade denen gegenüber hat, denen die Verwirklichung der Menschenrechte schon in ihren Heimatländern vorenthalten bleibt: Die Schutzbefohlenen finden auch in den Ländern keinen Schutz, die die Menschrechte immerzu anderswo einklagen, weil sie ja bei ihnen angeblich verwirklicht sind.“ (Bärbel Lücke)

Dieses Produkt bei deinem lokalen Buchhändler bestellen

Lesejury-Facts

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 30.06.2018

„Keiner schaut gnädig herab auf unseren Zug, aber auf uns herabschauen tun sie schon.“

0

Befasst man sich mit der Dramenlandschaft Deutschlands nach 1945, so stößt man dabei fast unumgänglich auf die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, die in ihren Werken gesellschaftliche Missstände ...

Befasst man sich mit der Dramenlandschaft Deutschlands nach 1945, so stößt man dabei fast unumgänglich auf die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, die in ihren Werken gesellschaftliche Missstände aller Art thematisiert und anprangert. Ihr politisch hochaktuelles Stück Die Schutzbefohlenen (2013) ist ein Beitrag zur Flüchtlingspolitik und eine aufrüttelnde Auseinandersetzung mit deren Folgen, denn Jelinek nimmt hier nicht die Sicht der Politik ein, wie es nur allzu oft getan wird, sondern lässt die Flüchtlinge selbst zu Wort kommen und verschafft ihnen Gehör in einer Gesellschaft, die Leid sonst nur im Fernsehen sieht.
Das Stück hat zunächst wenig mit einem klassischen Theaterstück gemeinsam. Man sucht hier vergeblich nach Akten, einer Handlung oder unterschiedlichen Personen. Es handelt sich um ein postdramatisches Sprechstück, dessen Fokus auf der Rhythmik der Sprache und der Umsetzung auf der Bühne liegt. Gegliedert ist es in 27 kürzere Abschnitte, in denen die Flüchtlinge ihre hoffnungslose und verzweifelte Situation in all ihren Facetten schildern. Da sind zum einen die Trauer um die im Heimatland ermordeten Familien, die Angst um das eigene Überleben und das Gefühl der Fremde, dem im Aufnahmeland andererseits nichts als Hass, Ignoranz und Gleichgültigkeit entgegengebracht wird. Die eigene Kultur und der Glaube wird dem Überleben im fremden Land geopfert. Die neue Religion ist die Bürokratie, der neue Gott der Präsident des Aufnahmelandes. Er wird angebetet, zu ihm wird gefleht, doch barmherzig oder gütig scheint er nicht zu sein, dieser neue Gott.
Der fortwährende Fragemodus und die raffinierten Wortspiele, die zunächst ganz unscheinbar und teils fast humoristisch daherkommen, zeugen doch von einer ungeheuren Sprachgewalt und verweisen auf die Undurchsichtigkeit und Verworrenheit des Bürokratie- und besonders auch des Sozial-Gesellschaftssystems. Das Stück wird auf diese Weise schwer lesbar und es ist daher auch unbedingt zu empfehlen, es sich gesprochen bzw. direkt auf der Bühne aufgeführt anzusehen. Doch schwer lesbar wird es nicht nur aufgrund seiner Sprache. Was es schwer ertragbar macht, ist die schiere Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit der Flüchtlinge sowie die absolute Ignoranz all jener, die helfen könnten. Mit Sicherheit war genau das Jelineks Absicht: Es ist ein Stück, das uns wachrütteln soll und uns aus der Passivität und Abwehrhaltung, die sich nur die wenigsten einzugestehen wagen, herausholen soll. Es ist nicht nur ein Plädoyer für Toleranz, die immer nur eine vorübergehende Lösung sein kann, sondern vor allem auch für Anerkennung und die Gleichwertigkeit aller Menschen.
Zu diesem Stück ließe sich trotz seiner Kürze sicher noch einiges sagen, müsste sicher auch noch einiges gesagt werden, doch das ist nicht die Intention des Stückes: Wir müssen etwas tun!

Lest mehr Rezensionen auf: https://gegendensatz.tumblr.com/