Grandioser Roman
Mit seinem Buch „Das Floß der Medusa“ gelingt es dem österreichischen Schriftsteller Franzobel, die Frage nach Wert und Beständigkeit der Zivilisation mit einem historischen Stoff zu kombinieren. Sein ...
Mit seinem Buch „Das Floß der Medusa“ gelingt es dem österreichischen Schriftsteller Franzobel, die Frage nach Wert und Beständigkeit der Zivilisation mit einem historischen Stoff zu kombinieren. Sein Sujet ist der Untergang der Medusa, ein Schiff, das 1816 auf dem Weg nach Afrika war und auf eine Sandbank lief.
Historisch ist an Franzobels Buch vieles – gerade auch die Tatsache, dass rund 150 Passagiere auf einem Floß ausgesetzt wurden, da es nicht genügend Rettungsboote gab. Und auch, dass nur 15 von ihnen noch lebten, als das Floß entdeckt wurde.
Dennoch: ein historischer Roman ist „Das Floß der Medusa“ nicht und er will es auch gar nicht sein. Zunächst einmal rollt Franzobel die Geschichte um Menschlichkeit, Zivilisation und Führungsversagen von hinten auf. Er beginnt damit, die Leben der Überlebenden zu schildern. Erst nach und nach kommt er auf die Katastrophe des Untergangs der Medusa zu sprechen. Schließlich erzählt Franzobel nicht nur nicht in chronologischer Reihenfolge, er setzt markante erzählerische Kontrapunkte, um dem bombastisch-grausigen Historiengemälde zu entgehen.
Was am Anfang des Romans noch als störend empfunden wird, ist der Sprung in die Perspektive der Gegenwart. Die historische Annährung entgleitet dem Lesenden, der vielmehr in den Zuschauerraum eines Theaters katapultiert wird. Sympathie und Empathie werden so nicht dem Leser abverlangt, sondern vielmehr das genaue Beobachten und Hinterfragen. Immer wieder baut Franzobel á la Brecht Unterbrechungen ein, indem die Perspektive der Gegenwart eingenommen wird, sodass man sich im historischen Stoff nicht verlieren kann.
Beim Betrachten und Beobachten von Schiffbruch, Rettung und dem Umgang mit der Schuld wird dem Leser recht viel abverlangt. Grausamkeiten wie auch der Kannibalismus auf dem Floß sind allzu detailreich dargestellt. Unweigerlich muss man zu dem Schluss kommen, dass der Mensch von Natur aus „böse“ ist, dass Thomas Hobbes hier zu uns spricht. Menschlichkeit lässt sich eben nicht mehr leben, wenn Menschen um ihr Überleben kämpfen. Doch verwundert es dennoch, wie schnell Menschlichkeit und Zivilisation auf dem Floß über Bord geworfen werden.
Zudem gelingt es Franzobel, mit nur wenigen Handstreichen seine Figuren so zu skizzieren, dass sie als Karikatur ihrer selbst auftreten: Der entscheidungsschwache oder besser: unfähige Kapitän, der sich von einem Betrüger übers Ohr hauen lässt. Die Opfer, die schließlich nicht einmal mit einer Abfindung des Staates rechnen dürfen – geschweige denn Anerkennung. Desillusioniert wird das verklärte Afrika genauso wie auch die Seefahrts-Idylle. Und nicht zuletzt der Glaube daran, dass Zivilisation nicht immer wieder neu erkämpft werden muss.
Mag der Roman an manchen Stellen zu ausufernd und zu grausam erzählen: „Das Floß der Medusa“ ist gerade in seiner Vielschichtigkeit ein grandioses Buch.