Cover-Bild Die Canterbury-Erzählungen
9,95
inkl. MwSt
  • Verlag: Anaconda Verlag
  • Themenbereich: Belletristik - Märchen, Mythen, Fabeln und Legenden
  • Genre: Romane & Erzählungen / Märchen & Sagen
  • Seitenzahl: 800
  • Ersterscheinung: 31.03.2008
  • ISBN: 9783866472174
Geoffrey Chaucer

Die Canterbury-Erzählungen

Ohne Geoffrey Chaucers »Canterbury Tales« ist keine Bibliothek der Weltliteratur vollständig. Bahnbrechend ist der Reichtum dieser Geschichten, virtuos der Umgang mit verschiedenen Erzähltechniken. Wie schon Boccaccio in seinem »Dekameron« hat Chaucer sich eine Rahmenhandlung geschaffen: Sein Ich-Erzähler macht sich mit 29 Männern und Frauen unterschiedlicher Herkunft auf eine Pilgerreise nach Canterbury zum Grab des heiligen Thomas Becket. Auf dem Weg erzählen sie sich Geschichten, in denen sich die Vielfalt des englischen Mittelalters auf das Lebendigste spiegelt.

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 24.04.2017

ein einblick in das mittelalter

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Der englische Pilger des Mittelaltes pilgerte nicht nach Santiago di Compostela, sondern nach Canterbury, wo der einst ermordete und kurz darauf als Märtyrer verehrte streitbare Erzbischof Thomas Becket ...

Der englische Pilger des Mittelaltes pilgerte nicht nach Santiago di Compostela, sondern nach Canterbury, wo der einst ermordete und kurz darauf als Märtyrer verehrte streitbare Erzbischof Thomas Becket begraben liegt.

Geoffrey Chaucer, der heute als der größte englische Dichter vor Shakespeare gilt, beschreibt in dem 718 Seiten umfassenden und im Versmaß gehaltenen Epos eine Reisegesellschaft von zweiundzwanzig Personen aller möglichen Stände und Berufe (Ritter, Verwalter, Bettelmönch, Büttel, Ablasskrämer, sowie unter anderem dreien allein reisenden Frauen, die mir angenehm gleichberechtigt erscheinen), die sich gemeinsam zu Pferde auf diese Pilgerfahrt begeben und sich den Weg mit der Erzählung verschiedenster Geschichten verkürzen. Jeder kommt mal dran, dafür sorgt der gutgelaunte und scharfzüngige Wirt, der gerne mal eine der abgelieferten Erzählungen zustimmend oder auch spöttisch kommentiert. Auch Chaucer selbst kommt an die Reihe und nimmt sich die unerhörte Freiheit, anstelle des Versmaßes plötzlich Prosa zu benutzen, allerdings erst, nachdem ausgerechnet er, der Dichter, so schlechte Verse gedroschen hat, dass der Wirt ihn genervt unterbrochen hat; offensichtlich macht sich Chaucer mit feiner Ironie über seine Vorredner lustig ... Wir hören Erzählungen aus der Antike, aus der mittelalterlichen Gegenwart, Christliches, Moralisierendes, aber auch die völlig niveaulosen und und zotenhaften Erzählungen des Müllers oder des Verwalters. Der Autor rechtfertigt die unzensierte "Wiedergabe" der derben Texte mit seiner Absicht, das Gesamtbild der extrem unterschiedlichen Charaktere und Bildungshintergründe lückenlos darzustellen. Er empfiehlt aber zarten Gemütern, besagte Seiten zu überspringen. Nachdem ich mir die erste dieser Erzählungen angetan habe, bin ich dann gerne seiner Empfehlung gefolgt und habe die Zweite ausgelassen; mehr von diesem unappetitlichen Zeug braucht man wirklich nicht.

Den Abschluss bildet "Die Erzählung des Pfarrers", die nicht nur unkommentiert bleibt, sondern ungewöhnlicherweise wieder in reiner Prosa abgefasst ist. Tatsächlich handelt es sich auch nicht wirklich um eine Erzählung, sondern um eine sehr ausführliche Predigt über die Buße. Was ja naheliegt, da sich die Gesellschaft mit jeder Erzählung dem Ziel ihrer Pilgerschaft nähert. Diese Predigt lässt nun nichts aus; sie zelebriert derart intensiv die verschiedenen Arten der Sünde, der diversen Höllenqualen und der Buße, dass auch jedem noch so gläubigen heutigen Christen davon schlecht werden muss. Hier hat sich die mittelalterliche katholische Lehre dermaßen festgefahren, das sie das alte Wort Jesu wahrmacht: "Sie binden schwere und unerträgliche Bürden und legen sie den Menschen auf die Schultern [...]" (Mat.23.4). Aus diesem Grunde sah ich mich aus reinem Selbstschutz letztendlich gezwungen, mit diesem Text ebenso zu verfahren, wie mit den vorherigen pornographischen Erzählungen; ich brach die Lektüre ab und sprang in das kurze Nachwort Chaucers, in welchem er ein paar einfache Worte an den Leser richtet und nochmals seinen ehrenhaften christlichen Standpunkt kundtut.

Die vorliegende Ausgabe von Anaconda gibt die Übersetzung von Adolf von Düring aus dem Jahr 1885 wieder, eine absolute Meisterleistung; ich weiß nicht, ob heute noch irgendein Übersetzer zu so etwas fähig wäre. Die über 60 Seiten umfassenden Anmerkungen gehen auf die unzähligen politischen, biblischen und literarischen Anspielungen im Text ein, die heute kaum mehr jemand ohne solche Hilfe verstehen würde.

Trotz der erwähnten gewissermaßen unleserlichen Passagen war die Lektüre insgesamt ein großer Gewinn. Man erhält aus erster Hand einen unglaublich spannenden Einblick in die Welt des englischen Mittelalters. Ein wenig Ausdauer muss man freilich mitbringen, denn man maß damals einen guten Roman noch nicht an der Bekömmlichkeit für unsere heutige Häppchenmentalität.