Cover-Bild Georg Baselitz: Akademie Rousseau
24,80
inkl. MwSt
  • Verlag: Snoeck
  • Themenbereich: Kunst
  • Genre: keine Angabe / keine Angabe
  • Seitenzahl: 64
  • Ersterscheinung: 13.03.2020
  • ISBN: 9783864423161
Georg Baselitz

Georg Baselitz: Akademie Rousseau

Kat. Contemporary Fine Arts Berlin
Akademie Rousseau
von Georg Baselitz

Im Picasso-Saal des Basler Kunstmuseums hängt ein besonderes Bild, ein ganzfiguriges Portrait von Guillaume Apollinaire mit seiner Muse Marie Laurencin. Henri Rousseau hat dieses wundervolle Bild gemalt. Im Gedächtnis hatte ich es jedoch immer als ein Portrait von Rousseau selbst mit Madame Rousseau. Marie Laurencin war die Muse von Apollinaire, Clémence Rousseau die Muse von Rousseau.
Franz Marc wiederum malte ein Portrait von Rousseau für den Blauen Reiter. Und auch Picasso besaß ein Selbstporträt von Henri. Es gibt ein intimes Foto, gemacht von André Gomés, darauf sieht man Picasso, in seiner rechten Hand hält er das Selbstportrait von Rousseau und in seiner linken das Bildnis von dessen Frau.
Picasso, der Konstrukteur neuartiger Gegenstände und verwegener Bilder, liebte Rousseau, den Maler von Dingen in erstarrter Anmut. Auch der Blick des Malers selbst auf seinem Selbstportrait ist erstarrt. Gerichtet auf sein eigenes Werk, in dem Gegenstände, die auch wir kennen, in ungewohnter Weise zu sehen sind, gotisch, byzantinisch, irgendwie anders eben, als wir sie bisher kannten.
Nicht nur der ägyptische Picasso, auch andere Bildkonstrukteure, zum Beispiel Kandinsky, hatten Bilder von Rousseau; Wassily das Bildchen Der Maler und seine Frau . De Chirico zeichnet Picasso mit Freunden unter dem Selbstportrait von Rousseau mit Palette. Hat nicht Beckmann den Ballon gemalt und die Allee von Rousseau? Ich habe die rote Lithografie Der Krieg von Rousseau, ca. 1895, den es auch von Ensor gibt, von Uccello, etwas Ähnliches auch von Böcklin und auch von Stefano della Bella.
Ich habe viele Portraits von meiner Frau und mir gemalt in den letzten Jahren, auch viele dieser Portraits von uns beiden in fremdem Gewand, mal als meine Eltern, mal als Lenin und Stalin, meist aber als die Eltern von Otto Dix. Auch dieses Doppelportrait der Eltern von Dix ist ein Bild aus dem Basler Museum, mit einer Variation in Hannover. Es sollte wiederum so ein Doppelportrait werden von Elke und mir, verwandelt in Marie Laurencin und Apollinaire, wobei auch der schöne Rahmen dieses Bildes in Basel wichtig war – in meiner Erinnerung, nicht im Angesicht.
Im letzten Jahr habe ich viele alte italienische Rahmen gekauft und dafür Portraits gemacht von Winfried Dierske, von mir, von meiner Frau und auch Variationen der alten Rayski-Bilder von 1960. Soweit so gut. Letztlich habe ich diese Portraits nicht in die alten Rahmen gesteckt, aber Rousseaus Doppelportrait in Basel in dem alten bemalten Rahmen geisterte immer noch in meinem Kopf herum. Es war ein ziemlicher Wust im Kopf von all diesen Portraits und Rahmen und dem Antirealistenmaler Rousseau.
Schließlich, in Italien, habe ich Elke und mich als Akterscheinung gemalt und uns die Gesichter von Madame Rousseau und Henri gegeben. Es wurde eine Konstruktion im Sinne von Bügeleisen und Rennpferd, die nicht in meinem Sinne war. Also weg damit, und ich begann anders, von vorne, ohne Stimulation, nüchtern, schlicht, bescheiden, aber doch verbohrt, mit dem wunderbaren Selbstbildnis von Rousseau, 1902–1903, mit dem Sägebart unter der Nase, jenem Selbstportrait, das Picasso besaß. Es ging gut, es wurde gut, und die Romantik hatte gewonnen. Danach verließ ich kurz den Weg und malte Madame Rousseau, aber das war eben kein Selbstportrait eines Künstlers, sondern ein Portrait seiner Muse.
Es gibt ein Buch in meiner Bibliothek, Fünfhundert Selbstportraits von der Antike bis zur Gegenwart , 1936, von Ludwig Goldscheider. Ich blätterte darin, fand aber wenig, was für mich brauchbar war. Eine Kritik aus der Saarbrücker Zeitung sagte zu diesem Buch: „Ein Bilderbuch für erwachsene Menschen, im besten Sinne des Wortes, ein Buch für müde Augen, die nicht mehr lesen, nur noch schauen mögen.“ Und ganz zuletzt: „Das zu Bescheidenheit und Demut mahnt.“ So ist es, so war es. Wo war mein Kopf, meine Liebe? Welche Künstler, welche Selbstportraits? Gab es zum Beispiel überhaupt ein Selbstportrait von Pollock? Es gibt dieses kleine Bildnis eines mexikanischen Jungen, es hing kürzlich in einer Ausstellung, daneben ein auch sehr kleines Selbstportrait von Rothko.
Also, das war der Anfang für die nächsten Monate im Atelier: Rousseau, Madame, Munch, Kirchner, Heckel, Schmidt-Rottluff. Franz Marc malte Rousseaus Portrait, ich male Marc, de Kooning, Tracey Emin, Modersohn-Becker, Clyfford Still und so weiter, auch Arnold Schönbergs Selbstportrait liebe ich, auch seine Musik. Leider malt Wolfgang Rihm nicht.
Die Bildnisse sollten wie appliziert auf der Leinwand sein, also der Hintergrund schwarz und möglichst flach, raumlos, der Kopf darauf, meist mit viel weißer Farbe, ziemlich dick aufgetragen wie schon in den letzten Jahren, aber immer Rousseau im Sinne, nicht abgleiten in Stumpfsinn, nicht in Wirklichkeit, nicht in die Wahrheit von Ingres, aber bei der Romantik bleiben, auch der Demut. Lachen ist erlaubt.

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