Obwohl nur Roman-Fragment, absolut lesenswert
REZENSION – Auch nach 120 Jahren kennen viele Leser die Titel der einstigen Bestseller „Jettchen Gebert“ (1906) und „Henriette Jacoby“ (1908), auch wenn der Autor längst in Vergessenheit geraten und sein ...
REZENSION – Auch nach 120 Jahren kennen viele Leser die Titel der einstigen Bestseller „Jettchen Gebert“ (1906) und „Henriette Jacoby“ (1908), auch wenn der Autor längst in Vergessenheit geraten und sein Name heute kaum noch bekannt ist. Umso mehr ist es dem Wallstein Verlag hoch anzurechnen, vor drei Jahren eine Neuausgabe der Werke von Georg Hermann (1871-1943), dem man nach seinem literarischen Vorbild schon zu Lebzeiten den Ehrentitel „jüdischer Fontane“ gegeben hatte, gestartet und die Reihe im September mit seinem letztem, im Jahr 1939 begonnenen und nun dank der Herausgeberin Godela Weiss-Sussex wenigstens als Fragment erstmals veröffentlichten Roman „Die daheim blieben“ als fünften Band fortgesetzt zu haben.
In diesem eigentlich auf vier Kapitel angelegten, aber nach den ersten beiden unvollendet gebliebenen und deshalb bisher auch unveröffentlichten Roman beschreibt der „Chronist deutsch-jüdischen Lebens“ das Schicksal der assimilierten jüdischen Familie Simon in Berlin unter der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten. Im ersten Kapitel treffen sich die Angehörigen dreier Generationen der wohlhabenden bildungsbürgerlichen Familie des Berliner Papiergroßhändlers Heinrich Simon an einem Sonntagvormittag im März 1933 in dessen Haus, um das 75-jährige Bestehen des Familienunternehmens zu feiern.
Das familiäre Leben innerhalb der Mauern des Hauses Simon scheint von politischen Veränderungen noch unbelastet. „Ich habe mich mein Lebtag nie um Politik gekümmert … und so werde ich es auch den Rest meines Daseins machen“, ist Heinrichs Devise. Doch während man in den Zimmern und Salons das üppige Büffet genießt, als hätte sich das Leben für Juden in Deutschland überhaupt nicht verändert, marschieren jugendliche SA-Trupps durch das Villenviertel: „Und sie sangen Lieder voll heldischen Geistes dazu. Denn der deutsche Mann kann zwar nicht singen, aber er tut es dennoch laut und ergiebig und gern, weil es ihn am Denken hindert.“
Doch der Schein der Unberührtheit trügt: In einer engen Kammer treffen sich der Patriarch und seine Brüder heimlich, um über die eventuelle Notwendigkeit der Emigration zu sprechen. Es zeigt sich, dass die junge Generation diese längst plant, während die Alten noch zögern, das von Vorfahren Erarbeitete und Erreichte kampflos aufzugeben. Sie trösten sich damit, dass der Nazi-Spuk doch sicher bald vorbei sein werde.
Im zweiten Kapitel macht der Autor einen Zeitsprung von zwei Jahren: Am 15. September 1935, an dem die Nazis ihre Rassengesetze verabschieden, kommen die wenigen noch in Deutschland verbliebenen Familienmitglieder wieder im Haus der auf sieben Zimmer halbierten Wohnung des Patriarchen zusammen. Während jetzt auch die letzten Angehörigen ihre Auswanderung in Angriff nehmen, will der alte Simon mit Ehefrau Agnes in Berlin zurückbleiben. Georg Hermann schildert sehr authentisch die sich innerhalb von nur zwei Jahren radikal veränderte Lebenssituation dieser deutsch-jüdischen Oberschicht, für die das Tragen einer Kippa ein „Rückfall in die Prähistorie“ ist. Dennoch ist man in diesen Kreisen stolz, nicht nur Deutscher, sondern auch Jude zu sein. Denn was wäre die deutsche Kultur ohne die vielfältigen Beiträge jüdischer Wissenschaftler, Dichter und Denker?
Es sind vor allem die „leise“, fast im Plauderton gehaltene Erzählweise mit gelegentlichen ironischen Spitzen sowie die Szenerie dieser zwei Kapitel, die das Buch so lesenswert machen. Hermann beschränkt das Geschehen in beiden Fällen ausschließlich auf die Wohnung des Patriarchen, als könne man Politik und die wachsende Bedrohung aussperren und von der Familie fernhalten. Doch erfahren wir vor allem in den intellektuell gewichtigen und spannend zu verfolgenden Gesprächen dieser humanistisch gebildeten Familie fast beiläufig von der immer bedrohlicher werdenden Gefahr.
Ebenso lesenswert wie das Roman-Fragment ist auch das Nachwort von Herausgeberin Godela Weiss-Sussex. Darin erzählt die Germanistik-Professorin nicht nur die Geschichte ihrer literarischen „Fundsache“, sondern gibt uns, die wir vielleicht gerade noch die Romantitel „Jettchen Gebert“ und „Henriette Jacoby“ kennen, einen vergleichenden Überblick über das Gesamtwerk des Schriftstellers, der nicht wie sein Protagonist Heinrich Simon in Berlin „daheim blieb“, aber dennoch im Alter von 72 Jahren von den Nazis aus seinem holländischen Exil deportiert und 1943 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordet wurde.