Lasst die Masse blöde tanzen: Dulce est disipere in loco (32)
Gustav Seibt (Jg.1959) hat 2005 und 2008 mit Hilfe des kleinen, aber feinen zu Klampen Verlags in Springe seinen treuen Lesern zwei sehr handliche Essay-Sammlungen zugänglich gemacht, noch dazu in einer ...
Gustav Seibt (Jg.1959) hat 2005 und 2008 mit Hilfe des kleinen, aber feinen zu Klampen Verlags in Springe seinen treuen Lesern zwei sehr handliche Essay-Sammlungen zugänglich gemacht, noch dazu in einer attraktiven Aufmachung. Sein „Canaletto“ umfasst 15 Texte, die er „Aufsätze“ nennt und die er als „der kleine Erntedank“ bezeichnet. Sie sind zwischen 1993 und 2005 entstanden. Die im Vorwort aufgeworfene Frage nach dem gemeinsamen Motiv der Texte beantwortet Seibt so: „… der Wunsch, ein liberales, durchaus gegenwartsfreudiges Weltgefühl mit einem Geschichtsbewusstsein zu verbinden, das über die gegenwärtig modische Sentimentalisierung meist jugendlicher Generationserfah-rungen deutlich hinausreicht.“ Seibt rät zu einer Auffassung von Bildung als einer „geistigen reservatio mentalis“, die es vermeiden helfe, „dass man sich dem Moment, dem betörenden Reiz, dem betäubenden Schrecken oder der lähmenden Langeweile des heutigen Tages widerstandslos überlassen müsste.“(9) Was einen anno 2019 zudem ohnehin bloß in die weit ausgespannten Arme der ubiquitär zugänglichen, digitalen Netzwerke treiben würde. Historisches Bewusstsein und aus ihm genährte „Sensibilität für Kunst und Gegenwart“ weise dagegen den „Provinzialismus des Heute“ in die Schranken und unterstütze eine „Gelassenheit (…), die sich den Verstand nicht von den Suggestionen der Plötzlichkeit und vom Terror der Echtzeit abkaufen lässt.“ (10f) Dem Enigma des Eigenen und Persönlichen spürt Seibt nicht eben häufig nach. Im Folgeband „Erhebungen“ (2008) betrifft es zum Beispiel ein etwas trüberes Semester im Luhmannschen Bielefeld, wo auch Koselleck eine Schülerschar betreut, und zwar im „Raketenwinter 1983/84“. Im „Canaletto“ findet es sich in dem einzigen englischen Titel unter den Essays: „My Own Private Tradition“ (192-203). „Erzogen wird man durch Eltern und Gleichaltrige, die eigentlichen Gegenbegriffe sind nicht Tradition und Fortschritt, sondern Tradition und Generation. Traditionen werden weitergetragen im Familiengedächtnis und in den Institutionen der Ausbildung, sofern sie nicht alle fünf Jahre (!) Reformen über sich ergehen lassen müssen.“ (202) Seibt spricht von der „Stille meines Elternhauses“ und „einem Schonraum der Ruhe“, in dem ihm und seinen Brüdern nie „irgendetwas aufgedrängt“ wurde. Bis zum Tod seines Vaters sei „kein Fernseher ins Haus“ gekommen“ - „so war mein Elternhaus eine stille Welt, in der unentwegt gelesen wurde.“ (200) Ohne Ablenkungen durch die sonst seit den 70er Jahren in den meisten Haushalten obligatorische Flimmerkiste in den bundesdeutschen Wohnzimmern liest Seibt „mit fünfzehn“ Huizinga, Borst und Haller. Bald ist er auch ein noch sehr junges Mitglied in der ehrwürdigen „Wissenschaftlichen Buchgesellschaft“ in Darmstadt und beim Zivildienst findet sich zwischen den Rettungsdiensteinsätzen genügend Zeit, um „die fünfzehn Lederbände (einer Goethe-Ausgabe) von vorn bis hinten durchzulesen.“ (195) Das Fernsehen ist inzwischen zwar „längst uncool geworden“ (zumindest bei der smartphone-Jugend), aber für viele Ältere ist es „immer noch der unwiderstehlichste Lieferant von Gegenwart. Zu uns kam die Gegenwart nur gedämpft durch Rundfunk und Zeitungen. Am Radio verfolgte ich die Bundestagsdebatten zu den Brandtschen Ostverträgen, das erste politische Ereignis, an dem ich Anteil nahm. (…) Während am Radio das Endspiel der Fußball-WM 1974 lief, büffelte ich Griechischvokabeln auf selbstgeschriebenen Karteikarten, um abends zum Haller zurückzukehren.“ (201) In Essay 1 schlägt Seibt einen Bogen von der „wilhelminischen Spaßgesellschaft um 1900“ (13) in die „ummauerte Insel“ West-Berlin vor 1989 (20) zu der „Generation von Erben, die wieder Freude an zeremoniellen bürgerlichen Formen findet“, etwa dem „bourgeoise(n) Geist der Stuckaltbauten.“ (30) In Essay 2 geht es um eine Historisierung der Kulturkritik: „Kulturkritik erwächst aus der wertenden Rekonstruktion unterschiedlicher zivilisatorischer Zustände; sie stellt nicht mehr einfach Sittenverfall fest, sondern historisiert Sittlichkeit überhaupt.“ (38) Im Essay 3 findet sich der titelgebende Canaletto in der Besprechung eines Romans von Martin Mosebach aus dem Jahr 2000. (55) Den „Biographie - Designern aus der letzten Weltkriegsgeneration (10) ist der 9. Essay gewidmet. Vier hochrangige Künstler und Gelehrte jener Generation haben in der Nachkriegszeit ihre „Lebensläufe begradigt und verschönert“ (121) und die eigene Legendenbildung (134) für die Exzellenz des eigenen Werks nutzbar machen können. Die Frage für Philister und Pharisäer lautet zwar: „Kann eine Biographie ein Werk zerstören?“, wird aber von Seibt abschlägig mit einem eindeutigen „Nein“ beantwortet.
Michael Karl