„Ich war stark wie ein Riese“ (20): Panoptikum der Survival-Artistik
Der famose Suhrkamp - Verlag hat seinem Hausautor HME, geboren im Jahr der Krise 1929 an einem deutschen Schicksalsdatum (11.11.), quasi zum 90. Geburtstag vorab eine handwerklich in Ulm, Köln und München ...
Der famose Suhrkamp - Verlag hat seinem Hausautor HME, geboren im Jahr der Krise 1929 an einem deutschen Schicksalsdatum (11.11.), quasi zum 90. Geburtstag vorab eine handwerklich in Ulm, Köln und München grundsolide hergestellte Festschrift mit fast 370 Seiten und 99 Kurzporträts (Vignetten) von Überlebenskünstlern aus der Literaturbranche ausgerichtet, die „in der Reihenfolge ihrer Geburtsjahre“ zum Auftritt kommen, der älteste, der Norweger Knut Hamsun, geboren 1859, der jüngste, der Albaner Ismael Kadare, geboren 1936, nur letzterer (Nr.99 oder XCIX) ist im Jahr der Drucklegung 2018 noch am Leben, während Hasek (Nr.17) schon fast 100 Jahre tot ist, Aichinger und Kertesz (Nr. 84 + 94) sind es erst seit drei Jahren. Die Auswahl scheint skurril und eigenwillig (wie der Selektor), hat eingestandenermaßen (16f) eine maskuline und eine jüdische Schlagseite und HME wäre nicht HME, wenn ihn das allzu sehr bekümmerte: „Bitte wenden Sie sich an das Patriarchat.“ (17,331) Im Vektorraum seiner Schleppnetze verfangen sich Artgenossen aus dem 20.Jht. - „eine(r) Blütezeit von Schriftstellern, die Staatsterror und Säuberungen überlebt haben“ (15). Räumlich kommen diese Survival - Artisten aus aller Herren Länder und schreiben polyglott in allen erdenklichen Zungen. Vertreten sind aber „nicht alle Erdteile, alle Religionen und Hautfarben proportional…“ (17). Es handelt sich um Exoten wie Alexander v. Gleichen - Rußwurm (Nr.5), Despoten wie Johannes R. Becher (Nr. 29), Nepoten wie Gabriele D´Annunzio (Nr. 3), Erotomanen wie Henry Miller (Nr.30) oder ganz und gar Untote, die also „nicht totzukriegen“ sind (250), wie Sartre, die Bachmann, der Kästner oder P.G. Wodehouse (Nr.61,90,57,15). Mindestens 15 Nobelpreisträger sind darunter, von Hauptmann (1912) bis Kertesz (2002) eher bekannte, aber auch unbekannte wie Bunin (1933), Andric (1961) oder Milosz (1980), die das Los der vergessenen Nobelpreisträger teilen (304). Es ist ein Urenkel Schillers darunter (32), die Planstelle eines deutschen „Vize-Goethe“ ist besetzt (24), ein Verfasser der 3000 Seiten langen „orientalischen Buddenbrooks“ (275) aus Kairo ist zu finden oder ein Träger guter Manieren und Anzüge - aus der DDR, der „einen roten Sportwagen (besaß)“. (291). Individualmarxisten und Tifliser Priesterseminaristen (97, 99) finden sich ebenso wie Antisemiten und Faschisten (77 u.ö.), womöglich ausgestattet mit wenig Sinn für Prosodie, der Lehre von der stimmigen Silbenmessung. (78) Ferner findet man ein Dorfmädchen, das viele Bücher las (47), einen veritablen Epidemologen (148), aber auch den Sohn aus allzu gutem Hause: Der Vater war „mehrfacher Millionär“, der Sohn trat „eine Woche vor Herbert von Karajan(,) der österreichischen NSDAP bei.“ (160f) Wer Schnittmengen sucht, findet in deren Mitte eine Art HME - Kristall, bei dem sich allerlei Bezüge und Querverweise brechen, die vielleicht mit zwei Zitaten zu verklammern sind: „Sterben ist nichts für mich“ (335) und das abgewandelte Augustinus - Zitat: „Nichts Unmenschliches ist ihnen fremd.“ (234) Survivalakte setzen voraus, in einem „Jahrhundert der Wölfe“ (102) zumal, dass der Geist stets wach bleibt, sodass Marcel Reich (MRR) - „der nicht immer unrecht hatte“ - fand, dass „zwischen allen Stühlen (zu sitzen …) für einen Schriftsteller kein schlechter Platz“ sei. (168f) In jener Schnittmenge häuft sich eine Nähe zur KP, denn viele HME - Autoren (und natürlich auch er selbst) waren und sind „linke() fellow traveller(s)“ (250), denen etwa die Krimis eines Eric Ambler (Nr.67) allemal lieber sind als „die Macho - Puppe James Bond“. (249) Auch bei den Eigennamen haben die Autoren (und nicht die Behörden) das letzte Wort - Gorki, der Bittere (Nr.6), kam als Alexei M. Peschkow zur Welt und war „Lumpensammler, Vogelhändler und Nachwächter“ (35), Alberto Moravia erblickte als Alberto Pincherle das Licht dieser Welt (246) und der uneheliche Wolfgang Koeppen trug den Namen seiner Mutter, denn sein Erzeuger, dessen Klarnamen HME ausdrücklich nennt, war ein Augenarzt und „vermied jeden Kontakt zu ihm.“ (239) Erstaunlich oft wird außerdem erwähnt, dass die Survivalakte mit einem selbst finanzierten Erstling beginnen und der Erfolg dann plötzlich und überraschend hereinbricht. Lawrence von Arabien begann seinen Lebensweg mit dem Allerweltsnamen Chapman: „Ein uneheliches Kind war damals zum Außenseitertum verurteilt. Gleichwohl hatte er bald so gute Noten, dass er am Oxforder Jesus College studieren konnte.“ (89) Bei HME sollen Autoren also wie Phönix aus der schichtspezifischen Asche aufsteigen und es nicht vom Tellerwäscher zum Millionär bringen, was aber nicht bedeutet, dass sie irgendwelche Heilslehren zu verkünden hätten: „Ein Schriftsteller solle nicht mit einer Botschaft herumlaufen; er sei schließlich kein Briefträger.“ (258) HME versäumt es selten, seinen Lesern die Todesursache und die Grablege seiner Heroen mitzuteilen, als seien sie ebenfalls wichtig. So kam Irmgard Keun (Nr.59) in Melaten zur letzten Ruhe und etliche fanden sich in der zentralen deutschen Begegnungsstätte für untote Tote ein, dem Dorotheenstädter Friedhof in Berlin - Mitte (191 u.ö.), wo u.a. Hegel, Fichte, Brecht, Seghers und Weigel, Hans Meyer oder Herbert Marcuse begraben liegen. Ein weiterer und letzter Aspekt dieser famosen Publikation ist das Miterleben oder das Erlebnis als solches, die von HME immer sehr geschätzte (nicht immer so genannte) Dimension des tremendismo (172 u.ö.). Das schließt auch die eigenen Verwandten mit ein, den eigenen Bruder Christian, der als Anglistik-Professor Ezra Pound auf seiner „Südtiroler Burg“ „einmal aufgesucht“ hat (76), oder sogar den eigenen Vater, der sich dienstlich im Hotel ´Majestic´„auf derselben Etage“ wie Ernst Jünger aufhielt (156). Aber v.a. sind es die eigenen persönlichen Begegnungen mit den „Kriegselefanten der Literatur“ (198) - selten und deshalb kostbar -, etwa mit Oktavio Paz (Nr.77) „in seine(r) prachtvollen Wohnung am zentralen Paseo de la Reforma…“. (286) HME trifft Gide (Nr.7), wohnt um die Ecke von Feuchtwangers „Erfolg“sadresse in Schwabing (73), Cocteau schenkt ihm 1952 in Paris „einen kleinen Gedichtband“ (103) und Leonie (Nelly) Sachs empfängt ihn 1958 in Stockholm „in ihrer winzigen Wohnung.“ (123) Bei Ilja Erenburg (Nr.31) gab es im Sommer 1963 in der Gorki - Straße Champagner, petit fours und „Zofen in weißen Hauben“ zu bewundern (121) und Pablo Neruda (Nr.54) trifft er 1967 in London (u.a. auf einem Hausboot) und „eines Tages“ in Moskau (208). Im Hintergrund hört man die bedächtigen Schritte einer autobiographischen Fußspur - bei Foyles wird in den 1940er Jahren ein Benn erstanden und aus „Menschen getroffen“ zitiert (81). Die „farblosen deutschen 50er Jahre()“ sind sogar in Freiburg ohne Farbe (205) - allenfalls hört man Schlager im RIAS oder belauscht die Unterhaltung am Nebentisch (83). Aber Ende der 50er Jahre ist HME in New York (195) und läutet bei I.B. Singer (Nr.51), im Jahr 1959 hält er sich nachweislich in der Nähe der Villa Massimo und der Dichterin „Ingeborg“ (Nr.90) auf. (326) Im Dezember 1964 darf HME in Catania und Taormina in der Nähe von Anna Achmatowa (Nr.25) sein und ihr „in einem weinroten Plüschsessel zuhören.“ (99) An Literatur stellte HME immer schon eine hohe Erwartung und mühte sich stets, sie selber zu erfüllen - „dass sie vom Wichtigsten im Leben, vom Unvorhergesehenen, handeln“ möge. (41) Dem kann man - auch heute noch - nur zustimmen!
Michael Karl