Die letzte Kleinstadt in Amerika (27)
Die Stadt NYC hat schon vielen Autoren deutscher Zunge den Atem verschlagen und allein Peter Ensing zählte in seiner Mainzer Doktorarbeit „Das Bild New Yorks in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ ...
Die Stadt NYC hat schon vielen Autoren deutscher Zunge den Atem verschlagen und allein Peter Ensing zählte in seiner Mainzer Doktorarbeit „Das Bild New Yorks in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ (Heidelberg, Carl Winter, 1988) illustre Namen auf wie etwa Ingeborg Bachmann (8ff), Oskar Maria Graf (32ff), Peter Handke (77ff), Uwe Johnson (185ff), Wolfgang Koeppen (266ff), Max Frisch oder Günter Kunert (273ff). Das Gegenprogramm kommt von den US - Autoren selbst, etwa von Paul Auster, J.D. Salinger oder Jane Jacobs, die ein jeweils eigenwilliges Bild von Megalopolis zeichneten. Wer sich als deutschsprachige(r) Leser(in) ganz bodenständig für das Alltagsleben in NYC interessiert, kann sich der langjährigen FAZ - Korrespondentin Verena Lueken (Jg. 1955) anvertrauen, die bei Piper eine sehr unterhaltsame „Gebrauchsanweisung für New York“ (2005 u.ö.) verfasst hat. Wie die Amazon - Rezensionsspalten anschaulich zeigen, greifen viele Leser auch gern zu Helene Hanffs „Briefe aus New York“, die auf Radio-Features der BBC („Woman´s Hour“) zurückgehen, die von Oktober 1978 bis April 1984 ausgestrahlt worden waren - jeweils „fünf Minuten einmal im Monat“ (7). Das waren sechs Jahre lang jeweils „zweieinhalb Seiten lange() Texte()“, die „bis zum Sommer 1991“ in einem Schrank in Hanffs New Yorker Einraumwohnung - mit einem Erker und zwei Wandschränken (186), die New Yorker Küchen waren „ein Meter fünfzig breit und zwei Meter lang“(168) - unvergessen lagerten und eines Revivals harrten, das der Autorin (1916-97) fünf Jahre vor ihrem Lebensende noch tatsächlich zuteil wurde. Hoffmann und Campe hat sich auch anderen Werken der Autorin zugewandt. 2003 erschien hier die deutsche Übersetzung von Hanffs Spiegelung eines sechswöchigen Aufenthalts in London Anfang der 70er Jahre („Die Herzogin der Bloomsbury Street“); davor schon eine Sammlung von Briefen 1949-69 an ein kleines Londoner Buchantiquariat („84, Charing Cross Road“), die 1970 erstmals veröffentlicht wurde und die Autorin zu einer - vergleichsweise späten - öffentlichen wie auch internationalen Anerkennung ihrer jahrzehntelangen schriftstellerischen Bemühungen verhalf. Im Unterschied zu den Hollywood nahen Berufskolleginnen mit großbürgerlich-lockeren Einstellungen zu Liebe und Treue wie Gina Kaus, Salka Viertel oder Vicki Baum pflegte Helene Hanff wohl zeitlebens einen eher asketischen Lebensstil mit allenfalls funktionalen Männerbekanntschaften wie einigen Nachbarn, deren Pflanzen, Hunde oder Kinder fürsorglicher Zuwendung bedurften, dem für die Münzautomaten im Keller zuständigen Hausmeister oder dem als Taxi-Chauffeur im Nebenberuf auftretenden Portier.(25) Sie hatte zudem einen erstaunlich nüchternen Blick auf die eigene Person, nennt sich „unscheinbar und mausgrau“ (95), „klein und dünn“ (176), und lebt unter dem Joch eines beruflichen Ethos des nulla dies sine linea „nach einer strengen Diät“. (202) Im Nachwort von „Bloomsburry Street“ nennt Rainer Moritz (Jg. 1958) sie eine „nicht auf Rosen gebettete Drehbuchautorin.“ (203) Viel wichtiger als Männer scheinen ihr die nahen und fernen, alten und neuen Freundinnen zu sein, die dazu beitragen, dass Helene Hanff mal aus ihrer Bude herauskommt, und der großbürgerlichen Arlene steht nicht nur ein Vielfaches an Wohnfläche, an Dollars auf dem Bankkonto bzw. den Kreditkarten zur Verfügung, sondern auch etliche (vermutlich begehbare) Kleiderschränke ihres Achtraum-Apartments (31), wo für die Freundin zuverlässig und regelmäßig Ausgemustertes abfällt. Die Straßen, Hochhäuser, Parks und Treppenaufgänge zu den Wohnblocks in NYC sind aber nicht nur von Menschen bevölkert, sondern v.a. auch von Hunden. Helene ist ausgesprochen caniphil - „Bentley sieht aus wie ein schneeweißer Riesenmops“ (97) - und ganz NYC scheint diese Vorliebe für die anhänglichen Vierbeiner zu teilen. Das Urteil über den eigenen Wohnblock fällt zwiespältig, also nicht ganz humorlos aus. Er sei „ein gemütlicher Kaninchenschlag, in dem es sich gut überwintern lässt“; im „Umfeld von zwei Straßenblocks“ könne man sich „die ganz gewöhnlichen Dinge des täglichen Lebens“ bequem besorgen, auch für Unterhaltung sei gesorgt und eine „Vielzahl von Restaurants“ decke die Küche geradezu aller Erdteile ab. „Wenn man krank ist, bringen alle diese Geschäfte die Einkäufe ins Haus. Alle anderen Dienstleistungen werden im Gebäude selbst angeboten.“ (23f) Dieses Gebäude hat immerhin 17 Stockwerke, die von Fahrstühlen erschlossen werden, in denen Siamkatzen Ausflüge unternehmen (26f) und Hunden schon mal „ein Malheur“ passieren kann, wofür dann die Hausmeister als primäre Beschwerdestelle zuständig sind. „Die meisten Miethochhäuser haben dicke Wände, (...) aber die Decken sind dünn.“ (198) Man führe „ein Leben in der Gemeinschaft“ (197) - „wir sind die letzte Kleinstadt in Amerika“ (27) - und wenn die Autorin „die Grippe hatte“, bieten ihre Nachbarn auf ihrer Etage im 8. Stockwerk Botengänge und Dienstleistungen an, die in einem komplexen Austausch des do-ut-des den Zusammenhalt über Kalendertage und Jahreszeiten, Einzüge und Auszüge hinweg verbürgen. Dabei wurde Frau Hanff zur „Schlüsselhüterin vom achten Stock“ (80). Aber nicht alle New Yorker wohnen in einem „Kabäuschen im 47. Stockwerk eines Wolkenkratzers“. (27) Ein gewisser Richard Nixon zum Beispiel hat sich für 1,8 Mio Dollar eine Zwölf-Zimmer-Wohnung zugelegt und kann jeden Monat noch mal „2000 Dollar im Monat“ für deren Unterhalt ausgeben. (30) Die Hanff - Trilogie aus den 1970/80er Jahren des vorigen Jahrhunderts hat Anfang 2000 auch Deutschland erreicht und die Feuilletons beschäftigt. Einhellig gelobt wurde die „kleine Reihe für Romantiker“ (FAZ 2005) für ihren „charmant, schrullig, augenzwinkernd“ genannten Ton und seine „einfachen, sympathischen Geschichten“ (FAZ 2002). Die „New Yorker Bibliomanin“ sei „ein Konversationsgenie“, schrieb Paul Ingendaay, der man aber nicht mit Romanen hätte kommen dürfen: „Ich kann mich nicht für Dinge interessieren, die Leuten, die nicht gelebt haben, nie zugestoßen sind.“ Hanffs Schilderungen besäßen „jene rare Qualität des Unmittelbaren“ (FAZ 2003), meinte ein anderer Rezensent und Ingendaay pflichtete bei: „In das eine oder andere Buch scheint das Leben selbst hineinzuwehen.“ It surely does.
Michael Karl