Degeneratives Verhalten: Agonaler Globalwettbewerb als Anti-Familiengesetz?
Herwig Birg (Jg. 1939) ist ein sehr renommierter Wissenschaftler aus dem Fachgebiet der Demographie und seine Bücher erfreuen sich seit der Migrationskrise von 2015 eines neu erwachten Interesses. So wichtig ...
Herwig Birg (Jg. 1939) ist ein sehr renommierter Wissenschaftler aus dem Fachgebiet der Demographie und seine Bücher erfreuen sich seit der Migrationskrise von 2015 eines neu erwachten Interesses. So wichtig dieses Fachgebiet aber auch sein mag, so stiefmütterlich scheint es bisher behandelt worden zu sein. In seiner Publikation von 2001 („Zeitenwende“) nennt Birg auch hier beeindruckende Zahlen und Größenvergleiche: „Es gibt in Deutschland Hunderte von Lehrstühlen für Soziologie und VWL, aber (…) nur vier für Demographie.“ (194) Das Fach ist von nominalen Zahlenwerten und relativen Anteilen ohnehin sehr geprägt und Birgs Bücher sind Früchte einer strengen, zuweilen engen Gelehrsamkeit, in der Tabellen, Grafiken und Schaubilder viele Seiten füllen, keine geringe Hürde für interessierte Laien, die sich mit solchen Belegen und Beweisführungen eher schwertun (mich eingeschlossen). Aber der Stachel im Fleisch dessen, was bisher als DEUTSCH gelten konnte, sitzt bei einigen doch sehr tief und lässt viele nicht zur Ruhe kommen, wie wir in den Nachrichten aus der Tagespolitik sehen können. Es sind ja zu allererst die Sinne, die uns das Gefühl einer als bedrohlich empfundenen Überfremdung vermitteln und Aufarbeitungen im Bereich der Rationalität sind ein probates Mittel gegen zu viel hoch kochende Emotionalität. Birg kann nachweisen, dass die Jahrgänge 1950 und 1955 sehr verschiedene Berufschancen hatten, obwohl sie nur ein halbes Jahrzehnt trennt (Birg 2005, S. 83). Wenn der 1955 Geborene 1961 eingeschult wird, 1974 sein Abitur ablegt, 1987 seine Promotion verteidigt und 1999 sein Reihenhaus bezieht, ist die Erdbevölkerung jeweils auf 3, 4, 5 und 6 Mrd. angestiegen (24), ohne dass er mehr davon gemerkt hat als bei der jährlichen Reise der Erde um die Sonne und den dabei zurückgelegten Strecken, die ja auch gewaltig sind. Die dabei auf den Organismus einwirkende Alterung ist aber nun keine nur individuell zu verbuchende Singularität, sie ist zu einer sowohl deutschen wie auch europäischen Besonderheit geworden: fast alle anderen sind jünger. Das Anti-Familiengesetz (57) in einem global-agonalen Hyperwettbewerb hat offenbar besonders diese Regionen am härtesten getroffen und die meisten Frauen dort (und nur dort) zur Entscheidung der Totalabstinenz in Sachen generativem Verhalten geführt. Während Birg einerseits bei den Ökonomen eine „tunnelförmige Sicht“ bei der Frage des „Nutzens von Kindern“ feststellt (81), diskutiert er andererseits unter dem Stichwort der „Opportunitätskosten“ in dem Werk von 2001 („Zeitenwende“) den schon von Friedrich List aus Württemberg gefundenen „Antagonismus von Demographie und Ökonomie“ in seiner ganzen Breite von Adam Smith´ „unsichtbarer Hand“ über Mandevilles „Bienenfabel“ bis zu Schumpeters Aussage über die Lehren der „utilitarian lesson“ - „children cease to be economic assets.“ (60-62) Für Birg sind ganze Generationen ausgefallen („implodiert“, 80) und die Uhr steht „dreißig Jahre nach zwölf“ (149). Das kann man „alarmistisch“ finden, dem Autor aber sicher nicht vorwerfen, dass er uns nicht gewarnt hätte. Wahrscheinlich käme eine solche Warnung ohnehin zu spät. Deutschland
kommt aus einer spätabsolutistischen Staatstradition, die ihren Ursprung in Preußen hat. Dort hatten die Regenten u.a. die Neigung, den Landeskindern dadurch die Sporen zu geben, dass sie ihnen Konkurrenten ins Haus holten, wenn sie die Plangrößen nicht erfüllten. Damals nannte man das eine Politik der Peuplierung. Bleiben wir also bloß einer preußischen Staatstradition treu? Herwig Birg findet eine Analogie aus dem Beherbergungswesen: „ Es ist wie bei einem Hotel, dessen Aufwand an Versorgungsleistungen für seine Gäste man nicht an der Differenz zwischen der Zahl der täglichen An- und Abmeldungen messen kann.“ (103) Ein starker Staat mit einer noch stärkeren Bürokratie ist auf sog. Landeskinder nicht mehr angewiesen. Er kann sie von überall her zuwandern lassen. Sie sollen sich nicht mit dem Gütesiegel der Nationalität zur Ruhe setzen, sondern sich mit dem Furor-Eifer des Zugewanderten den Allerwertesten aufreißen. Wer davon dann am meisten profitiert, nun, das ist eben die Frage und vermutlich reine Ansichtssache: Sind es die Wenigen oder sind es die Vielen?
Michael Karl