Eine liebevolle Mahnung zur Verständigung
REZENSION – Es ist kein biblischer Text, und doch ist es eine Geschichte aus der Bibel: „Hineni“, der aktuelle Roman des serbischen Schriftstellers Ivan Ivanji (91), schildert – ohne biblischen Pathos, ...
REZENSION – Es ist kein biblischer Text, und doch ist es eine Geschichte aus der Bibel: „Hineni“, der aktuelle Roman des serbischen Schriftstellers Ivan Ivanji (91), schildert – ohne biblischen Pathos, sondern eher augenzwinkernd geschrieben – die modern erzählte Lebensgeschichte Abrahams, der vor 4 000 Jahren auszog, um als „Vater vieler Völker“ im „gelobten Land“ Kanaan alle dort lebenden Stämme zu vereinen, ein eigenes Volk zu gründen und dem einen allmächtigen Gott zu dienen. „Hineni“ ist ein versöhnlicher Roman, geschrieben von einem Überlebenden der KZs Auschwitz und Buchenwald. Der 1929 in Serbien als „zufälliger Jude“ Geborene versteht sich noch heute, Jahrzehnte nach dem Zerfall Jugoslawiens, als Bürger des einst von General Tito zusammengehaltenen Vielvölkerstaates, dessen Dolmetscher Ivanji war. Dies zu wissen, hilft die Botschaft seines lesenswerten Romans zu verstehen.
Ivanji erzählt die Lebensgeschichte Abrahams als historischen Tatsachenroman, hält sich nach Vergleich von Thora, Koran und Bibel – wichtig deshalb auch sein diesbezügliches Nachwort – an überlieferte Fakten, scheut sich allerdings auch nicht, mit fiktiven Zutaten und eigener Interpretation der drei heiligen Schriften eine spannende Geschichte daraus zu machen. Bei ihm ist Abraham ein einfacher Kaufmann in der Handelsstadt Haran. Erst viele Jahre später zieht er als Vasall des politisch modern denkenden Pharaos Amenemhet I. in sein „gelobtes Land“ Kanaan, um die dort von Ägypten unabhängig lebenden Stämme zu vereinen und mit ihnen und eigenen Nachkommen sein eigenes Volk zu gründen. Dass der große Plan Abrahams schon in der nachfolgenden Generation seiner Söhne Ismael und Jakob misslingt, ist eine andere Geschichte.
So ernst dem Autor der Gedanke der Völkerverständigung und des friedlichen Miteinanders auch ist, schildert der Autor seinen Helden Abraham keineswegs als weise, von Gott geleitete biblische Persönlichkeit. Abraham scheint eher oft hilflos, wenn er grübelnd auf dem Flachdach seines Hauses steht und seinem Gott laut „Hineni – Hier bin ich“ zuruft. Dies klingt durchaus nicht als Ausdruck höchster Dienstbereitschaft und ist nicht der Ausruf eines von Gott Berufenen, sondern gleicht eher dem Ausruf Luthers: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen!“ Wie oft zweifelt Abraham an seinem Gott: „Hatte er selbst diesen Gott erfunden, weil er ihn brauchte für die Erfüllung seiner irdischen Vorhaben? …. Mit Sicherheit nicht! Elohim würde es richten. Hoffentlich. Gewiss! Amen!“
In dieser Hilflosigkeit meint Abraham in allen eigenen Gedanken, aber auch in Ratschlägen seiner Vertrauten die Stimme seines Gottes zu hören. Und wenn es ihm nicht gelingt, seinen Willen – also Gottes Willen – bei seinen noch mehrheitlich die heidnischen Gottheiten anbetenden Untertanen durchzusetzen, dann muss eben auch mal ein göttliches Wunder her, bei dem Abraham etwas nachhilft, oder ein paar Geschichten, „die interessanter und daher glaubwürdiger waren als die fade Wirklichkeit“. So fragt ihn Lot nach dem Untergang Sodoms und dem Tod seiner Frau: „Wieso Salzsäule?“ Und Ivanji lässt Abraham antworten: „Was weiß ich. Das klingt doch nach einer guten Geschichte, das werden die Leute sich merken.“
Ivan Ivanjis nachdenklich stimmender Roman „Hineni“ könnte mit seiner Ironie und seinem Witz manchem Bibelgläubigen missfallen. Doch er ist ein ernster Aufruf zur Verständigung zwischen Juden und Arabern als Nachkommen Abrahams, des „Vaters vieler Völker“. Dieser Roman passt als Mahnung ins 75. Jahr der KZ-Befreiung und in die Zeit des Corona-Virus, der doch alle Völker auf Erden gleichermaßen trifft – ohne Ansehen von Rasse und Religion.