»Brazilian Psycho« zeigt, was die Kriminalliteratur zu leisten imstande ist – ein Meisterwerk epischen Ausmaßes
Brazilian Psycho
verwebt Kriminalfall, historische Fakten und Gesellschaftspolitik zu einer radikalen Geschichte einer der faszinierendsten und gewalttätigsten Städte der Welt: São Paulo.
Ein bahnbrechender Roman unserer Zeit. Über einen Zeitraum von sechzehn Jahren zwischen 2003 und 2019 erleben die unterschiedlichsten Charaktere in São Paulo ein sich entfaltendes soziales und politisches Drama, das einen Wirbelsturm von Handlungen und Gegenhandlungen in Gang setzt: Der Mord an einem britischen Schuldirektor und die anschließende Vertuschung stehen im Mittelpunkt brisanter politischer und finanzwirtschaftlicher Entwicklungen, die von Gewalt und Korruption geprägt sind. Es geht auf direktem Weg von den Favelas und den dort lebenden Gangs in die Hochfinanzwelt von Brokern und Immobilienmaklern bis hin zu den hochrangigen Politikern Lula da Silva und Bolsonaro.
Im Oktober 2018 wird eine junge Frau festgenommen, weil sie ein Graffiti gesprüht hat. Sie ist gegen Bolsonaro als Kandidat. Und dafür muss sie bezahlen. Sie wird in eine Zelle gesperrt und misshandelt. ...
Im Oktober 2018 wird eine junge Frau festgenommen, weil sie ein Graffiti gesprüht hat. Sie ist gegen Bolsonaro als Kandidat. Und dafür muss sie bezahlen. Sie wird in eine Zelle gesperrt und misshandelt. Doch der Polizist Junior sorgt dafür, dass sie relativ unversehrt bleibt. Und dann geht es zurück ins Jahr 2003, wo ein Lehrer tot in seiner Wohnung aufgefunden wird. Lisboa und sein Partner Mario Lerne sollen den Fall übernehmen, aber nicht allzu genau ermitteln. Das Beste wäre ein Raubüberfall, der schief gegangen ist. Doch Lerne hat es im Gefühl, dass etwas anderes dahinter stecken muss.
Der vierte und letzte Teil der Reihe um den Detective der Zivilpolizei Mario Lerne, der in Sāo Paulo seine Kreise zieht. Genau genommen setzt die Handlung im Jahr 2003 ein, wo es gilt, den Tod des Lehrers aufzuklären. Dieser war allseits beliebt, so dass ein Überfall zu vermuten ist. Oder sollte es doch ein persönliches Motiv geben. Gleichzeitig sind die politischen Entwicklungen in Brasilien eher ungünstig. Wohltätigkeits-Vereinigungen werden genutzt, um letztlich den neu aufgesetzten Sozialstaat zu betrügen. Begriffe wie Sozialbetrug, Geldwäsche, Korruption - man kennt sie. Über die Jahre scheint es keine Verbesserung der Lage zu geben. Und Polizei, Militärpolizei und andere Behörden arbeiten nicht immer gut zusammen.
In diesem Teil der Reihe wird Vieles aus den vorherigen Bänden noch einmal aus anderer Perspektive beleuchtet. Man ist geneigt, zu überlegen, inwieweit man sich an die Vorgänge erinnert, die bereits in den vorigen Bänden dargelegt wurden und wie man das einordnen kann. Doch natürlich wird die Zeit in Brasilien zwischen 2003 und 2019 auf politischer Ebene verlaufen ist. Da geraten die Fälle, die Lerne und Lisboa bearbeiten, etwas in den Hintergrund. Zumal sie manche Dinge auch nicht richtig zu fassen bekommen, weil sie durch die Vorgesetzten oder andere Polizeibehörden behindert werden. Da scheinen viele ein eigenes Süppchen zu kochen. Das ist auf der einen Seite eine spannende und wegen des direkten Bezugs zu den anderen Büchern auch ungewöhnliche Lektüre, andererseits ist die allerdings auch fordernd, da man doch nicht so viel über die politische oder wirtschaftliche Situation in Brasilien zu der Zeit weiß ist. Msn hätte Lerne ein anderes Schicksal gegönnt und ob man alle Einzelheiten über Politik und Wirtschaft wissen muss, kann vielleicht in Frage gestellt werden (der Roman hat über sechshundert Seiten), aber insgesamt ist dieser Thriller ungewöhnlich und interessant.
Es herrscht Gewalt in den Straßen São Paulos. Miss- und Vetternwirtschaft, Kriminalität, Betrug und Korruption stehen an der Tagesordnung. Nicht selten münden diese in völligen Katastrophen für die, zumeist ...
Es herrscht Gewalt in den Straßen São Paulos. Miss- und Vetternwirtschaft, Kriminalität, Betrug und Korruption stehen an der Tagesordnung. Nicht selten münden diese in völligen Katastrophen für die, zumeist verarmte Bevölkerung. Der philosophische Ansatz des Habitus, den der britische Autor Joe Thomas in seinem einfallsreichen und anspruchsvollen Polit-Thriller "Brazilian Psycho" an den Tag legt, ist genauso rau und lebendig, wie die Schauplätze, an denen sie sich zutragen. Politisch unkorrekt, obszön, vulgär, skrupellos und verdammt brutal. Auf Befindlichkeiten nimmt Thomas keine Rücksicht. Das machen die Gangs auf der Straße auch nicht. Also beschönigt er auch nichts. In der größten Stadt Brasiliens hält sich niemand an das Gesetz. Jeder wirtschaftet auf seine Weise. Zumeist in die eigene Tasche. Die Grenzen der organisierten Kriminalität sind nun mal fließend. Das Gefälle zwischen Arm und Reich ist es hingegen nicht. In seinem 640 Seiten umfassenden, weltoffenen und kommunikativen Polit-Thriller geht der Brite ebenso auf den politischen und wirtschaftlichen Lauf der Dinge ein, wie auch auf das unweigerliche Ineinandergreifen vom Verteilen (zumeist) finanzieller Zuwendungen und dem Ermöglichen von Dingen des alltäglichen Lebens. Er stützt sich auf kurze, lässige, gleichwohl prägnante und aussagekräftige Thesen, die darauf hindeuten, dass ihr Repräsentant bereits so einiges im Leben gesehen hat. Joe Thomas, der selbst zehn Jahre in São Paulo gelebt hat, beleuchtet die politischen, wirtschaftlichen und kriminellen Kausalitäten insbesondere in der Zeitspanne von 2003 bis 2019 und zeigt die Gegensätzlichkeit São Paulos als Milieustudie. Die Favelas, mit ihren eng aneinander gebauten Bruchbuden am Hang des Morro da Providência und demgegenüber Bezirke, wie das grüne Jardins-Viertel mit seinen ruhigen Straßen, Nobel-Restaurants, luxuriösen Apartment-Hochhäusern, mondänen Hotels, reichen Paaren, schnellen Autos und exklusiven Klamottenläden mit Tausend-Dollar-Jeans. Neben schicken Bars und "padarias" (Bäckereien), Wop-Kantinen und Pizzerien wimmelt es in São Paulo nur so vor Straßennutten, Stripclubs, Strichern, Dealern, Zuhältern, Künstlern, Aristokraten und den "noias", den paranoiden Süchtigen.
Januar 2003. Detective Mario Leme macht sich gemeinsam mit seinem guten Freund und Partner Ricardo Lisboa auf ins Nobelviertel Jardim Paulistano, um zu klären, wer Paddy Lockwood, den Direktor der British International School, in dessen Villa ermordet hat. Der Fall wird nicht aufgeklärt. Doch jemand muss den Kopf dafür hinhalten. Ein armer Schlucker aus den Favelas, dessen Familie für seinen fünf- oder sechsjährigen Stellvertreter-Knastaufenthalt einen Batzen Geld erhält, ist schnell bestimmt. Der Mord an dem Schulleiter ist Lemes erster Fall, der ihn auch Jahre später nicht zur Ruhe kommen lässt und für ihn zu einer Obsession gerät. Szenenwechsel. Miami Airport. "Big" Ray Marx fliegt nach São Paulo. Aber nicht unvorbereitet. Der ehemalige CIA-Agent, aktuelle Firmenteilhaber und freiberufliche Drahtzieher hat sich zuvor mit Startkapital eingedeckt. Das will er gewinnbringend investieren. Er soll für den Hedgefonds und die private Investmentbank Capital SP den Consultant spielen und die Entwicklung des Finanzmarktes unter der politischen Führung von Luiz Inácio Lula da Silva (35. und indes auch 39. Präsident der Föderativen Republik Brasilien) sondieren. In der Zwischenzeit trifft sich Anwältin Renata Sanchez, die gemeinsam mit ihrer Kollegin Fernanda von Capital SP ein Rechtsberatungsbüro am Rande der Favela Paraisópolis eröffnen will, mit einem Makler. Sie wollen den Bewohnern der Favela bei den vielen Anträgen helfen, die ein besseres Leben für selbige bedeuten könnten. Beobachtet vom 13-jährigen Schüler Rafa, der sich als Aufpasser ein bisschen Geld verdient. Er notiert, auffällige Personen, die die Favelas betreten oder selbige verlassen.
Aufgrund der vielen Handlungsstränge weiß man nicht so recht, in welche Richtung es eigentlich gehen soll. Doch dann nimmt die gesellschaftspolitische Ode an das wichtigste Wirtschafts-, Finanz- und Kulturzentrum des Landes allmählich Gestalt an und die Geschehnisse beginnen sich zu überschneiden. Der komplexe, teil-fiktionale Polit-Thriller "Brazilian Psycho", der auf einem Fundament aus tatsächlichen Vorkommnissen errichtet wurde, ist schon harter Tobak. Trocken, schwarzhumorig und abgebrüht geht Joe Thomas auf die jeweiligen Charaktere ein, die man in ihrem täglichen Kampf im Sündenpfuhl São Paulos begleitet. Die meisten von ihnen ohne reelle Chance jemals aus diesem abartigen Teufelskreis aus Sex, Drogen und Gewalt auszubrechen. Man riecht den Dreck, den Staub, die Abgase, spürt die permanente Gefahr der willkürlichen Gewalt, die Schwüle, die flirrende Hitze, sieht die Massen an Menschen vor dem eigenen geistigen Auge durcheinander wuseln und bekommt in diesem erbarmungslosen Thriller eine Ahnung vom bitteren Elend auf den Straßen São Paulos. "Brazilian Psycho" ist phasenweise dermaßen fesselnd verfasst, dass man an Joe Thomas' Buchseiten klebt, wie ein Neugeborenes an den Brüsten seiner Mutter. Man sollte allerdings ein gewisses Interesse für Wirtschaft, Politik und kriminelle Machenschaften mitbringen, um mit dem explosiven Zündstoff aus dem Betondschungel klarzukommen. Thomas hechtet nämlich in Highspeedmanier durch die dramatischen Geschehnisse und die politischen Hintergründe Brasiliens, die ich in dieser Form nicht kannte. Durch die vielen verschiedenen Handlungsstränge und das üppige Personal wird man jedoch immer wieder aus dem Kontext gerissen. Zudem die Geschichte, gerade im letzten Drittel unnötigerweise in die Länge gezogen wird. Hier gestaltet es Joe Thomas einfach zu komplex, zu politisch, zu zerfahren und zu kompliziert. Auf Dauer wird der Schluss dermaßen zäh, dass ich das Buch am liebsten abgebrochen hätte. Warum der btb Verlag, im Falle des 1977 in Hackney geborenen Schriftstellers Joe Thomas das Feld von hinten aufgerollt hat, ist mir zusätzlich ein Rätsel. "Brazilian Psycho" ist nämlich der vierte Band des "São Paulo Quartet" (bestehend aus Paradise City, Gringa, Playboy und Brazilian Psycho). Er kann jedoch als Standalone gelesen werden, was diesen Fauxpas wieder etwas in den Hintergrund rückt.
LACK OF LIES - Altersempfehlung: ab 21 Jahren (aufgrund der kausalen, politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge, des durchgehend hohen Gewaltpotentials, sowie der weniger expliziten sexuellen Handlungen)
Joe Thomas - Brazilian Psycho
btb Verlag
Polit-Thriller
ISBN: 978-3-442-77386-2
640 Seiten
Paperback, Klappenbroschur
Originaltitel: Brazilian Psycho
Aus dem Englischen von Alexander Wagner
Erscheinungstermin: 14.02.2024
EUR 18,00 Euro [DE] inkl. MwSt.
Weitere Formate:
ISBN eBook (epub): 978-3-641-29817-3
Erscheinungstermin: 14.02.2024
EUR 12,99 Euro [DE] inkl. MwSt.