Cover-Bild Essen im Blick
Band 30 der Reihe "Essener Unikate / Berichte aus Forschung und Lehre"
7,50
inkl. MwSt
  • Verlag: Universität Duisburg - Essen SSC
  • Genre: keine Angabe / keine Angabe
  • Seitenzahl: 122
  • Ersterscheinung: 04.06.2007
  • ISBN: 9783934359307
Johannes Hebebrand, Walter Popp, Andrea M Dederichs, Christoph Rülcker, Eckart Pankoke, Hans W Ingensiep, Aaron Schart, Heiko Schulz, Hermann Cölfen, Elke Seeger, Peter Ellenbruch

Essen im Blick

Ein interdisziplinärer Streifzug
Im Wintersemester 2005/2006 hat eine Gruppe von Essener Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unter Federführung des Faches Evangelische Theologie eine interdisziplinäre Veranstaltungsreihe mit dem Titel Forum Essen in Essen. Ernährung im Schnittpunkt von Technik, Wissenschaft, Kunst und Religion durchgeführt. Vorträge, Filmvorführungen und literarische Gespräche sollten mit Blick auf die seinerzeit noch ausstehende Wahl der europäischen Kulturhauptstadt 2010 einen inneruniversitären Beitrag zur kulturellen Profilierung der Stadt Essen leisten. Einen Großteil der Vorträge aus dieser Veranstaltungsreihe halten Sie (nebst einigen ergänzenden Beiträgen) mit dem vorliegenden Band in Händen. Obwohl Anlass und Hintergrund seiner Entstehung inzwischen Geschichte sind – die Beiträge an sich verdienen auch unabhängig von ihrem Entstehungskontext Aufmerksamkeit. Dies umso mehr, als der Band pünktlich zu Beginn des Wissenschaftssommers vorgelegt wird, dessen Schwerpunkt in Übereinstimmung mit dem Rahmenthema des Wissenschaftsjahres 2007 auf der Präsentation der Duisburg-Essener Geisteswissenschaften liegt. Mit dem ABC der Menschheit steht das Wissenschaftsjahr unter einem Motto, das auch den nachfolgenden Beiträgen vorangestellt sein könnte. Denn diese fügen sich, obschon (zum Glück!) nicht ausschließlich geisteswissenschaftlicher Provenienz, ebenso zwanglos wie passgenau in den dadurch abgesteckten thematischen Rahmen – gewissermaßen unter E wie Essen/Ernährung!
Weshalb ein solches Thema? Nun, abgesehen von der augenzwinkernden Anspielung auf Anlass und genius loci der zugrundeliegenden Veranstaltungsreihe kommen mit Essen und Ernährung Phänomene in den Blick, die erstens auch für die nichtakademische Öffentlichkeit unmittelbar zugänglich, dabei in der Sache gleichermaßen aktuell und interdisziplinär geeignet scheinen. Zweitens stellen Essen und Ernährung bei näherem Zusehen einen nicht nur alltäglichen, sondern in anthropologisch grundsätzlicher Hinsicht durchaus abgründigen Phänomenkomplex dar, der als solcher zur multiperspektivischen Analyse geradezu einlädt. Gewiss, auf den ersten Blick handelt es sich um ein vergleichsweise triviales Phänomen: Menschen ernähren sich oder werden ernährt, in der Regel von ihresgleichen, ebenso wie andere Lebewesen; und Menschen essen – ganz Verschiedenes im Übrigen, und mitunter wohl auch Menschen. Allein, dieser vergleichsweise krude Tatbestand verweist für den entsprechend disponierten Betrachter auf eine komplexe Staffelung mindestens dreier Phänomenebenen:
Dass sich Essen nicht in Ernährung, das heißt in seiner rein physiologischen Wirkung und Funktion erschöpft, legt bereits der Sprachgebrauch nahe: Es heißt ‚sich ernähren’ und nicht ‚den Körper ernähren’. Die irreduzibel psychologische Dimension des Essens, in der der erste und augenfälligste Aspekt dieses ‚sich’ zum Tragen kommt, kennt jeder aus eigener Erfahrung; das bekannte Sprichwort verdichtet ihn zur Wendung ‚Essen hält Leib und Seele zusammen’. Diese Einheits- oder Vereinheitlichungserfahrung tritt auch und nicht zuletzt in der Beziehung von Seele und ‚Sozialkörper’ zutage: Menschen, die im Streit miteinander liegen, können nicht gemeinsam essen; umgekehrt kann ein gemeinsames Mahl Versöhnung stiften oder zum nahe liegenden Ausdruck einer bereits vollzogenen Versöhnung werden.
Der zweite Aspekt ist der kulturell-expressive: Menschen fressen nicht, sie essen – in der Regel jedenfalls. Das, was der Mensch seiner Natur nach ist und vollzieht, ist und vollzieht er mithin in geschichts- und kulturspezifisch variierenden Formen. Dass und inwiefern diese Formen vollzugs- und verhaltensprägend sind, kann dabei, aber muss nicht Gegenstand für das reflektierende Bewusstsein des Vollzugssubjektes werden. In der Regel leben wir in und nicht im Verhältnis zu diesen Formen; eben darin besteht ihr durch Institutionalisierung und Ritualisierung daseinsentlastender Grundzug. Als Ausdrucksphänomen verfügt eine Kultur des Essens ferner über irreduzibel individuelle und als solche gleichfalls keiner objektivierenden Reflexion und Beschreibung restlos zugängliche Eigenheiten: Peter benutzt Messer und Gabel, so wie alle anderen innerhalb der Kulturgemeinschaft, der er angehört. Die Art aber, wie er sie benutzt, ‚sagt etwas über ihn’ und über ihn allein – freilich in einer sprachlich nicht hinreichend präzisierbaren Weise.
Während die physiologische und psychologische Dimension des Essens in erster Linie dessen Wirkung und Funktion, die kulturell-expressive hingegen vornehmlich seinen Vollzug charakterisiert, hat der weltanschaulich-reflexive Aspekt mit der vor allem ethisch erheblichen Tatsache zu tun, dass Menschen dazu Stellung beziehen können, welche Rolle Essen und Ernährung in ihrem Leben spielen – und zwar durchaus auch im Blick auf Scheitern oder Gelingen dieses Lebens im Ganzen. Hier sind der Bandbreite möglicher Standpunkte kaum Grenzen gesetzt. Neben Gourmet-Ideologie und religiös motivierter Extremaskese verweise ich hier nur auf das Beispiel Ludwig Wittgensteins, von dem der Satz überliefert ist, ihn interessiere nicht, was er esse, solange es immer dasselbe sei. Mit der Vielzahl möglicher und historisch faktischer Einstellungen, die hier von Bedeutung sind, befassen sich neben Disziplinen wie Kulturgeschichte, Soziologie, Psychologie, Ästhetik etc. auch und vor allem Ethik und Theologie. Sie alle knüpfen dabei wissentlich oder unwissentlich an die anthropologisch fundamentale Tatsache an, dass der Mensch in die Klasse der ‚ideierenden’ Lebewesen gehört – jener Lebewesen also, die erstens sind, indem sie (etwas als) ihr Dasein vollziehen, und die zweitens vollziehen, indem sie zugleich nach der Idealität und möglichen Bedeutung des jeweiligen Vollzuges im Rahmen eines übergeordneten Lebensentwurfs fragen. Und dies gilt offenbar auch und unter anderem für die elementarsten menschlichen Lebensvollzüge, wie etwa den des Essens.
Wenn Sie die Texte des vorliegenden Bandes im Detail studieren, werden Sie feststellen, dass hier eine solche, obschon häufig stillschweigende Anknüpfung durchweg zu beobachten ist. Sie werden außerdem – und dies vor allem – feststellen, dass sämtliche Beiträge im Blick auf die physiologisch-psychologischen, kulturellen und weltanschaulichen Kernaspekte, die dasjenige im Umriss explizieren sollten, woran als der anthropologischen Grundtatsache hier jeweils angeknüpft wird, äußerst aufschlussreiche Überlegungen und Einsichten enthalten. Ich wünsche Ihnen viel Freude bei der Lektüre!
Heiko Schulz

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