Zwischen Leidspur und Lichtspur
„Ich hatte Unebenheiten in mir, die man nicht mal eben so wegbügeln konnte.“
Kea von Garnier hat fast 35 Jahre Erfahrung mit psychischen Erkrankungen, Therapien und Klinikaufenthalten – alles, was für ...
„Ich hatte Unebenheiten in mir, die man nicht mal eben so wegbügeln konnte.“
Kea von Garnier hat fast 35 Jahre Erfahrung mit psychischen Erkrankungen, Therapien und Klinikaufenthalten – alles, was für andere selbstverständlich war, wie Studium, Beruf ergreifen und den eigenen Lebensunterhalt verdienen, war für sie mit Kämpfen, Rückschlägen und Krankheitsschüben verbunden. In „Die Vögel singen auch bei Regen“ hat sie ihre Lebensgeschichte verfasst – schonungslos, eindringlich, aber auch mit wunderschönen Bildern und in einer klugen, poetischen Sprache, die zwar nichts beschönigt, aber der es eine Freude ist zu folgen. Kea hat sich schon früh „anders“ gefühlt, nachdem die Mutter die Familie verlassen hat, als sie zwei Jahre alt war. Sie beschreibt es so, dass Gefühle und Dinge aus der Außenwelt zu tief in sie gelangen – Schönes wie auch Gutes. Sie entwickelt eine überbordende Angst vor dem Erbrechen, eine Essstörung, Panik- und Angstattacken, somatische Bauchschmerzen, Depressionen und eine Depersonalisations-/Derealisationsstörung. Fast romanhaft folgt der Leser Keas Stationen in ihrem Leben: Schule, Studium, Umzug nach Berlin und die ersten Lieben – letztere münden bei der Autorin in Abhängigkeit, toxische Beziehungen und einem alles umfassenden Trennungsschmerz, der ihr am Ende auch eine neue Diagnose und eine hilfreiche Klinik bietet.
„Wendepunkte sind selten die Punkte mit der schönen Aussicht.“
Kea von Garnier ist eine Wortpoetin und sehr authentisch – mit ihrem Blog und ihrem Buch möchte sie psychische Krankheiten enttabuisieren, Betroffenen Mut machen und hinterfragen, was wir als eine gesellschaftliche Norm definiert haben: Ist die Grenze zwischen „krank“ und „gesund“ eigentlich nicht zu streng gezogen und langsam obsolet? „Die Vögel singen auch bei Regen“ ist ein Mutmacher, Kraftspender und mit dem 10. Kapitel rund um das KEN-Programm auch eine kleine Hilfestellung, um einen gesunden Umgang zu verdrängten und unangenehmen Gefühlen zu entwickeln.
Und nicht nur die wunderschöne Aufmachung des Buches mit den kalligrafischen Schriftzügen, auch Keas Schreibstil hat mich begeistert. So präzise und doch mit wunderschönen Bildern über ihren Leidens- und Lebensweg zwischen Leidspur, Lichtspur und dem kräftezehrenden Aufrappeln nach vielen Rückschlägen. Viele Sätze sind mir in Erinnerung geblieben und es ist so mutig und wichtig von der Autorin, psychische Erkrankungen ins Licht zu rücken und von dem gesellschaftlichen Stigma zu befreien.
Ergreifend beschreibt sie, was es in unsere Gesellschaft bedeutet, 'anders' zu sein - aber stets mit dem Aufleuchten eines möglichen Heilungsweges, der Akzeptanz von dem Dazwischen, das Gehen kleiner Schritte, Tag für Tag. Kea hat in ihrem tiefen Leid die Kunst, die Literatur und das kreative Schreiben als Anker entdeckt und berührt nun mit ihrem intimen Einblick in ihr verletzliches Seelenleben zahlreiche Menschen.
„Ich konnte nicht mehr beeinflussen, dass meine Seele sie entwickelt hatte, aber ich konnte mich von dem Gefühl der Scham über mein Anderssein befreien. Natürlich machte ich mich damit verletzlich. Aber ich spürte, es war für mich und andere Betroffene ein richtiger Schritt.“ S. 126