Cover-Bild Das Prinzip der Lokalität
Band 23 der Reihe "reihe staben"
33,00
inkl. MwSt
  • Verlag: gutleut verlag
  • Themenbereich: Kunst
  • Genre: keine Angabe / keine Angabe
  • Seitenzahl: 188
  • Ersterscheinung: 15.10.2023
  • ISBN: 9783948107604
Keith Waldrop

Das Prinzip der Lokalität

The Locality Principle
Alexander Kappe (Herausgeber), Jan Kuhlbrodt (Herausgeber), Michael Wagener (Herausgeber), Alexander Kappe (Übersetzer), Michael Wagener (Übersetzer)

»NEULICH WAREN ZWEI GÄRTNER IM GARTEN BESCHÄFTIGT. FLEISSIG, OHNE ETWAS VORZEIGBARES – ABER SIE ZOGEN UNS ANS FENSTER, FASZINIERT. SIE SAHEN BEIDE ÄLTER ALS ALT AUS: AM RANDE DES GRABS, NACH DER BEERDIGUNG RUFEND. WIE SIE ES SCHAFFTEN, HACKE UND HARKE FESTZUHALTEN, WAR EIN RÄTSEL, OBWOHL DIE VERGEBLICHKEIT IHRER BEMÜHUNGEN UNÜBERSEHBAR WAR. DER MANN MIT DER HACKE – NOCH ÄLTER ALS DER ANDERE, UNMÖGLICH ALT –, DER DEN BODEN BETRACHTETE, ALS ER GANZ AUFRECHT STAND (SEINE SCHULTERN WAREN SO GEBEUGT), HOB SEIN GERÄT AN UND LIESS ES FALLEN, OHNE EINE SPUR ZU HINTERLASSEN, DIE ICH HÄTTE SEHEN KÖNNEN. NÄHER AM HAUS, FAST AUSSER SICHTWEITE, IM TOTEN WINKEL UNTER UNSEREN FENSTERN, STANDEN EIN JUNGER MANN UND EINE JUNGE FRAU TRÄGE HERUM – WIR HATTEN SIE ZUNÄCHST NICHT BEMERKT –, DER MANN GAB DEN BEIDEN ZOMBIE-GÄRTNERN SCHEINBAR AB UND ZU ANWEISUNGEN. DIE FRAU (IN EINEM REGENMANTEL, DIE EINZIGE DER VIER, DIE DEM WETTER ENTSPRECHEND GEKLEIDET WAR) RAUCHTE EINE ZIGARETTE, MIT DEM BLICK VON DEN ANDEREN ABGEWANDT, UND STUDIERTE WOHLMÖGLICH DIE BENACHBARTEN GÄRTEN.«

Das Prinzip der Lokalität ist der Gedichtband der Ruhe. Bereits der Titel spricht: Das Lokalitätsprinzip ist ein Konzept aus der Relativitätstheorie. Es besagt, dass sich physikalische Effekte nur mit begrenzter Geschwindigkeit ausbreiten können und nur in der unmittelbaren Nähe der beteiligten Objekte signifikante Auswirkungen haben. Keith Waldrop überträgt dieses Konzept in einer Weise, die man voller Anerkennung als meisterhaft bezeichnen muss. In Prosapoesie niedergeschriebene Reiseerinnerungen, die genau so oder genau so niemals stattgefunden haben mögen, stellt er geschickt nebeneinander. Die vorwärtstreibende Kraft der Vergänglichkeit wird beruhigt. Von einem poetischen Erzähler, der die Unruhe im Alltäglichen findet und in das beruhigende Dahinfließen des Gedichts hinüberhebt.

Wo lebt dieser Erzähler? Offenbar irgendwo in London; mit Blick auf einen Garten, in dem seltsame Grüppchen von Gärtnern ungefragt ans Tagewerk gehen; mit der Aufgabe, auf eine Katze namens Pinkelpfote aufzupassen, die ihren begrenzten Ort nie verlässt, aber jede Bewegung in der Umwelt zu registrieren scheint; dann befinden wir uns in Waldrops Kindheit wieder; dann plötzlich in Ost-Berlin beim Grenzübergang mit Freunden, und nicht der fehlende Pass wird zum Problem, sondern das Zuviel unnützer Gegenstände in den Hosentaschen. Grenzen zwischen Lebensepisoden lösen sich auf. Erfahrbar werden soll, welche Bedeutung die verstreuten Erinnerungen des Lebens haben, wenn sie der Macht der Vergänglichkeit sanft aus den Händen genommen und einem dichterischen Zusammenhang überstellt werden. Aus der Unruhe des Vergehens von Zeit und Leben wird die Ruhe des Nebeneinanders dessen, das nie einen festen Raum und nie einen festen Zeitpunkt hatte. Kein Stern vergeht unendlich auf sein Ziel hinrauschend, in einzelner Bahn; er gibt Kräfte ab und nimmt sie auf, wird im Moment des Wahrgenommenseins unendlich.

Zwischen die Prosastücke stellt der Autor mal sanft, mal stürmischer fließende Gedichte, in denen er dem Einzelwort eine Bedeutung abträgt, die ganz wie im physikalischen Prinzip nur in der Nähe zu den anderen Einzelwörtern, die mit begrenzter Geschwindigkeit durch die eigene Erinnerung fahren. Bewegung findet seine Grenze in der Ruhe, welcher im Wahrgenommensein durch andere Kräfte liegt. So wird Nähe auch zu einem der Kernthemen dieses Bands, wenn er über die Liebe zu seiner Frau, die große Dichterin Rosmarie Waldrop nachdenkt und ihr sanft den Namen »Nachbarstaub« anbietet – als Prophezeiung für die Zukunft, deren Sinn noch zu ergründen sein wird.

Waldrop hat mit Das Prinzip der Lokalität das Kunstwerk vollbracht, eine Sprache zu finden, die sich in der Tradition der Avantgarden des 20. Jahrhunderts versteht, und trotzdem zugänglich, einladend und weltgesättigt ist: humorvoll, aber niemals albern, ironisch, aber nie zynisch, einfühlsam, aber nicht schwelgend, nachdenklich, aber ohne Dünkel, gelehrt, aber nicht gelehrig. Und immer heiter. Stufenweise entfaltet dieses Buch seine Wirkung und lädt dazu ein, mehrfach gelesen zu werden; bis man seine Lieblingsstellen in diesem Teppich aus Erinnerungen gefunden hat.


«Der Garten erscheint hell, liegt in seinem englischem Dunstschleier, und als ich hinausschaue, sehe ich Pinkelpfote, die wohl einen eigenen Zugang zu diesem Garten hat – anders als wir. / Ich beobachte sie, wie sie ein Loch in einem Blumenbeet gräbt, sich dann spreizend und mit aufgerichtetem Schwanz. Dann scharrt sie die Erde zurück in das Loch und schnuppert bis ihre ökologischen Bedürfnisse gestillt sind. / Ich bin froh darüber, denn das bedeutet: Sie hat nun viel weniger Ausgaben für ihr Katzenklo. / Manchmal sieht man sie im Garten, jetzt aber nicht. / Und jetzt steht sie unschlüssig da, mit erhobener Pfote und eigentlich schon durch ihren eigenen Eingang auf dem Rückweg ins Haus – wäre da nicht dieses Rotkehlchen (also so ein kleines englisches Rotkehlchen und nicht etwa eine amerikanische Rotdrossel), das auf einem tragenden Ast des Birnbaums in jenem torlosen Garten sitzt. Und da sind Spatzen, von denen einer nicht weit von ihr entfernt nach auf dem Boden liegender Nahrung pickt. Sie hat ihn im Visier, sein herbstliches Federkleid, aber leider auch seinen leider wachen Blick. Sie kennt den dunkelschalen Geschmack, der an seinen wohlgeformten Knochen haftet. / Ob sie schon sabbert, kann ich von meinem Fenster aus nicht sehen. / Die Spatzen sind hier sicher. Sie hat ihre besten Jahre schon hinter sich. Aber sie würde sie töten, wenn sie nur könnte.«

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