Cover-Bild „ ...später baut sie Atomschiffe.“ - Industrie- u. Militärgerätedarstellungen aus Muttermilch
89,90
inkl. MwSt
  • Verlag: Mensch & Buch
  • Themenbereich: Kunst
  • Genre: keine Angabe / keine Angabe
  • Seitenzahl: 244
  • Ersterscheinung: 13.12.2017
  • ISBN: 9783863878085
Lisa Glauer

„ ...später baut sie Atomschiffe.“ - Industrie- u. Militärgerätedarstellungen aus Muttermilch

zur Unsichtbarkeit weiblicher Akteure in der Kunst
2003 zog ich, als third culture kid aufgewachsen und demnach vermutlich – nach Bourriaud – ganz radicant (oder: jemand mit Außenblick ohne Herkunftsverortung, oder: global nomad, oder: nomadic subject and polyglott) aus New York nach Berlin. Kurz darauf untersuchte ich im Rahmen eines Kunstvermittlungsprojekts die Ausstellung der Sammlung zeitgenössischer Kunst von Erich Marx im Hamburger Bahnhof, Berlin. Der Hamburger Bahnhof gehört zu den anerkannten Ausstellungsorten zeitgenössischer Kunst in Berlin: er kann als hochrangiger white cube (O’Doherty, 1976)) angesehen werden. In dieser Ausstellung war keine einzige Arbeit eines biologisch weiblichen Künstlers zu sehen.
Um diese seltsamerweise für andere nicht offensichtliche Fehlstelle sichtbar zu machen, entschied ich, die in Sol Lewitts großer konzeptueller Arbeit „Cube Without a Corner“ (1988) angedeutete Leerstelle als Einladung zu nehmen, mich überidentifikativ mit dem unsichtbaren Fehlen auseinanderzusetzen, dem, was zu den massenproduzierten Bausteinen am gegensätzlichsten erschien, und beschloss, diese mit Muttermilch zu füllen. Möglicherweise spielte in Deutschland das biologische Geschlecht so wenig eine Rolle, dass es hier bereits als reaktionär gelten konnte, zu erkennen, dass keine Arbeiten von biologisch weiblichen Künstlern in der Ausstellung zu sehen waren, und dieses zu problematisieren?
Ich hatte bereits mehrmals die Erfahrung gemacht, dass die bloße Verbalisierung einer solchen Beobachtung in unterschiedlichen Kontexten hoher Kultur in Deutschland zu konsternierten Reaktionen führte. Als Reaktion auf die, für mich subjektiv offensichtliche, verallgemeinerte, jedoch für die meisten Anwesenden unsichtbare Qualitätsgarantie mittels zufälliger Auswahl von künstlerischen Produktionen ausschließlich reiner weißer Männlichkeiten, überidentifizierte ich mich mit dem Differenzfeminismus, der zwar nicht (mehr) die aktuellen wissenschaftlichen Geschlechterwissenschaften bestimmt, in den USA aber die sich hier zeigende Problematik effektiv verändert beziehungsweise ins Bewusstsein gerufen hatte. Befindet sich der Hamburger Bahnhof mit dem, was zu sehen gegeben wird, auf dem Stand der 1970er Jahre der USA, sind eventuell die Mittel, die diese Situation dort damals durchbrachen – indem Ausgrenzungen entlang des Geschlechts der Künstler sichtbar gemacht wurden – auch hier notwendig. Das Wissen, das sich geschlechtswissenschaftliche Erkenntnisse weiterentwickelt haben, nützt wenig, wenn sich zeigt, dass diese Erkenntnisse bislang keine Einflüsse haben auf die öffentlichen Ausstellungspolitik deutscher Museen zeitgenössischer Kunst (von der Künstler abhängig sind), und die mit einem in keiner Weise auf Antisexismus und Antirassismus reagierenden Kunstmarkt verzahnt ist. Sexistische und rassistische Ausschlussmechanismen für sich selbst immer wieder als unrichtig zu erkennen, beziehungsweise darauf reinzufallen, dass sich das ja alles gerade ändern würde, verhindert nicht, dass diese in einem aus historischen Gründen rassistisch und sexistisch geprägten kapitalistischen Umfeld weiterhin wirken. Sex(ism) Sells immer noch, offensichtlich auch und vor allem in der durch den Kunstmarkt geprägten Ausstellungspraxis in Deutschland heute. Entsprechend dem Vorgefundenen im Hamburger Bahnhof gab ich mich dieser Idee des Differenzfeminismus hyperbolisch hin, um auf die Situation im Ausstellungsraum hinzuweisen, und ließ den Raum der mit Muttermilch zu füllenden fehlenden Ecke durch den Architekten Olaf Pfeifer berechnen und zeichnen. Es wurde deutlich, das eine einzelne menschliche Körperlichkeit diese Leerstelle nicht alleine mit Muttermilch würde füllen können, da ein Mensch dafür ca. 35 Jahre lang unablässig Milch aus dem eigenen Körper abpumpen und konservieren müsste. Die relativ kleine Leerstelle der fehlenden Ecke erschien in Relation zur Produktionsfähigkeit eines einzigen Körpers übergroß. Die Ecke erinnert von der Form her an massenproduzierte Tetrapaks. Das Design der dafür hergestellten Tetrapaks, bedruckt mit dem Slogan, „Denn Stillen ist das Beste für Ihr Kind“, imitierte (mimikry) das Aussehen handelsüblicher Verpackungen für Babyprodukte – mit seinen überwiegend an weibliche, mütterliche Konsumenten orientierten Marketingstrategien. Für mich überraschend wurde ich mit dieser Idee zu einer Ausstellung des von mir beobachteten Kunstvolkes in der Futura Gallery eingeladen, für die der für diese Kultur wichtige Repräsentant und Theoretiker Nicolas Bourriaud (relational aesthetics, altermodernism, radicant etc.) die Katalogeinleitung schreiben würde. Ich wurde gebeten, hierfür 100 mit Muttermilch gefüllte Tetrapaks zu liefern. Die Tetrapacks dienten dann zum Anwerben und zum Vertrieb von Milchspenden in Stillgruppen. Diese Körperproduktion wurde dadurch zur Ware, die weiblichen Körper zu Produktionsstätten, über die ich als eine von mehreren Müttern angab, allein zu verfügen, um Kunstkapital daraus zu schlagen – wie Ammen, die aber gewöhnlich ihre Milch nicht abpumpten, sondern an der Brust die ihnen anvertrauten Säuglinge fütterten.

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