"Du passt mir gut auf die Kleinen auf, ja, Rill. Wir sind bald wieder da - Queenie und ich." , dies waren die letzten Worte, die Rill von ihrem Vater hören sollte.
Es passierte im Sommer 1939: Während Briny Foss seiner hochschwangeren Frau Queenie im Krankenhaus von Memphis bei der schweren Geburt ihrer Zwillinge beisteht, kümmert sich ihre älteste Tochter Rill unterdessen auf dem Hausboot der Familie, der Arcadia, um ihre kleinen Geschwister. Noch ahnt zu diesem Zeitpunkt niemand, dass die glücklichen Tage auf dem Fluss fortan der Vergangenheit angehören. Schon am nächsten Tag werden die Kinder der Familie Foss von Unbekannten verschleppt und in ein Waisenhaus in Memphis untergebracht. Missbrauch, Misshandlungen, Erniedrigungen, Hunger und Angst sind fortan der Alltag der Geschwister. Noch ahnt Rill nicht, dass sie das Versprechen, auf ihre Geschwister aufzupassen, welches sie ihrem Vater gab, nur schwer halten kann. Werden sie ihre Eltern jemals wiedersehen? Wird Rill es schaffen, ihre Geschwister zu schützen?
Über 70 Jahre später ahnt Avery Stafford, Anwältin und Senatorentochter, nichts von dem schweren Schicksal, welches hunderte von Kindern ereilt hat. Auf einer politischen Veranstaltung trifft sie auf die sehr betagte May Crandall, diese interessiert sich sehr für ein Famillienerbstück, ein Libellenarmband, welches Avery zu dem Anlass trägt und behauptet später, es sei ihres. Auch findet Avery heraus, dass May zudem noch ein Foto ihrer Großmutter aus jüngeren Jahren besitzt. Aus Sorge um einen politischen Skandal, beschließt sie Nachforschungen anzustellen, die ihr nicht nur eine Menge Geduld und Durchhaltevermögen abverlangen, sondern ihr ganzes Leben in Frage stellen werden. Wer ist die alte Dame und in welcher Verbindung steht sie zu ihrer Großmutter? Woher kennt sie das Libellenarmband und wieso behauptet sie, es wäre ihres? Zu diesem Zeitpunkt ahnt Avery noch nicht, welches dunkle Geheimnis auf ihrer Familie lastet.
Wer mit "Libellenschwestern" einen oberflächlichen und lockeren Roman erwartet, dürfte schnell enttäuscht werden, denn gleich zu Beginn wird der Leser mit der ganzen Tragik des Buches konfrontiert. Man hat durch den direkten, detaillierten und flüssigen Schreibstil unmittelbar nach den ersten Sätzen des Buches das Gefühl, man wäre mitten im Geschehen. Die Verzweiflung, die Not und das Elend der Kinder werden dem Leser greifbar und sehr realistisch geschildert, man spürt den Schmerz und die Angst vor der Ungewissheit, die sie erwartet. Ich konnte dieses Buch nicht mehr aus der Hand legen und obwohl alle Figuren rein fiktiv waren, so hat mich doch der wahre Hintergrund, welcher die Autorin inspirierte, diesen Roman zu schreiben, sehr betroffen und erschüttert. Sie hat es geschafft, den Hass, sowie das menschenverachtende und menschenunwürdige Verhalten der Georgia Tann und ihrem Netzwerk aus Helfern, aller gesellschaftlicher Schichten, authentisch und äußerst realistisch dem Leser nahezubringen. Auch die Absichten und Ziele, der Tennessee Children's Home Society, welche Georgia Tann leitete, wurden dem Leser durch die Geschichte der Autorin sehr deutlich und realitätsnah geschildert. Angewidert, tief erschüttert und zugleich gefesselt von dem herzzerreißenden Verlauf der Geschichte, war es mir nicht mehr möglich, das Buch auch nur länger als notwendig aus der Hand zu legen. Lisa Wingate ist mit "Libellenschwestern" ein Roman ganz besonderer Stärke gelungen, sie entführt uns Leser in eine, aus der heutigen Sicht, unvorstellbare Welt, die niemanden kalt lässt. Zudem erinnert sie an die Opfer eines unfassbaren und menschenverachtenden Skandal, welcher Jahrzehnte andauerte und auch zur heutigen Zeit noch immer zu wenig Beachtung findet.
Ich durfte dieses Buch im Rahmen einer Leserunde lesen und bedanke mich an dieser Stelle noch einmal herzlich für diese wundervolle Gelegenheit. Dieses Buch ist eines der besten Bücher, die ich je gelesen habe und ist für mich, schon jetzt, ein absolutes Highlight des Jahres.