Loreth Anne White hat eine altbekannte Grundidee inhaltlich und stilistisch toll umgesetzt.
Wo man andernorts auf eine naive oder konturlos anmutende Hauptfigur trifft, wirkt hier Hauptfigur Meg sehr lebendig, weist Ecken und Kanten auf, lädt zum Mitfühlen ein. Beruhend auf traumatischen Erlebnissen ist sie eine sich kühl gebende Karrierefrau, deren Fassade zu bröckeln beginnt.
Die Autorin versteht etwas davon, in das Setting einzusaugen. Es wird stets eine passende Atmosphäre erzeugt, mal bedrohlich-düster, mal zum Verlieben.
Es geht um Geheimnisse, Lügen, Selbstbetrug, Zuneigung, Eifersucht, Vertrauen, Misstrauen und die elementaren Fragen “Was macht uns zu dem, was wir sind? Was bewirken äußere Einflüsse? Was macht mich glücklich? Wie möchte ich leben? Wer möchte ich sein?”.
Eine Aufteilung in Schwarz und Weiß gibt es nicht, Motive für das jeweilige Handeln sind einfühlsam und einleuchtend dargestellt. Dadurch dass eine Vielzahl an spannenden Nebenfiguren mit ihren ganz eigenen Hintergründen, Problemen und Interessen ihren Auftritt haben, kann man lange über die 22 Jahre zurückliegenden Geschehnisse miträtseln. Immer mehr Puzzleteile fügen sich zusammen, wobei auch Rückschläge und unerwartete Wendungen nicht ausbleiben. Es werden reichlich Spannung und Emotionen geboten.
Großer Pluspunkt: Die unaufdringliche Vermittlung positiver Botschaften, die nachwirken und als Denkanstoß dienen können.
Was Interessierte wissen sollten: Umschreibungen von Gefühlsregungen nehmen textlich viel Raum ein. Dabei werden einige Phrasen zum Gemütszustand sehr oft bemüht, z. B. das gegen die Brust hämmernde/pochende oder für einen Schlag aussetzende Herz. Zudem werden Umgebung, Wetterlage und so manche banale Tätigkeit ausführlich beschrieben. Durchaus bildhaft beschrieben, z. B. mit stimmigen Metaphern, was dazu beiträgt, dass man tiefer in die Atmosphäre eintaucht und unterschwellige Stimmungen wahrnehmen kann. Aber nicht Jeder mag die hierdurch auftretenden Längen. Auch ich hätte mir manchmal mehr Tempo gewünscht. Insbesondere im Mittelteil, in dem Meg Zeitzeugen und Ermittelnde befragt, fiel die Spannungskurve ab. Und es gibt Stellen, die ein bisschen kitschig anmuten. Nicht zu sehr für meinen Geschmack, aber ich gehöre eben auch zu den Leuten, die dafür empfänglich sind.
Ich finde es super, dass mit Perspektivwechseln im personalen Erzählstil (Bewusstseinshorizont der erzählenden Figur) und mit Rückblenden gearbeitet wird. Unausgesprochene bedeutungsvolle Interpretationen zu Wahrgenommenem werden durch kursive Schrift hervorgehoben – ein Stilmittel, das mir gut gefällt.
Hat mich nicht ganz so gefesselt wie “Winterjagd”. Den Storyverlauf fand ich innovativer und unerwarteter, die inneren Kämpfe der Figuren noch intensiver und die Hauptfigur Olivia ging mir noch mehr ans Herz. Aber das ist Meckern auf sehr hohem Niveau. Ich spreche für beide Romane meine Leseempfehlung aus.
Ich freue mich auf einen dritten Roman von Loreth Anne White in deutscher Übersetzung.