Allison Saft schreibt so, dass der Lesende direkt in der Handlung "drin" ist. Bereits im ersten Paragraphen lernen wir zwei der Hauptfiguren kennen. Was die eine, Lorelei, über die andere, Sylvia denkt, wird direkt zu Beginn des zweiten Paragraphen deutlich. Diese Methodik der Unmittelbarkeit und Direktheit zieht sich durch die ersten beiden Kapitel und befördert den Lesenden direkt in die Handlung. Beschreibungen der Umgebung und der Geschichte des Handlungsorts und der Charaktere wechseln sich ab mit direkter Rede der Charaktere, sodass das Buch von Beginn an sehr lebendig wirkt. Gerade die direkte Rede, in der die Charaktere keinen Blatt vor den Mund nehmen, trägt dazu bei, dass die Figuren zugänglich sind und nicht verstaubt wirken. Nicht gerade unwichtig, da das Setting (Brunnestaad), die Zeit (zur Zeit des Königs Wilhelm II.) und die Namen der Figuren (Lorelei, Sylvia, Johann von Wittelsbach etc.) durchaus antiquiert wirken könnten.
Grundsätzlich ist der Schreibstil sehr zugänglich. Für meinen Geschmack werden zu viele Adjektive verwendet hier und dort und teils ist mir die Erzählperspektive nicht ganz klar. An einer Stelle scheint es so, als wüsste Lorelei etwas, wovon eigentlich nur der Erzähler bzw. der Charakter etwas wissen dürfte, da der Charakter es mit niemandem geteilt hat ("Wenn der Ursprung tatsächlich die Quelle sämtlicher Magie war, mussten sie nur den Werten wie einer Spur aus Brotkrumen durch den Wald folgen. Ziegler hatte ihre Erkenntnisse mit niemandem geteilt – außer mit Heike, die sie vor ein paar Wochen dazu verpflichtet hatte, ihren Kurs zu kartieren. Seitdem war Heike übel und rachsüchtig gelaunt. Lorelei konnte sich denken, warum.").
Das Cover stellt passend zwei Figuren gegenüber, bei denen man davon ausgehen kann, dass es sich um Lorelei und Sylvia handeln soll (insbesondere wenn sich die Beschreibung der Äußerlichkeiten anschaut). Es wirkt so, als würden die Figuren in Wasser schwimmen, was zum Titel (Tide) und insbesondere auch zur Handlung im ersten Kapitel passt. Es wirkt verträumt, was zur Thematik der Magie des Buches passt. Mir persönlich wirkt es zu verträumt, da die bereits erwähnte Direktheit und Lebendigkeit des Buches untergeht.
Es wird bereits im ersten und zweiten Kapitel genug Hintergrundinformation gegeben, dass gerade Lorelei, Sylvia und auch Professorin Ziegler als Charaktere vielschichtig erscheinen. Die Beziehung der drei bzw. besonders die von Lorelei und Sylvia, geprägt von Abneigung, aber gleichzeitig auch einer komischen Verbundenheit, könnte auf einen zukünftigen zentralen Konflikt in der Handlung deuten. Eingeführte Nebencharaktere wie Johann von Wittelsbach oder Heike von der Kaas werden ebenfalls als Gegenspieler etabliert, wirken jedoch anders als Sylvia zunächst eher eindimensional, unsympathisch und egozentrisch im wahrsten Sinne des Wortes. Entsprechend bringen die Charaktere und die Beziehung dieser untereinander genügend Sprengstoff, Konfliktpotenzial und Historie mit, um die Handlung nach vorne zu treiben und dem Lesenden genügend Projektionsflächen zu bieten.
Bereits in den ersten beiden Kapiteln wird nicht nur durch die Dichte der Figuren und ihre Beziehungen zueinander viel Handlungsstoff geliefert. Die Suche nach der Quelle des Ursprungs bzw. der Magie ist der zentrale Motor der Handlung, der alle noch so unterschiedlichen Charaktere vereint. Entsprechend würde ich als Leser für den Fortgang der Handlung die mehrfach erwähnte Expedition erwarten mit übernatürlichen und menschlichen Herausforderungen, ggf. ähnlich denen in der Odyssee. Nachdem das Verhältnis zwischen Sylvia und Lorelei bereits eine zentrale Rolle eingenommen hat, würde es mich überraschen, wenn sich dies nicht durch die Geschichte fortsetzen würde. Ebenfalls spannend zu sehen ist, welchen Einfluss der Fortgang der Handlung auf das umrissene vereinigte Königreich hat und ob die Risse innerhalb der Expeditionsgruppe die Risse innerhalb des Königreichs widerspiegeln.
Trotz der stilistischen Haken, gefällt mir, dass bereits auf den ersten 50 Seiten eine Welt erschaffen und beschrieben wird, die zwar klar fantastische Elemente birgt, aber genug Bezug und Referenzen zur Realität hat, um auch Nicht-Fantasy-Lesende zu interessieren. Nicht zuletzt, weil das Fantastische eher ihren Ursprung in der Folklore hat (Stichwort Nixe und Lorelei).