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- Verlag: Edition Virgines
- Themenbereich: Belletristik
- Genre: keine Angabe / keine Angabe
- Seitenzahl: 90
- Ersterscheinung: 15.03.2018
- ISBN: 9783944011721
Problemwolf
Gedichte
Stefan Wieczorek (Übersetzer), Viviane Sassen (Illustrator)
Die gelesene Stadt
Einige Bemerkungen zu Maria Barnas’ Gedichten
von Jan Wagner
„Dein Herz ist aus Stein, sagen die Männer, / aber was wissen die von Steinen“ – zwei Zeilen sind dies, die mich über Jahre hinweg begleitet haben und sicherlich selbst dann begleitet hätten, wenn ich sie nicht, so treffend und anregend erschienen sie mir, als Motto und Ausgangspunkt einem eigenen Gedicht vorangestellt hätte. Sie stammen natürlich von Maria Barnas, die ich nur ein einziges Mal persönlich getroffen habe, und das ist lange her. Man hatte uns 2004 nach Köln eingeladen, wo binnen dreier Tage einige niederländische und einige deutsche Lyriker einander übersetzten, zu Paaren zusammengebeten – auf der Basis von Interlinearversio-nen und mit der tatkräftigen Hilfe von Übersetzern, die beider Sprachen mächtig waren. Unter den Gedichten von Maria Barnas, für die ich also deutsche Wendungen zu finden versuchte, waren das Titelgedicht ihres ersten Gedichtbands, der im Vorjahr in den Niederlanden erschienen war, Zwei Sonnen, ein Liebesgedicht oder Liebernicht-Gedicht, sodann ein mit englischen Sätzen durchweb-tes Gedicht über einen Klavierstimmer und einen Augenblick der Anziehung in einer Alltagsszene, just da zwischen Holunder und Tasteninstrument, und schließlich ein geradezu schwereloser Vier-zeiler („Er schenkt mir weiße Wolken / in ein Glas blauer Luft ein. Die Eiswürfel / klirren leise in der Landschaft, / und der Tag ist ein Tisch für zwei“). Das mit Abstand längste Gedicht aber, in dem eine Joggerin, ein hilfloser Vogel „mit rotem Kugelbauch“ und ein alter Mann ihren Auftritt haben und dem auch die besagten Zeilen über das steinerne Herz und die Männer entnommen sind, nutzte Berlin als Hintergrund, den Treptower Park, um genau zu sein.
Auch deshalb war es nur im ersten Moment überraschend, als ich zehn Jahre nach unserer Begegnung eher beiläufig erfuhr, dass Maria Barnas sich derzeit in Berlin aufhalte; und dass ihre neuesten Gedichte sich der Stadt Berlin annehmen, erscheint nur folgerich-tig.
Die Dichterin und die Stadt – das hat natürlich eine ehrwürdige Tradition. Man denke nur an Federico García Lorcas Verse über New York, an Joseph Brodskys Venedigpoeme, an die große Lem-berg-Elegie von Adam Zagajeswki oder auch den nächtlichen Dub-lingesang Nightwalker des Iren Thomas Kinsella. Auch die nicht zuletzt in Deutschland gepflegte, nicht unheikle Gattung des Rom-gedichts mag einem in den Sinn kommen. Die große Gefahr, wenn eine Reise oder ein kurzer Besuch zum Anlass für Poesie werden, liegt ja immer darin, mit der Begeisterung des Touristen an der Oberfläche zu verharren, um dann das zu verfassen, was man böse als Baedeker-Lyrik bezeichnen könnte. Das große Versprechen hingegen ist, dass der Blick des Außenseiters das Eigentliche wahr-zunehmen vermag, dass gerade die Flüchtigkeit des Aufenthaltes die Sinne schärft für all das, was für die Einheimischen längst zur Gewohnheit geworden ist. Es ist ja dieser fremde, staunende Blick, der eine der Voraussetzungen für jegliche Poesie ist, und so bleibt eine der Herausforderungen beim Schreiben von Gedichten denn die, auch in den eigenen vier Wänden ein unermüdlich Reisender zu bleiben. Wie das Romgedicht hat übrigens auch das Berlinge-dicht eine lange Geschichte; Georg Heym wäre unbedingt zu nen-nen, aber auch, in jüngster Zeit, ein Dichter wie Gerhard Falkner, in dessen Langgedicht Gegensprechstadt – ground zero folgende Zeilen zu finden sind: „die Stadt ist ein Buch / wir schlagen die erste Straße auf / wir lesen die erste Straße / wir lesen sie mit den Füßen“. Von hier sind wir schnell bei dem vorliegenden Zyklus von Maria Barnas, denn auch hier will die Stadt gelesen, will sie erlesen sein. „Lesen in der Stadt“: Das kann auf zweierlei Art begriffen werden, zunächst im herkömmlichen Sinne, weil die Sprecherin sich gleich zu Beginn an der Lektüre von Thomas Bernhards Untergeher versucht („der erste Roman / den ich auf Deutsch lese“), also liest, während sie sich in der Stadt aufhält, was später ein Echo beim Beobachten einiger Mitreisender im Berliner Nahverkehr findet, der „grauen Frauen die sich in der U-Bahn / hinter aufgeschlagenen Buchdeckeln verstecken“; sodann kann man es aber auch – und vor allem – als Entziffern der Stadt selbst erkennen. Und auch hier beginnt es, wie bei Falkner, mit den Straßen, mit ihren Namen, den Klängen ihrer Namen, Nostitzstraße, Gnei¬senaustraße, Bergmannstraße, es beginnt mit Ortsnamen wie Viktoriapark und Prinzenbad – es handelt sich, kurzum, um das alte Kreuzberg 61, das die Füße hier lesen. Aber auch die aufgeschnappten Sonderbarkeiten der fremden Sprache finden Einlass, Kita und Streichelzoo, Torte und Pommes; Schwarzwälder Schinken und erst recht die „Noppen-Socken“ bei Tchibo sind dann schon regelrechte Forschernotate, ethnologische Betrachtungen in einem Nachbarland, das vertraut ist und doch allerlei Merkwürdigkeiten zu bieten hat. Und nur dem, der staunend von außen auf eine Sprache und eine Kultur blickt, werden, wenn ein abgeblättertes E an der Hauswand Brennstoff in Gemüse verwandelt, objets trouvés wie „Kohl und Holz“ geschenkt. „Ich möchte wissen welchem Leben ich / ausgewichen bin denn zwischen den Zeilen / Berlins lese ich nichts als Leere“ – so wird Berlin im sechsten Teil endlich als das Buch benannt, das es ist, das zu lesen ist; später bekennt sich die Dichterin dazu, in der Geschichte herumzustreunen „wie ein schwieriger Leser“. Und wird sie nicht tatsächlich, wenn es abschließend ins Kreuzberger Prinzenbad geht, selbst zu jenem Buch, das von den Schwimmerinnen, die sie eben noch beobachtet hat, in ein Handtuch eingewickelt und mitgenommen wird? Falls ja, dann ist sie fortan genau das Buch, das auch die Anderen neu zu sehen lehrt – etwa den christlichen Missionar vorm Supermarkt: „Da steht er. Breitbeinig. / Den Himmel gluckernd in seiner Kehle.“ Oder, noch immer im Freibad, die Frauen selbst, die am Ende des Gedichts stehen und aus dem Gedicht über die Stadt in die Stadt hineintreten, ihr Buch unterm Arm, und die zuvor mit einem er-staunlichen, sinnlichen Bild präsentiert worden sind: „Die bleichen Oberschenkel der grauen Frauen / ruhen wie flache Brote auf den Plastikstühlen.“ Vielleicht wird, wer sich darauf einlässt und es der Sprecherin gleichtut, wer also den Blick eines Fremden auf das Vertraute zu werfen versucht, den Titel dieses kleinen Zyklus’ statt „Neu in Berlin“ als „Berlin in Neu“ umdeuten wollen.
Einige Bemerkungen zu Maria Barnas’ Gedichten
von Jan Wagner
„Dein Herz ist aus Stein, sagen die Männer, / aber was wissen die von Steinen“ – zwei Zeilen sind dies, die mich über Jahre hinweg begleitet haben und sicherlich selbst dann begleitet hätten, wenn ich sie nicht, so treffend und anregend erschienen sie mir, als Motto und Ausgangspunkt einem eigenen Gedicht vorangestellt hätte. Sie stammen natürlich von Maria Barnas, die ich nur ein einziges Mal persönlich getroffen habe, und das ist lange her. Man hatte uns 2004 nach Köln eingeladen, wo binnen dreier Tage einige niederländische und einige deutsche Lyriker einander übersetzten, zu Paaren zusammengebeten – auf der Basis von Interlinearversio-nen und mit der tatkräftigen Hilfe von Übersetzern, die beider Sprachen mächtig waren. Unter den Gedichten von Maria Barnas, für die ich also deutsche Wendungen zu finden versuchte, waren das Titelgedicht ihres ersten Gedichtbands, der im Vorjahr in den Niederlanden erschienen war, Zwei Sonnen, ein Liebesgedicht oder Liebernicht-Gedicht, sodann ein mit englischen Sätzen durchweb-tes Gedicht über einen Klavierstimmer und einen Augenblick der Anziehung in einer Alltagsszene, just da zwischen Holunder und Tasteninstrument, und schließlich ein geradezu schwereloser Vier-zeiler („Er schenkt mir weiße Wolken / in ein Glas blauer Luft ein. Die Eiswürfel / klirren leise in der Landschaft, / und der Tag ist ein Tisch für zwei“). Das mit Abstand längste Gedicht aber, in dem eine Joggerin, ein hilfloser Vogel „mit rotem Kugelbauch“ und ein alter Mann ihren Auftritt haben und dem auch die besagten Zeilen über das steinerne Herz und die Männer entnommen sind, nutzte Berlin als Hintergrund, den Treptower Park, um genau zu sein.
Auch deshalb war es nur im ersten Moment überraschend, als ich zehn Jahre nach unserer Begegnung eher beiläufig erfuhr, dass Maria Barnas sich derzeit in Berlin aufhalte; und dass ihre neuesten Gedichte sich der Stadt Berlin annehmen, erscheint nur folgerich-tig.
Die Dichterin und die Stadt – das hat natürlich eine ehrwürdige Tradition. Man denke nur an Federico García Lorcas Verse über New York, an Joseph Brodskys Venedigpoeme, an die große Lem-berg-Elegie von Adam Zagajeswki oder auch den nächtlichen Dub-lingesang Nightwalker des Iren Thomas Kinsella. Auch die nicht zuletzt in Deutschland gepflegte, nicht unheikle Gattung des Rom-gedichts mag einem in den Sinn kommen. Die große Gefahr, wenn eine Reise oder ein kurzer Besuch zum Anlass für Poesie werden, liegt ja immer darin, mit der Begeisterung des Touristen an der Oberfläche zu verharren, um dann das zu verfassen, was man böse als Baedeker-Lyrik bezeichnen könnte. Das große Versprechen hingegen ist, dass der Blick des Außenseiters das Eigentliche wahr-zunehmen vermag, dass gerade die Flüchtigkeit des Aufenthaltes die Sinne schärft für all das, was für die Einheimischen längst zur Gewohnheit geworden ist. Es ist ja dieser fremde, staunende Blick, der eine der Voraussetzungen für jegliche Poesie ist, und so bleibt eine der Herausforderungen beim Schreiben von Gedichten denn die, auch in den eigenen vier Wänden ein unermüdlich Reisender zu bleiben. Wie das Romgedicht hat übrigens auch das Berlinge-dicht eine lange Geschichte; Georg Heym wäre unbedingt zu nen-nen, aber auch, in jüngster Zeit, ein Dichter wie Gerhard Falkner, in dessen Langgedicht Gegensprechstadt – ground zero folgende Zeilen zu finden sind: „die Stadt ist ein Buch / wir schlagen die erste Straße auf / wir lesen die erste Straße / wir lesen sie mit den Füßen“. Von hier sind wir schnell bei dem vorliegenden Zyklus von Maria Barnas, denn auch hier will die Stadt gelesen, will sie erlesen sein. „Lesen in der Stadt“: Das kann auf zweierlei Art begriffen werden, zunächst im herkömmlichen Sinne, weil die Sprecherin sich gleich zu Beginn an der Lektüre von Thomas Bernhards Untergeher versucht („der erste Roman / den ich auf Deutsch lese“), also liest, während sie sich in der Stadt aufhält, was später ein Echo beim Beobachten einiger Mitreisender im Berliner Nahverkehr findet, der „grauen Frauen die sich in der U-Bahn / hinter aufgeschlagenen Buchdeckeln verstecken“; sodann kann man es aber auch – und vor allem – als Entziffern der Stadt selbst erkennen. Und auch hier beginnt es, wie bei Falkner, mit den Straßen, mit ihren Namen, den Klängen ihrer Namen, Nostitzstraße, Gnei¬senaustraße, Bergmannstraße, es beginnt mit Ortsnamen wie Viktoriapark und Prinzenbad – es handelt sich, kurzum, um das alte Kreuzberg 61, das die Füße hier lesen. Aber auch die aufgeschnappten Sonderbarkeiten der fremden Sprache finden Einlass, Kita und Streichelzoo, Torte und Pommes; Schwarzwälder Schinken und erst recht die „Noppen-Socken“ bei Tchibo sind dann schon regelrechte Forschernotate, ethnologische Betrachtungen in einem Nachbarland, das vertraut ist und doch allerlei Merkwürdigkeiten zu bieten hat. Und nur dem, der staunend von außen auf eine Sprache und eine Kultur blickt, werden, wenn ein abgeblättertes E an der Hauswand Brennstoff in Gemüse verwandelt, objets trouvés wie „Kohl und Holz“ geschenkt. „Ich möchte wissen welchem Leben ich / ausgewichen bin denn zwischen den Zeilen / Berlins lese ich nichts als Leere“ – so wird Berlin im sechsten Teil endlich als das Buch benannt, das es ist, das zu lesen ist; später bekennt sich die Dichterin dazu, in der Geschichte herumzustreunen „wie ein schwieriger Leser“. Und wird sie nicht tatsächlich, wenn es abschließend ins Kreuzberger Prinzenbad geht, selbst zu jenem Buch, das von den Schwimmerinnen, die sie eben noch beobachtet hat, in ein Handtuch eingewickelt und mitgenommen wird? Falls ja, dann ist sie fortan genau das Buch, das auch die Anderen neu zu sehen lehrt – etwa den christlichen Missionar vorm Supermarkt: „Da steht er. Breitbeinig. / Den Himmel gluckernd in seiner Kehle.“ Oder, noch immer im Freibad, die Frauen selbst, die am Ende des Gedichts stehen und aus dem Gedicht über die Stadt in die Stadt hineintreten, ihr Buch unterm Arm, und die zuvor mit einem er-staunlichen, sinnlichen Bild präsentiert worden sind: „Die bleichen Oberschenkel der grauen Frauen / ruhen wie flache Brote auf den Plastikstühlen.“ Vielleicht wird, wer sich darauf einlässt und es der Sprecherin gleichtut, wer also den Blick eines Fremden auf das Vertraute zu werfen versucht, den Titel dieses kleinen Zyklus’ statt „Neu in Berlin“ als „Berlin in Neu“ umdeuten wollen.
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