Eine Reise in die Vergangenheit
"Es ist ein schwieriges Unterfangen: Schließlich muss ich die Balkanesen als blutrünstiges Pack entlarven und die Westler als vorurteilsbelandene Affen, die denken, Balkanesen wären ein blutrünstiges Pack." ...
"Es ist ein schwieriges Unterfangen: Schließlich muss ich die Balkanesen als blutrünstiges Pack entlarven und die Westler als vorurteilsbelandene Affen, die denken, Balkanesen wären ein blutrünstiges Pack." S. 82
Eine Reise in die Vergangenheit tritt der namenlose Ich-Erzähler an, als er zur Beerdigung seiner Großmutter nach Belgrad fährt. Zehn Jahre ist er nicht mehr in Serbien gewesen, doch jetzt besteigt er von Wien den günstigen Bus, den „Gastarbeiter-Express“, und begibt sich zurück, mit diffusen Gefühlen zwischen Hass und Nostalgie. „Damals, während der ersten jugoslawischen Diasporawelle, waren viele Arbeiter gegangen, als es dem Land relativ gut ging. Nun, da vieles den Bach runtergeht und junge Leute ins Ausland regelrecht fliehen, konnten sie es uns vorhalten, unser ungebührendes Verhalten gegenüber einem Land, das sie so sehr liebten, das es in dieser Form aber auch nicht mehr gab.“ S. 12 Er erinnert sich an die Jugoslawienkriege, den Nationalismus der Väter, denen die Hand immer locker saß, an das Erstarren in der Hitze der Sommers und dadurch, dass nichts sich änderte. Es ist wohl eine Sorte Lebenslauf, der dem Debüt-Autoren Marko Dinić bekannt vorkommen dürfte, selbst 1988 geboren in Wien und in Belgrad aufgewachsen. „Vater, seine Brüder und Cousins, seine Arbeitskollegen und sein Präsident, alle wollten sie diesen Krieg, dieses Monstrum mit den Gesichtern der Arkans und Mladićs und Tudjmans und Karadžićs und Gotovinas und Miloševićs. Sie hatten es geschafft, ihre eigenen Fressen in die Geschichtsbücher einzutragen und die Zahl der Opfer so weit in die Höhe zu treiben, dass die einzelnen Namen im Begriff waren, in den Tiefen der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Was wir aber, die Kinder und Erben der Verbrecher, auf unseren Weg mitbekamen, war das unmaskierte Leid: ein sich auf dem heißen Asphalt dahinschleppendes Stück Aas in Richtung Unbekannt, gezimmert aus Krieg, Hunger und Einsamkeit.“ S. 60
Der junge Mann im Roman ist voller Hass auf den Vater, kann dieses bildhaft erklären: „Dieser gehörte, wie mein Vater, aber auch der Vater meines Sitznachbarn, zu jenen, die den Krieg mit nach Hause gebracht und das persönliche Trauma zu einem kollektiven gemacht hatten.“ S. 25 Neben starken Bildern steht aber immer eine ungezügelte Wut, die den Vater, die Nationalisten, alle überzieht mit Verachtung, mit derber Sprache. Sonst ist das nicht mein Fall, hier fand ich es passend – seine Leser wird der Autor dennoch eher nicht in der Vätergeneration finden. Im Bus der Familie entgegenrollend, dämmert der junge Mann zwischen Erinnerungen, den Ausdünstungen und Entladungen der Mitreisenden und einer Diskussion mit seinem Sitznachbarn, der fast wie ein Zwitter der Alter Egos von Ich-Erzähler und Autor wirkt; gleichzeitig Projektionsfläche, Mahner, Gewissen und Agent Provokateur: „Vielleicht waren die Österreicher mal effizient. Vor über siebzig Jahren, wenn Sie verstehen, was ich meine. Jetzt aber — und das muss mal gesagt werden — sind die Balkanesen viel effizienter. In Srebrenica beispielsweise haben nur achtzehn Soldaten innerhalb weniger Stunden über tausendfünfhundert Mann erschossen.“ S. 19
War ich durchaus angetan von der Reisebeschreibung, so scheint die Zeit in Belgrad durch die Sommerhitze eingedampft zu werden und wirkt fast wie im Fiebertraum. Gelegentlich gleitet mir die sonst wirklich gute bildhafte Sprache ins Klischee, ins Pathos ab: „Auch mein Geist ist scharf. Wie eine Papierkante durchschneidet er den leeren Raum zwischen meinen Eltern.“ S. 88, er kann aber besser: „Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter, zählte jeden Wirbel einzeln.“ S. 95. An mehreren Stellen zieht Dinićs Protagonist Vergleiche von seinem Mann auf der Flucht zu den Flüchtlingen der Neuzeit: „Wir selber waren nur Geduldete, die ihre inneren Kalender nach der nächsten Visumsverlängerung ausrichteten.“ Ja, ich sehe den Vergleich – das wäre aber meiner Meinung nach ein ganz eigenes Buch gewesen, hinausgehend über Generationenkonflikt, Erinnerungen, Veränderung, Opportunismus.
Kein „Wohlfüchbuch“, aber ein sprachlich sehr eindringlicher innerer Monolog zum Zustand eines Landes im Exil und daheim aus Sicht der jungen Generation. 4 Sterne.