Cover-Bild Das Leben wortwörtlich
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19,95
inkl. MwSt
  • Verlag: Rowohlt
  • Themenbereich: Biografien, Literatur, Literaturwissenschaft - Biografien und Sachliteratur
  • Genre: Romane & Erzählungen / Sonstige Romane & Erzählungen
  • Seitenzahl: 352
  • Ersterscheinung: 27.11.2017
  • ISBN: 9783498006808
Martin Walser, Jakob Augstein

Das Leben wortwörtlich

Ein Gespräch

Martin Walser ist Schriftsteller. Jakob Augstein ist Journalist. Und sie sind Vater und Sohn. In diesem Buch sprechen sie über das Leben von Martin Walser, über dessen Jugend in Wasserburg am Bodensee, über den Vater, der Hölderlin gelesen hat, und die Mutter, die das Gasthaus geführt hat. Sie sprechen über den Krieg, über das Schreiben, über Geld und das Spielcasino in Bad Wiessee, über Uwe Johnson und Willy Brandt. Sex sei kein Sujet, sagt Walser, und so sprechen sie stattdessen über das Lieben. Und dann über das Beten.
Jakob Augstein fragt Walser nach der umstrittenen Rede in der Paulskirche und der öffentlichen Fehde mit Marcel Reich-Ranicki. Und natürlich spielen Auschwitz und die deutsche Vergangenheit eine Rolle, ohne die das Leben und die Romane von Walser nicht zu denken sind. Und sie sprechen auch über sich.
"Das Leben wortwörtlich" ist ein gemeinsamer Blick auf eine deutsche Lebensgeschichte, bewegend und voller überraschender Einsichten.

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Veröffentlicht am 09.01.2022

„Ich weiß noch“: Ist das Imperium aus Worten nur ein Kartenhaus?

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Martin Walser (MW Jg.1927) teilt das Geburtsjahr mit anderen Koryphäen des geschriebenen und gesprochenen Wortes wie Grass, Marquez, Mulisch oder Luhmann. In seinem 90. Lebensjahr (!) erschien 2017 zuerst ...

Martin Walser (MW Jg.1927) teilt das Geburtsjahr mit anderen Koryphäen des geschriebenen und gesprochenen Wortes wie Grass, Marquez, Mulisch oder Luhmann. In seinem 90. Lebensjahr (!) erschien 2017 zuerst ein Band mit immerhin 39 ausführlichen Interviews aus der zweiten Lebenshälfte ab 1978, darunter auch eines mit Rudolf Augstein vom 2.11.1998 („Erinnerung kann man nicht befehlen“, S.221-247). Beim Titel angefangen („Ich würde heute ungern sterben“) bis zu zahlreichen Bonmots wie „Die Sinne sind meine Philosophen“ (441) oder „Eitelkeit ist eine Daseinsvoraussetzung“ (492) kann man als Leser nur blass werden vor Neid auf so viel Kompetenz in Sachen Zuspitzung, Ausdrucksstärke und Geländemarkierung. Viele Leser bewegen sich in diesem großen Walsertal weniger der Geschichten wegen, sondern wegen dieser markanten Fähigkeit zum Zurückschlagen, zur sprachlichen Durchschlagskraft (die ja auch Politiker auszeichnen sollte). Manche Walser-Leser sind auch erschrocken über die Neigung zu Grobheit („jeder Depp“), Zügellosigkeit, Blasphemie, Flüchen oder Verbalinjurien („Heilandzack“; „Herrgottsakra“), wenn er als Doktor Walser wieder einmal lauter falsche Leben im richtigen diagnostizieren muss, und zwar nicht nur in Philippsburg. Manchmal genügt bei MW ja ein falsch gewähltes Wort zum Ausrasten, zum Blitzangriff auf die Palme, zum Jähzorn (!). Verhasst sind ihm, der das Soziale selber so wichtig nimmt, die „Operationswörter“ (57) und die sprachlichen Hülsenfrüchte der Soziologen. Verhasst sind ihm Leute mit einem Zuviel an Abstand wie Thomas Mann oder Teddie Wiesengrund. Argwohn wecken Verallgemeinerungen, die meist zu Verschwommenheit führten, was nur MW so begründen kann: „Man steht vor einem Grabstein auch mit weniger Schrecken als vor einer Leiche, nicht wahr.“ (75) Ist daraus die Idee geboren worden, diese Kraftnatur, einen feinsinnigen Berserker vom Bodensee, zu einem Gespräch zwischen den Generationen einzuladen, bei welchem die Fragen vom eigenen Sohn (Jg. 1967) gestellt wurden, auch wenn (oder gerade weil) dieser in einem anderen Haushalt als dem eigenen aufgewachsen ist? Wenn ja, dann hat die Sache ziemlich hingehauen. Der Publizist und Spiegel-Erbe Jakob jedenfalls macht seine Sache vorzüglich, bleibt beim Nachfragen oft konsequent und der Vater zeigt meist eine Bereitschaft zu Konzilianz und Nachsicht, die gewiss noch nicht von „Altersmilde“ zeugt -„Bitte nimm das zurück!“ (38,61) oder „Bitte frag mich etwas anderes!“ (73) Damit muss MW keine „zweite Blechtrommel“ schreiben, wie es Grass auf seine alten Tage tatsächlich getan hat, sondern er begleitet seinen Sohn zu den markanten Wahrzeichen des Walserlandes, einem Imperium aus Worten. Eine Kindheit im dörflichen Wasserburg am Bodensee, eine Gastwirtschaft in der Ferienprovinz als Existenzgrundlage („Geschäft“), ein Parteieintritt der Mutter (Augusta) ausschließlich zur Pleitenprophylaxe (Vergantung), unterfüttert mit existenzieller Angst, die heute nur noch wenige so kennen, Rudersport in der Marine HJ mit einer denkwürdigen Zugfahrt 1944 vorbei an Ruinenlandschaften bis zur Insel Dänholm: „Ich bin tatsächlich Reichsmeister (im Signalwinken!) geworden.“ (65) „Hat das Spaß gemacht?“ „Und wie!“ Der kleine Martin „war ein großer Leser“ (67), musste aber mit kaum 15 Jahren „von der Schule wegbleiben und 400 Zentner (!) Brikett rausschaufeln.“ (51) Übrigens eine körperliche Arbeit, vor der sich offenbar sowohl der eigene Vater wie der ältere Bruder eher drückten. Mit 16 meldet er sich kriegsfreiwillig zu den Gebirgsjägern, weil er schon Skifahren, aber nicht gut sehen kann, sonst wäre er, wie der mit 19 gefallene Bruder Josef, zu den „Panzern“ gegangen. Mit 18 kommt es zu einer Braut und Jakobs Frage nach dem Wie und Warum wird in einem Abschnitt von vierzehn Zeilen beschrieben, um der Verkürzung der Frage aus dem Weg zu gehen; Käthe J. ist die ausgebombte Tochter einer Friedrichshafener Hoteliersfamilie, die in Wasserburg die Pacht für das Walserhotel übernehmen, als Augusta keine Kraft mehr für die Beherbergung von Gästen hatte. (74) Das kann nur noch Martin Walser, er würde sagen, das sei „erfahrungsgesättigt“, also das Gegenteil von theoretisch. Wenn die heute den Globus Beherrschenden so nah an den Leuten wären, wie MW es meistens war, hätten Parteien wie die AfD vermutlich weniger Zulauf. 1958 ist er zum ersten Mal in den USA, drei Monate bei Kissinger in Harvard (121,263). 1963 betreut er eine Aufführung eines seiner Theaterstücke in Edinburgh, wo es wie bei einem „fringe festival“ recht „lustig“ zugeht - Stichworte sind chicken farm, puffin, rabbit race oder Cees Nooteboom (162ff). Es gibt also viel Stoff aus der reality zum Verarbeiten in Roma-nen und weiteren Theaterstücken. Der künstlerische Reifungsprozess hält bis Ende der 70er Jahre an, als MW mit dem „Fliehenden Pferd“ endlich aus dem Gröbsten raus ist und der ehemalige Radio-Reporter viele Interviewanfragen aus Solidarität mit der Zunft und ihren oft prekären Arbeitsverträgen einfach nicht ablehnen kann. Romane sind für MW Erinnerungsdenkmale, es gibt geradezu eine „Erinnerungspflicht“; sie sollen „etwas zeigen. Nicht erklären.“ (265 u.ö.) Überhaupt sind sie ´Sachbücher der Seele´, der Autor ist „wirklichkeitsgesättigt“, denn „Ich hatte den Realismus.“ (121) Der Verriss eines FAZ-Kritikers zum Roman von 1960 war allzu respektlos und arrogant überschrieben mit dem Titel: „Toter Elefant auf einem Handkarren.“ (127) Das führte zu weiterer Narbenbildung, denn MW fühlt sich seit seiner Dorfkindheit den Mächtigen ausgeliefert. Und Macht lauert schon an der nächsten Straßenecke. Sogar Freundschaften unterliegen einem agonalen Wettbewerbs- und Mangelprinzip, an dem auch heutige Ökonomen wie Gary S. Becker ihre helle Freude hätten. Der alemannische Kafka wird gebraucht - von Peter Hamm, von Unseld gegen die Lektoren, von Uwe Johnson, nicht selten zum Streiten, von der eigenen Mutter zum Überleben, vom Muschelesser Koeppen zur Unterhaltung. (11,105,177 u.ö.).Mangelerfahrung und Narbenbildung sind nicht ohne Tagebuch zu ertragen und der regelmäßige Blick in den Spiegel stärkt den eigenen Rücken, das durch Wortimperien allein kaum herstellbare Selbstbewusstsein. Was Jakob kaum glauben mag. Denn er kann beides, Spiegel und Tagebuch, durchaus entbehren, vermutet eine Neigung zu Inszenierung und Stilisierung und pocht auf die wahren Zusammenhänge und Kausalitäten: „Das glaube ich dir nicht.“ (157,199,221,273) Das hält das Gespräch über 330 Seiten am Leben. Das Buch trägt dadurch mitunter Züge einer Generalbeichte coram publico, woher die Absolution kommen soll, ist aber eine offene Frage - aus der Öffentlichkeit, aus dem Publikum, von den Mitmenschen (welchen Alters?), von den Zeitgenossen? Über die Generationengrenzen (1927/1967) hinweg? Mithin gesamtdeutsch? Tout comprendre c´est tout pardonner? Vermutlich liegt sie allein in dem Kraftakt, der der Verbalisierung zugrunde liegt, zumal MW den Verben mehr vertraut als den Begriffen und Jakob Augstein sehr viel gelesen haben muss, um die Geschichte seiner Herkunft überhaupt bewältigen zu können: „Warum müssen die Kinder hinter den Eltern aufräumen?“ (327) Wie auch immer, die weiblichen Romanfiguren tragen bei MW so anfechtbare Vornamen wie Silvi, Orli, Beate, Anna, Birga oder Elsa. Und auch eine Nelly Pergament (275) ist nur scheinbar eine Ausnahme. Wie bei der Bachmann sind diese weiblichen Geschöpfe unter der Haube bzw. Trockenhaube und meistens haben nur die Männer richtige Nachnamen, also das Sagen, die Position, die Macht und das Geld. Die eigene Gattin, jene Käthe J., ist übrigens „eine von Innigkeit unerschöpfliche Frau.“ (169) Wer so kompromisslos und realitätsversessen nach dem „wahren Jakob“ sucht, liefert sich, wie MW schon am Anfang der Gespräche vermutet, Spott und Schadenfreude aus: „Jeder Depp kann sich auf uns stürzen.“ (11) Könnte das absichtlich verdreht zitierte „Fiat vita pereat veritas“ (101) am Ende gar noch eine Stammtischparole sein? Könnte MWs immenses Schreibwerk aus einer Nähe zum Volk, zu dörflichen Redensarten, Dialekten und Stammtischparolen emporgewachsen sein, aus einer „Schule des Lebens“? „Ich weiß noch…“ (257 u.ö.) Also zusammengefasst: Nazizeit und Idylle (plus Mohrle)? Am besten ist es wohl abschließend, wenn sich jeder Leser selber ein Bild macht und sich schnellstens dieses tolle Buch besorgt, in dem auch ein „Franziskanerpater mit einer Flügelspannweite von mehreren Metern“ (303) vorkommt.
Michael Karl

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