Seltene Mischung aus Familienroman und Sachbuch
REZENSION – Ein in seinem zeitlichen Umfang und philosophischen Tiefgang ungemein komplexes und beeindruckendes Werk ist der Autorin Monika Zeiner mit ihrem fast 700 Seiten umfassenden Familienroman gelungen, ...
REZENSION – Ein in seinem zeitlichen Umfang und philosophischen Tiefgang ungemein komplexes und beeindruckendes Werk ist der Autorin Monika Zeiner mit ihrem fast 700 Seiten umfassenden Familienroman gelungen, der im September bei der dtv Verlagsgesellschaft erschien. Erst zehn Jahre nach ihrem Debüt „Die Ordnung der Sterne über Como“, mit dem sie auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises kam, folgte nun mit „Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre“, dessen Handlung sich über fünf Generationen von Kaisers Zeiten bis in unsere Tage erstreckt, ihr zweiter, durchaus preiswürdiger Roman. Darin geht es um unsere Abhängigkeit in Vergangenheit und Vergänglichkeit, um gesellschaftliche Umbrüche, individuelle Erinnerung und persönliche Schuld sowie deren Verdrängung. „Villa Sternbald“ zeigt anhand der Protagonisten den Versuch individueller Verortung in wandelnder Zeit und das individuelle Ringen mit der eigenen Vergangenheit und einstigem Handeln.
„Tempora mutantur et nos mutamur in illis – Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen“. Dieses im Familienkreis von Nikolas Finck gern zitierte Sprichwort aus dem 16. Jahrhundert dient in Zeiners Roman nicht nur als Feststellung, sondern der Familie Finck gleichsam als Absolution für einst begangene Fehler. Nikolas, Sohn dieser wohlhabenden Schul- und Funktionsmöbelfabrikantenfamilie, der vor Jahren aus uns Lesern anfangs noch verborgenen Gründen mit seiner Familie gebrochen hatte, kehrt anlässlich des bevorstehenden Firmenjubiläums unerwartet in die Villa Sternbald bei Nürnberg zurück. Da sein Jugendzimmer in der Villa, die im Roman als architektonisches Sinnbild vergangener Zeiten steht, längst aufgelöst ist, seine eigene Vergangenheit im Haus gewissermaßen gelöscht ist, wird er in einer Dachkammer einquartiert. Von den Vorbereitungen für das Fest und die begleitende Jubiläumsausstellung „Klassenzimmer im Wandel der Zeit“ hält er sich als Außenseiter fern. Stattdessen ordnet er zufällig entdeckte Ahnenfotos und steigt mit deren Hilfe tief in die Familien- und erfolgreiche Unternehmensgeschichte ein, die im Jahr 1897 mit dem Bau der ersten Schulbank begann, für die Ururgroßvater Ferry einst auf der Pariser Erfindermesse ausgezeichnet wurde. „Die Bilder hatten sich nicht verändert in all den Jahren, dachte ich. Die Vergangenheit ist das Einzige, das nicht vergeht.“ In Rückblenden erfahren wir vom Denken und Handeln seiner Ahnen in ständig wandelnder Zeit. „War es nicht vielmehr die Vergangenheit, die uns trennte und gleichzeitig verband?“ Tragen wir Heutigen also Verantwortung für das Handeln unserer Väter und Großväter?
Schon als Oberstufen-Gymnasiast hatte Nikolas entdeckt, dass die Geschichte seiner Familie und ihres Unternehmens auf Lügen und Selbstbetrug aufgebaut war. „Die Schreibtische für die Nazibeamten und die Holocaustplaner haben wir genauso gerne gebaut wie die Schreibtische für die Bonner Republik … und auch den Bundestag in Berlin haben wir mit lupenrein demokratischen Büromöbeln ausgestattet, die sich an jeden vorstellbaren Zeitgeist anpassen können.“ Auch Nikolas' geliebter Großvater „hat nie etwas anderes getan, als sich anzupassen. Wie ein Chamäleon hat er die Farben gewechselt, wie es gerade geboten war.“
„Villa Sternbald“ ist kein gefälliger Unterhaltungsroman, der sich mal eben schnell lesen lässt, obwohl die Art, wie Zeiner dramaturgisch mit den Erinnerungen ihrer Figuren und deren jeweiliger Zeit spielt, ihr Buch doch in gewisser Weise spannend macht. Das Wechselspiel individueller Schicksale im Laufe deutscher Zeitgeschichte sowie die Vermischung von Vergangenheit und Gegenwart, wodurch sich eine gewisse „Unschärfe der Jahre“ ergibt, geben Nikolas – aber auch uns Lesern – immer wieder Möglichkeit zur Reflexion und Selbstfindung.
Zeiners Werk ist eine literarisch seltene Mischung aus historischem Familienroman und einem Sachbuch zur deutschen Zeitgeschichte. Gerade jene längeren philosophischen Diskurse wie – um nur zwei Beispiele zu nennen – über die Geschichte des Sitzens vom Thron des Herrschers bis zum Stuhl des einfachen Mannes, wodurch Aufklärung und Kapitalismus erst möglich wurden, oder über das populistische Wirken des Judenhassers Martin Luther durch Verbreitung antisemitischen Gedankenguts sind besonders anspruchsvolle, deshalb besonders lesenswerte Kapitel dieses empfehlenswerten Buches.