Band
der Reihe "edition münchen"
10,00
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inkl. MwSt
- Verlag: Bibliothek der Provinz
- Themenbereich: Gesellschaft und Sozialwissenschaften - Soziologie und Anthropologie
- Genre: keine Angabe / keine Angabe
- Seitenzahl: 76
- Ersterscheinung: 2000
- ISBN: 9783901862083
Über das Mitleid im Kapitalismus
[Essay]
Andrea Welker (Herausgeber)
Mitleid und Moderne
Menschen haben immer gelitten und leiden noch. Aber so, wie es immer Leid gab, so haben Menschen auf das Leid anderer reagiert. Sie haben mitgelitten oder Mitleid gespürt. Mitleid gab es schon immer. Was es nicht immer gab, ist eine spezifische Form des Mitleids, nämlich das bürgerliche, moderne und kapitalistische Mitleid, welches für unsere Zeit und für die Zeit in der Zukunft bezeichnend ist und sein wird.
Ist die moderne Gesellschaft eine mitleidige oder sogar eine mitleidende? Ist sie im Stande, am Leiden anderer teilzuhaben, deren Leid selbst erleiden zu können, vor der Grausamkeit zu schaudern – gehen solche Empfindsamkeit und der Charakter moderner Gesellschaften zusammen? Wie kann so etwas im selben Atemzug behauptet werden? Es weiß doch jeder Mensch, dass unsere Welt grausam ist, dass wir aus einem Jahrhundert des Abschlachtens kommen, der Konzentrationslager, der Gaskammern, der Atombomben, des unsäglichen Leidens. Jeder Soziologe, Historiker, Philosoph, ja jeder, der glaubt, etwas zu sagen zu haben, wird sagen, wie grausam unsere moderne Gesellschaft ist, wie kalt und emotionslos der Kapitalismus sei, wie vereinsamt moderne Menschen.
Mitleid? Kann es überhaupt eine andere intellektuelle und moralische Position geben als die, die Mitleid als den Zynismus der Moderne betrachtet? Mitleid, wenn überhaupt, so heißt es, stamme aus einer besseren Welt, aus einer mythologischen, vielleicht auch religiösen. Mitleid und moderne und kapitalistische Gesellschaft: das kann nicht sein, soll nicht sein. Nicht der mitleidige Mensch ist von dieser Welt, sondern der Entfremdete, der Fremde, der Egoist, der über Leichen zur Bank schreitet und emotionslos am Fernsehen die Leiden entfernter Welten konsumiert. Mitleidige Menschen sind Überbleibsel vergangener Zeiten, Heilige, die noch nicht verstanden haben, dass die Welt modern ist, worin jeder sich selbst der Nächste ist. Weltkriege, Völkermord, das größte Verbrechen der Menschheit, die Vernichtung der europäischen Juden, und weiter so, Massenmord nach Massenmord. Es scheint, als ob die Abgründe des Bösen sich immer weiter öffnen. Mitleid? Allein der Klang des Wortes hört sich so weit entfernt an wie die letzte Bibelstunde.
Menschen haben immer gelitten und leiden noch. Aber so, wie es immer Leid gab, so haben Menschen auf das Leid anderer reagiert. Sie haben mitgelitten oder Mitleid gespürt. Mitleid gab es schon immer. Was es nicht immer gab, ist eine spezifische Form des Mitleids, nämlich das bürgerliche, moderne und kapitalistische Mitleid, welches für unsere Zeit und für die Zeit in der Zukunft bezeichnend ist und sein wird.
Ist die moderne Gesellschaft eine mitleidige oder sogar eine mitleidende? Ist sie im Stande, am Leiden anderer teilzuhaben, deren Leid selbst erleiden zu können, vor der Grausamkeit zu schaudern – gehen solche Empfindsamkeit und der Charakter moderner Gesellschaften zusammen? Wie kann so etwas im selben Atemzug behauptet werden? Es weiß doch jeder Mensch, dass unsere Welt grausam ist, dass wir aus einem Jahrhundert des Abschlachtens kommen, der Konzentrationslager, der Gaskammern, der Atombomben, des unsäglichen Leidens. Jeder Soziologe, Historiker, Philosoph, ja jeder, der glaubt, etwas zu sagen zu haben, wird sagen, wie grausam unsere moderne Gesellschaft ist, wie kalt und emotionslos der Kapitalismus sei, wie vereinsamt moderne Menschen.
Mitleid? Kann es überhaupt eine andere intellektuelle und moralische Position geben als die, die Mitleid als den Zynismus der Moderne betrachtet? Mitleid, wenn überhaupt, so heißt es, stamme aus einer besseren Welt, aus einer mythologischen, vielleicht auch religiösen. Mitleid und moderne und kapitalistische Gesellschaft: das kann nicht sein, soll nicht sein. Nicht der mitleidige Mensch ist von dieser Welt, sondern der Entfremdete, der Fremde, der Egoist, der über Leichen zur Bank schreitet und emotionslos am Fernsehen die Leiden entfernter Welten konsumiert. Mitleidige Menschen sind Überbleibsel vergangener Zeiten, Heilige, die noch nicht verstanden haben, dass die Welt modern ist, worin jeder sich selbst der Nächste ist. Weltkriege, Völkermord, das größte Verbrechen der Menschheit, die Vernichtung der europäischen Juden, und weiter so, Massenmord nach Massenmord. Es scheint, als ob die Abgründe des Bösen sich immer weiter öffnen. Mitleid? Allein der Klang des Wortes hört sich so weit entfernt an wie die letzte Bibelstunde.
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