Regenmärchen
Dieses Buch ist ein Genussbuch. Es gibt sie diese Bücher, die man schnell lesen muss, weil man wissen will, wie sie enden. Aber meist haben diese Bücher auch Erzählpausen, in denen nichts neues passiert. ...
Dieses Buch ist ein Genussbuch. Es gibt sie diese Bücher, die man schnell lesen muss, weil man wissen will, wie sie enden. Aber meist haben diese Bücher auch Erzählpausen, in denen nichts neues passiert. Dieses Buch ist kein solches Buch. „Die Geschichte des Regens“ zwingt einen dazu, Pausen einzulegen, denn sie hat in jeder Zeile einen Tropfen Welt. Mit jedem Tropfen Geschichte entsteht ein Fluss. Ruth nennt ihre Geschichte einen Flusstext. Und in dem Sinne bedeutet der Titel auch, dass es hier darum geht, wie die Swain Geschichte zum Fluss wurde. Darum, wie viele Tropfen zusammenflossen, um diese Geschichte zu erzählen.
„Wir sind unsere Geschichte. Wir erzählen sie, um am Leben zu bleiben.“ (S.11)
Ruth Swain liegt im Sterben. Ihre Geschichte befindet sich in einer Erzählpause. Das Leben fließt genauso an ihr vorbei, wie der Shannon an ihrem Haus. Und deswegen tut sie das einzige, was ihr, als Tochter eines Dichters und Büchersammlers, in einem Haus voller Bücher, sinnvoll erscheint. Sie schreibt ihre Geschichte auf.
„Wir erzählen Geschichten. Wir erzählen, um uns die Zeit zu vertreiben, um die Welt ein Weilchen hinter uns zu lassen oder tiefer in sie vorzudringen. Wir erzählen, um den Schmerz des Lebens zu lindern.“ (S. 207)
„Die Geschichte des Regens“ ist die Geschichte darüber, wie es dazu kam, dass Ruth in einem Bootbett liegt und auf dem Flusstext ihrer Vergangenheit treibt bis sie im Krankenhaus liegt, während Faha, ihr Heimatort, zu versinken droht. Es geht darum, wie Virgil, Ruths Vater, nach Faha kam und warum er dorthin kam. Wie Virgils Vater, der Reverend, ihm einbläute auf den Ruf Gottes zu hören, und wie Virgil deswegen immer zwischen dieser und der nächsten Welt mit dem Kopf in den Wolken lebte. Es geht darum, wie Virgil Swain Ruths Mutter Mary kennenlernte und wie sich die beiden in einander verliebten. Wie der Buchkauf der Familie Swain viel wichtiger als das Überleben war und die Familie deswegen mehr schlecht als recht überlebte. Es geht darum, dass Ruth einen Zwilling hatte und wie die Beiden von ihrem Vater die Sehnsucht erbten. Ruth, die hin zu den Wolken und damit zur Literatur und ihr Zwilling, die zum Wasser. Regen ist die Kombination der beiden Sehnsüchte und stellt die Sehnsucht Virgils dar. Es geht auch darum, wie die Sehnsucht Ruths Zwilling zum Verhängnis wurde. Das sind viele Geschichten. Aber es gibt noch viel mehr davon in diesem Buch. Und über allem liegt die Liebe zur Literatur und zum Wasser. Diese Liebe durchdringt das Buch und macht es lebendig. Ruth sagt über ihr Buch:
„Ich will, dass es atmet, denn Bücher sind lebendig, sie haben einen Rücken, einen Duft, eine Lebensdauer, und manche haben vom vielen Leben auch Tränen und Kerben und einiges an Flecken zurückbehalten.“ (S. 402)
„Die Geschichte des Regens“ ist wunderschön geschrieben, humorvoll und träumerisch, aber auch traurig. In jeder Zeile liegt die Sehnsucht. Ruth lebt in einer Welt, in der Jeder Literatur atmet. Mit ihrem Kopf in den Büchern und in den Wolken erzählt sie ihre Geschichte und die ihrer Vorfahren. Ich habe hier einen Schatz lesen dürfen, mich in einen irischen Geschichtenquilt kuscheln dürfen und ich habe jede Seite davon genossen.