Öffnet die Augen und weitet den Blick
„Nein, wir sind nicht darüber hinaus, auf diese Dinge achten zu müssen. Es wird gerade erst interessant. Denn es sind andere Erfahrungen, andere Perspektiven, die hier erzählt werden, neue Geschichten, ...
„Nein, wir sind nicht darüber hinaus, auf diese Dinge achten zu müssen. Es wird gerade erst interessant. Denn es sind andere Erfahrungen, andere Perspektiven, die hier erzählt werden, neue Geschichten, die ich nach dem männerdominierten Lesen der letzten Jahrzehnte nicht nur als Abwechslung und Bereicherung empfinde, sondern geradezu als Offenbarung.“ (25%)
Gerade in letzter Zeit liest man in den Zeitungen häufiger, dass unter den Nominierungen für einen Literaturpreis dieses Mal außergewöhnlich viele Frauen dabei seien. Es scheint sich etwas zu bewegen in der Literaturwelt! Doch ist die journalistische Berichterstattung darüber vielleicht noch mutmachend, so muss man nur zu den Leserkommentaren weiterscrollen. Dort wird man sofort fündig; meist ist schon der erste Kommentar ein empörter Aufschrei, dass es doch bei einem Literaturpreis bitte nicht ums Geschlecht der Autorin gehen dürfe, sondern um die Qualität des Geschriebenen.
Nicole Seifert greift unter anderem diesen vermeintlichen Qualitätsanspruch in ihrem Buch FRAUEN LITERATUR auf. Natürlich sollte das Geschlecht der Autorin bei der Qualitätsbewertung keine Rolle spielen. Tut es aber. Und es wird gerade den AutorINNEN zum Nachteil in der Bewertung. Denn Literatur von Frauen wurde seit jeher systematisch unterdrückt und abgewertet. Die Bedingungen, unter denen Frauen schrieben und schreiben, waren und sind schwierig. Ihre Werke wurden und werden deutlich seltener kanonisiert. Die Rezeption ihrer Werke findet nicht nur seltener statt, sondern ist häufig auch trivialisierend oder sogar diskriminierend.
Misogynie ist noch lange nicht aus unserer Gesellschaft verschwunden. Sie wird nur nicht immer auf den ersten Blick erkannt. Und sie versteckt sich inzwischen sogar unter dem Deckmäntelchen, dass Frauen doch heute alle Türen offen stünden. Wenn sie also scheitern, dann ja wohl auf Grund mangelnder Qualität ihrer Arbeit.
Nein. Der Fehler liegt im System. Unsere Köpfe sind noch lange nicht frei von Geschlechterklischees.
Nicole Seifert führt unter anderem Studien als Beispiele an, die belegen, dass Literatur von Autorinnen deutlich besser in der Bewertung einer Jury abschneidet, wenn das Geschlecht der Autorinnen nicht bekannt ist.
Sie zeigt auf, wie vom Schreibprozess, über das Verlegen bis hin zur Rezeption die Werke von Autorinnen benachteiligt werden. Sie geht darüber hinaus auf die Literaturgeschichte, die geschichtlichen Veränderungen und die männlich dominierte Kanonisierung ein. So sind viele literarische Werke aus der Feder von Frauen in Vergessenheit geraten und werden selten neu aufgelegt.
Fundiert und umfassend deckt Seifert in ihrem Buch auf, wie es um FRAUEN LITERATUR stand und steht. Nach der Lektüre ist man nicht aufgeklärter, sondern hat auch eine lange Leseliste „abzuarbeiten“, denn das Buch platzt fast vor lauter toller Empfehlungen.
Dieses Buch öffnet die Augen und weitet den Blick. Ich kann es nur weiterempfehlen!
„Und man bekommt einen Blick für unsere völlig schiefen Vorstellungen von Geschlechternormen, an die wir aber derart gewöhnt sind, dass wir sie für richtig und wichtig, für normal und unveränderbar halten.“ (9%)
*Zum Beispiel hier: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2021-04/preis-der-leipziger-buchmesse-nominierungen-belletristik-frauen