Aufwühlende Geschichte in einem einzigartigen Schreibstil
Solange wir lügenCadence Sinclair Eastman, so stellt die siebzehnjährige Cady sich zu Beginn von „Solange wir lügen“ („We were liars“) von Emily Lockhardt vor. Sie ist das älteste Enkelkind in einer sehr wohlhabenden, ...
Cadence Sinclair Eastman, so stellt die siebzehnjährige Cady sich zu Beginn von „Solange wir lügen“ („We were liars“) von Emily Lockhardt vor. Sie ist das älteste Enkelkind in einer sehr wohlhabenden, angesehenen und großen Familie, die jeden Sommer gemeinsam auf der Privatinsel vor der Küste von Massachusetts verbringt. Doch sie ist sehr krank und kann sich nicht an den Sommer vor zwei Jahren erinnern. Auf Nachfragen erfährt sie von ihrer Familie und ihren engsten Freunden (Cousin und Cousine) nichts oder ausschließlich Lügen. So sammelt sie Hinweise um sich selbst zu erinnern, welche schreckliche Katastrophe sich damals ereignet hat.
Das Buch beginnt mit einer Stammtafel der Familie Sinclair. Dies habe ich gar nicht erwartet, aber schnell gemerkt, dass er notwendig ist. Während der ersten 20 bis 30 Seiten habe ich wirklich häufig kurz nach vorne geblättert, um die Familienverhältnisse zu verinnerlichen. Das wirkt hoffentlich nicht abschreckend, aber mir war es sehr wichtig, nachvollziehen zu können, wer wessen Mutter, Schwester oder Bruder ist. Daher war ich sehr froh, dass es diese Ahnentafel enthalten ist.
Kaum mit der eigentlichen Geschichte begonnen, fällt sofort der einzigartige Schreibstil auf. Die Sätze sind kurz und die Formulierungen prägnant. Man bekommt den Eindruck, dass Cady mit einer leichten Ironie bis hin zu Widerwillen auf ihre Familie und deren gesellschaftlichen Status blickt. Die Autorin arbeitet darüber hinaus äußerst intensiv mit Zeilenumbrüchen. Nicht nur die einzelnen, kurzen Sätze werden dadurch getrennt, auch innerhalb eines Satzes erfolgt häufig ein Umbruch. Dieser unterstreicht die Bedeutung bestimmter Ausdrücke und die emotionale Schwere mancher Wörter.
Die Geschichte wird konsequent aus Cadys Perspektive geschildert. Zu Beginn erläutert sie außerdem, dass sie gerne Märchen abwandelt. So gibt es immer mal wieder kursiv gedruckte Abschnitte, in denen Cady die Situation in ihrer Familie – jeweils in Abhängigkeit vom Stand ihrer hinzugewonnen Erinnerungen – als Märchenadaption erzählt. Dies gibt dem Leser, zusätzlich zum Schreibstil, einen sehr tiefen Einblick darüber, wie Cady über ihre Familie denkt und wie sie die Spannungen darin wahrnimmt. Auch ihre eigene Rolle in der Familie, beziehungsweise im Märchen, sowie die ihres Freundes Gat, ändert sich fortlaufend. Einen vergleichbaren Schreibstil habe ich noch nirgendwo gelesen. Er hat mich herausragend durch die Geschichte getragen.
Zusammen mit Cady spürt der Leser sehr früh, dass die Familie bewusst Dinge verschweigt oder sie anlügt. Man wird neugierig, was wohl vorgefallen ist und entwickelt eigene Theorien. Dadurch, dass die Protagonistin eigentlich weiß, was vor zwei Jahren geschah, dies aber lediglich verdrängt hat, achtet man sehr genau auf jeden Gedanken und Erinnerungsfetzen, der sich in Cadys Erzählung manifestiert. Dennoch darf man hier keinen Spannungsbogen wie in einem Krimi erwarten. Der Leser begleitet sie vielmehr auf ihrer Reise zurück zu ihren Erlebnissen.
Als dann die entscheidende Erinnerung wieder einsetzt, war ich geschockt, überrascht und auch gleichzeitig überfordert, wie ich damit umgehen soll. Diese Auflösung habe ich absolut nicht kommen sehen und ich war begeistert von der Wende. Dann zeigte sich, dass dies nicht alles war und die Autorin hat noch einen zweiten Höhepunkt oben drauf gesetzt. Der Moment der plötzlichen Klarheit, wie alles zusammenhängt und aufeinander aufbaut, überkommt den Leser wie ein emotionaler Sturm. Er baut sich auf zu einem Taifun und wenn der Himmel wieder klar und sonnig ist, trifft uns Cadys Schmerz und ihre Trauer umso härter. Es ist berührend, aufwühlend und auf einer anderen Ebene auch verstörend.
Nach dem Umblättern der letzten Seite saß ich zunächst nur still auf dem Sofa und konnte es nicht glauben. Mein erster, richtiger Gedanke danach war „Das kann ich niemals in ausreichende Worte fassen, sodass meine Rezension dem Buch gerecht werden könnte.“ Wenn es mir nicht gelungen ist, dann so viel: bei nur rund 300 Seiten habt ihr einfach nichts zu verlieren, wenn ihr diesem Buch eine Chance gebt. 5 von 5 Sternen und eine absolute Leseempfehlung!