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Veröffentlicht am 01.06.2022

Paul Stainer ermittelt in den Wirren des Kapp-Putsches...

Engel des Todes
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Dies ist der 3. Band von Thomas Ziebula um den Kriminalinspektor Paul Stainer (1. Band: „Der rote Judas“, 2. Band: „Abels Auferstehung“). Die Zeiträume zwischen den einzelnen Bänden sind erstaunlich kurz, ...


Dies ist der 3. Band von Thomas Ziebula um den Kriminalinspektor Paul Stainer (1. Band: „Der rote Judas“, 2. Band: „Abels Auferstehung“). Die Zeiträume zwischen den einzelnen Bänden sind erstaunlich kurz, so dass sie zeitlich fast nahtlos ineinander übergehen.
Diesmal sind es die Tage im März 1920 während des Kapp-Putsches... Ja, ich wusste, es gab den Kapp-Putsch, der die junge deutsche Demokratie fast zum Scheitern gebracht hätte – und das war's auch schon...Aber der Autor nimmt uns gekonnt mit in diese Zeit: wir erleben die verschiedenen Gruppierungen „hautnah“ mit, sei es durch die Schimpftiraden von Paul Stainers Vater, der das „verfluchte rote Schweinepack besonders herzhaft zur Hölle“ (S.36) wünscht, sei es dass wir mit Mona, Fine und Rosa fast in eine Schlägerei zwischen Spartakisten und Weißgardisten geraten, wir nehmen an Demonstrationen teil – kurz: wir erleben deutsche Geschichte mit – besser, deutlicher und näher geht es nicht! Hier sei dem Autor ein großes Kompliment ausgesprochen, dass er die komplizierte und vielschichtige historische Situation so plastisch, verständlich und nachvollziehbar beschrieben hat, Chapeau, Herr Ziebula!
Schon allein deswegen lohnt sich die Lektüre dieses Buches, aber es gibt ja auch noch einen anderen Strang: anscheinend nutzt ein Serienmörder das Chaos der Zeit, um wahrlich bestialische Morde zu begehen. Kriminalinspektor Stainer und seine Abteilung ermitteln unter Druck, wie und wo ergibt sich eine Verbindung zwischen den Ermordeten?
Da wissen wir Leser*innen immerhin schon etwas mehr: wir dürfen verschiedene Behandlungsprotokolle lesen, in denen wir einiges über den Täter erfahren... Zuerst ahnen wir es nur, langsam verdichtet sich der Verdacht – und wir haben auch so unsere Vermutungen, wer noch gefährdet sein könnte... In der Zwischenzeit ermitteln Paul und seine Assistent Siegfried Junghans in verschiedene Richtungen, da ihnen der „rote Faden“ fehlt... So, aber nun genug über den kriminalistischen Inhalt geschrieben... Auch die „Verzahnung“ der beiden Stränge ist gut gelungen!
Ich habe mich gefreut, Paul, seine Kollegen und seine Freunde wieder zu treffen, das mag ich an gut durchdachten Reihen: wir erleben die Entwicklungen der Menschen mit, können an ihrem Lebensweg teilnehmen – und werden hier noch mit einer besonderen Überraschung konfrontiert!
Aber der wirklich große Verdienst von Thomas Ziebula ist, wie liebevoll er auch scheinbar nebensächliches „Menscheln“ detailliert beschreibt, ich war z.B. ganz gerührt von einer Szene, in der ein kleiner Junge während einer Demonstration auf einmal seine Eltern nicht mehr wiederfinden konnte und wie „unbürokratisch“ ihm einer der Protagonisten geholfen hat ...
Gefallen hat mir auch, dass der Autor die Begrifflichkeiten benutzt, die damals verwendet wurden: Mona verdient einen Teil ihres Einkommens in einer „Schwachsinnigenschule“ - klar, im ersten Moment hält man inne und stutzt, aber das war eben der damalige Sprachgebrauch (und es gab sicherlich noch „bösere“ Worte!).
Kurz: ein großartiges Buch, von dem ich begeistert bin, was ich sehr gern weiterempfehle – und ich freue mich schon heute auf den nächsten Band!

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Veröffentlicht am 27.04.2022

Zu große Träume für das eigene Leben?

Die Buchhändlerin: Die Macht der Worte
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„Die Buchhändlerin – Die Macht der Worte“ ist der zweite Band (1. Band: „Die Buchhändlerin“) um Christa, einer jungen Frau (1951 ist sie 22 Jahre) Anfang der 1950-er Jahre in Frankfurt. Ich hatte Christa ...

„Die Buchhändlerin – Die Macht der Worte“ ist der zweite Band (1. Band: „Die Buchhändlerin“) um Christa, einer jungen Frau (1951 ist sie 22 Jahre) Anfang der 1950-er Jahre in Frankfurt. Ich hatte Christa schon durch die Nachkriegszeit begleitet und hatte dadurch keinerlei Schwierigkeiten, mich in die Geschichte einzufinden. Aber ich glaube, das Buch kann einzeln gelesen werden, denn die Autorin greift zu einem – mir bisher nicht bekannten – Stilmittel: am Anfang schreibt Christa einen „Lebenslauf“, so dass EinsteigerInnen alle wichtigen Fakten kennenlernen!
Wir verfolgen Christas Weg von 1951 – 1968: sie hat trotz aller Schwierigkeiten in der Nachkriegszeit ihr Germanistik-Studium abgeschlossen und schreibt an ihrer Doktorarbeit. Sie teilt ihre (Berufs-) Zeit zwischen Promotion und der Buchhandlung ihres Onkels auf. Christas (Privat-)Leben ist für die damalige Zeit höchst ungewöhnlich: um den 14-jährigen Heinz adoptieren zu können, ist sie eine „Scheinehe“ mit Werner eingegangen, dem Lebensgefährten ihres Onkels (zur Erinnerung: Homosexualität war damals strafbar!). Ihre große Liebe Jago hat sie zwar wiedergefunden, aber sie nimmt ihre Ehe ernst, obwohl sie ja nur auf dem Papier besteht...
Aber ich werde hier nicht die Ereignisse in Christas Leben schildern, sie geht durch Höhen und Tiefen, muss Schicksalsschläge hinnehmen, erlebt auch Positives – ja, wie das Leben eben so ist...
Ines Thorn zeichnet ein sehr gelungenes Bild von Christa inmitten der damaligen Zeit. Wir LeserInnen können uns gut mit Christa identifizieren (obwohl ich nicht jede ihrer Entscheidungen richtig fand, aber sie waren „zeitgemäß“). Es wurde mir wieder einmal deutlich, wie stark sich das Leben – besonders für uns Frauen – in den letzten 70 Jahren verändert hat: „Noch immer bestimmten die Männer. Das Geschäftskonto der Buchhandlung lief auf Werners Namen, das private ebenso, weil Frauen kein eigenes Konto haben durften. Sie durften auch ohne Erlaubnis ihrer Ehemänner nicht arbeiten.“ (S. 28)
Christa kämpft ebenfalls immer wieder dagegen, dass auch in der Literatur zwischen Frauen- und Männerbüchern unterschieden wird: Gedichte und Kochbücher für Frauen – aber Christa muss leider feststellen, dass tatsächlich viele Frauen eher zum „Der gedeckte Tisch“ als zu Ingeborg Bachmann greifen...
Christa fühlt sich in ihrem Leben nicht zu Hause, sie möchte mehr, sie möchte ihr Leben eigenständig entscheiden, kurz: sie möchte die Gleichberechtigung mit ihren jeweiligen Partnern / Ehemännern – aber sie bemerkt, dass ihre gleichaltrigen Freundinnen vollkommen andere Lebensziele haben als sie: „Und keine war wie sie.“ (S. 141)
Christa hat das Gefühl, dass sie nur für die Bedürfnisse anderer funktioniert – und mit diesem Gefühl fühlt sich sie sich nicht von ihrem Umfeld verstanden... Aber in der großen weiten Welt fangen viele Frauen an, gegen diese Reduktion auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter zu protestieren, z.B. Betty Friedan in den USA mit ihrem Buch „Der Weiblichkeitswahn“. Aber auch Christa findet Lösungsmöglichkeiten – und ich bin sehr optimistisch, dass es ihr langfristig auch gelingen wird...
Mir hat das Buch sehr gut gefallen, die Autorin hat das Zeitkolorit perfekt eingefangen - ja, die Menschen „tickten“ damals schon etwas anders.- aber sind wir doch ehrlich: ohne Frauen wie Christa hätte es vermutlich keine Frauenbewegung gegeben. Deshalb bin ich Frauen wie Christa dankbar für ihre Zweifel, ihre Zerrissenheit, ihre zwiespältigen Gefühle und Ines Thorn, dass sie dies alles so wunderbar in ihren Roman „eingebaut“ und beschrieben hat!

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Veröffentlicht am 17.04.2022

Die Inflation erreicht Gut Mohlenberg...

Mehr als die Finsternis
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Ich bekenne es von vornherein: ich bin ein großer Fan von Melanie Metzenthin, mich hat bisher keines ihrer Bücher enttäuscht! Natürlich habe ich meine „Lieblinge“ („Hafenschwester 3“ und „Im Lautlosen“) ...

Ich bekenne es von vornherein: ich bin ein großer Fan von Melanie Metzenthin, mich hat bisher keines ihrer Bücher enttäuscht! Natürlich habe ich meine „Lieblinge“ („Hafenschwester 3“ und „Im Lautlosen“) aber auch die vorliegende Mohlenberg-Reihe gefällt mir ausgesprochen gut.
„Mehr als die Finsternis“ ist nach „Mehr als die Erinnerung“ der 2. Band der Reihe, es sind weitere Fortsetzungen „in Arbeit“ - aber man kann sie auch gut getrennt voneinander lesen. Gut Mohlenberg ist eine kleine private Einrichtung für psychisch kranke Menschen in der Lüneburger Heide. Es ist das Jahr 1923, die Hyperinflation treibt auf ihren Höhepunkt zu. Obwohl sich das Gut zum größten Teil selbst versorgen kann, spüren Friederike von Aaalen, ihr Vater und die anderen Mitarbeiter den Verfall des Geldes („Allein ein Pfund Butter schlug mit fünfzigtausend Mark zu Buche, doppelt so viel wie noch vor einer Woche.“ S. 8/9). Dr. Meinhard (Friederikes Vater) hat sich als Psychoanalytiker auf die „Behandlung junger Damen aus besseren Kreisen spezialisiert, denen fernab von ihrem Wohnort geholfen werden sollte, um Gerede zu vermeiden." (S. 9) – und dafür sind die Familien nur zu gern bereit, Geld zu zahlen...
Als Friederike vom Polizeiarzt Dr. Schröder gebeten wird, sich um eine traumatisierte, junge Schwangere zu kümmern, muss sie (berechtigterweise) erst die Kostenübernahme klären, Dr. Schröder sagt zu, dass sich die Staatskasse darum kümmern würde, da sie eine wichtige Zeugin in einem ungeklärten Todesfall sei. Die zweite Patientin ist die 17-jährige Luise aus Hannover, sie reist mit ihrer Gouvernante, Fräulein Wermut, an...
Da sich die weitere Handlung als eine gelungene Mischung zwischen einem Sittengemälde der damaligen Zeit mit kriminalistischen Aspekten / Einschüben entwickelt, werde ich hier nichts über den weiteren Verlauf verraten!
Man merkt, dass die Autorin Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie ist, psychiatrische Begriffe werden locker im Text verwendet und uns Leser*innen quasi „nebenbei“ erklärt. Aber viel interessanter und faszinierender ist für mich immer, wie bildhaft die Autorin die Zeit, die Umgebung, die handelnden Menschen, die politischen Verhältnisse usw. beschreibt, gewissermaßen „zeichnet“, deshalb trifft das oben genutzte Wort vom „Gemälde“ eigentlich perfekt, man fühlt sich schnell als Teil davon.
Die Protagonisten sind sehr sympathisch, hier in diesem Buch entpuppte sich allerdings Fräulein Wermut als eine ganz große Überraschung, anfangs empfand ich sie sehr mit Vorurteilen belastet, sie entwickelte sich aber schnell zu einer bemerkens- und liebenswerten Person, über die ich gern noch mehr erfahren würde.
Zum Nachdenken hat mich ein Dialog zwischen Friederike und Fräulein Wermut gebracht: „...Das hat aber nichts mit Verachtung zu tun. Eher mit Mitleid.“ „Ist Mitleid nicht die kleine Schwester von Verachtung?“ fragt Friederike und führt weiter aus: „Man hat Mitleid mit Menschen oder Tieren, die unter einem stehen. Gleichrangigen zeigt man Mitgefühl.“ (S. 137) Ich hatte bisher noch nicht über diesen Unterschied nachgedacht, aber die Definition der Worte „Mitleid“ und „Mitgefühl“ fand ich nachvollziehbar und habe dadurch auch meine eigene Einstellung geändert.
Zusammenfassend: es war mal wieder ein schönes Leseerlebnis, auf das Gut Mohlenberg zu reisen, für das ich gern eine Leseempfehlung ausspreche – und ich freue mich auf sehr auf die weiteren Bände!

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Veröffentlicht am 14.03.2022

Von der Schwierigkeit, ein Alsterschwan zu sein...

Alsterschwan
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Regine Seemann hat mit ihrem 3. Titel „Alsterschwan“ ein Buch geschrieben, dass mir – wieder einmal – von der ersten bis zur letzten Seite ausgezeichnet gefallen hat. Ich kenne alle drei Bücher (und habe ...

Regine Seemann hat mit ihrem 3. Titel „Alsterschwan“ ein Buch geschrieben, dass mir – wieder einmal – von der ersten bis zur letzten Seite ausgezeichnet gefallen hat. Ich kenne alle drei Bücher (und habe sie sogar – oh Wunder – in der richtigen Reihenfolge gelesen!), aber die Fälle sind in sich abgeschlossen, so dass man jederzeit einsteigen kann. Aber mir bringt es auch Spaß, die Weitereinwicklung der Protagonisten zu verfolgen.
Auch diesmal müssen die Kommissarinnen Stella Brandes und Banu Kurtoglu wieder einen Fall klären, deren Ursachen und Gründe in der Vergangenheit zu suchen sind, diesmal führt der Weg zurück in die 1970-er Jahre...
Auf einer Halloween-Party bricht der 17-jährige Fynn tot zusammen, offensichtlich ermordet. Er gehört zu drei Jugendlichen, die schon seit einigen Wochen vermisst sind. Eine echte Herausforderung für das Team um Banu und Stella, da es kaum Hinweise gibt, einzig der Mops Werther scheint während der Halloween-Party etwas bemerkt zu haben: „...und war die ganze Nacht nicht zu Hause. Am Sonntagmorgen kam er zurück und ist seitdem so anders. Er frisst nicht, auch keine Leckerlis, und liegt nur in seinem Korb rum. Er ist richtig depressiv.“ (S. 44) Aus Mangel an weiteren Zeugen begleiten Banu und ein Kollege Werther und sein „Frauchen“ zum Hundepsychologen... Bei der Beschreibung der Szene beim Hundepsychologen habe ich sehr schmunzeln müssen und konnte Banus Bedenken durchaus nachvollziehen, wie man der Staatsanwältin erkläre könne, dass „:ihr wichtigster Zeuge im Tötungsdelikt Fynn Benner ein Mops war.“ (S. 45)
Aber keine Sorge, Werther wird zwar erneut noch einmal ein wichtiger Hinweisgeber, aber letztendlich schaffen es Banu, Stella und ihre Kollegen es auch, ohne Hund den Fall aufzuklären – nachdem sie auch Hinweise aus einem abgebrannten Ferienheim der 1970-er Jahre in ihre Ermittlungen einbeziehen...
Mir hat die Kombination aus einem spannenden Krimi und den Einschüben aus dem Privatleben von Stella und Banu gut gefallen, besonders gefreut hat mich, dass Banus Tochter Merve hier ein eigenes Kapitel bekommt, so habe ich endlich erfahren, wie Merve die Beziehung zu ihrer Mutter einschätzt. Und Stella (oh Pardon: Frau Seemann) hat mir aus der Seele gesprochen, als sie sich über die „dummen Fehler“ der meist weiblichen Kommissarinnen mokiert: „Wahlweise verabredeten sie sich mit dem mutmaßlichen Täter, gingen allein dunkle Wege oder betraten in der Nacht die Häuser der Verdächtigen, ohne ihr Handy mitzunehmen, oder nahmen es mit, nur um dann festzustellen, dass der Akku leer war, oder sie verloren es mitten im Einsatz. Zusätzlich war dann auch meist die Taschenlampe kaputt und die Dienstwaffe zu Hause oder nicht geladen.“ (S. 132) – oh ja!
Die Auflösung ist überraschend, aber folgerichtig und logisch, so dass ich das Buch sehr befriedigt zuklappen konnte! Ich habe irgendwo gelesen, dass im April 2022 das nächste Buch der Autorin erscheinen soll – hoffentlich stimmt's!
Zum Titel der Rezension: ich schreibe manchmal meine Rezensionen unter dem Pseudonym „Alsterschwan“, in diesem Zusammenhang etwas peinlich, denn DAMIT (den Ereignissen im abgebrannten Ferienheim) möchte ich nicht in Verbindung gebracht werden... neugierig geworden? Es wird im Buch geklärt – und ich kann es wirklich mit gutem Gewissen wärmstens empfehlen!

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Veröffentlicht am 08.03.2022

Mord oder Selbstmord?

Leipziger Zeitenwende
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Gregor Müller hat mit „Leipziger Zeitenwende“ seinen zweiten Krimi um den Kriminalcommissar Joseph Kreiser geschrieben, der 1899 in Leipzig tätig ist. Den ersten Roman „Völkerschau“ kannte ich nicht, bin ...

Gregor Müller hat mit „Leipziger Zeitenwende“ seinen zweiten Krimi um den Kriminalcommissar Joseph Kreiser geschrieben, der 1899 in Leipzig tätig ist. Den ersten Roman „Völkerschau“ kannte ich nicht, bin aber vollkommen problemlos eingestiegen, da die Romane in sich abgeschlossen sind.
Eigentlich soll Joseph Kreiser die Fälschungen der sog. „Lotto-Bande“ bearbeiten, die falsche Lottoscheine in den Umlauf bringt, das sagt zumindest sein Chef... Aber auf dem Rückweg von seinen Ermittlungen kommt er an einer „Leichenaufhebung“ (ein großartiges altes Wort, kannte ich noch nicht: ein Kriminalcommissar muss die Leiche untersuchen, erst dann kann sie „aufgehoben“ werden) vorbei, die Joseph kurzerhand übernimmt – zum einen um den Schutzmann Welm weiteres Herumstehen in der eisigen Kälte zu ersparen, zum anderen aus purer Neugier (vermute ich mal) ... Es sieht so aus, als habe eine junge Prostituierte Selbstmord begangen.
Sehr gut und erschütternd eindringlich fand ich Josephs Besuch in der „Zwangsarbeitsanstalt“ beschrieben, wo er der Mutter der jungen Frau persönlich deren Tod mitteilen möchte. Von dieser Mutter berichtet der Anstaltsleiter: „Nachdem sie sich eingewöhnt hatte, hat sie kaum noch Probleme bereitet. Sie ist eher aus Rat- und Führungslosigkeit in einen liederlichen Lebensstil verfallen als aus vollkommener Verrohtheit des Charakters wie viele andere.“ (S.63/64) Zur Erinnerung: wir schreiben das Jahr 1899...
Und es geschehen noch mehr Selbstmorde – oder waren es doch Morde?
Der Autor hat zu einem interessanten Stilmittel gegriffen, das ich bisher noch nicht kannte: er lässt Joseph seiner Vermieterin Hannah Kaiser am Abend seinen Tag, seine Gedanken und seine Schlussfolgerungen genau berichten, so dass wir Leser/innen immer „dabei“ sind.
Die Zusammenarbeit mit dem Staatsanwalt Gustav Möbius ist von gegenseitigem Respekt und Vertrauen geprägt, denn im Gegensatz zu seinem Chef erhält Joseph vom Staatsanwalt auch (gedankliche) Unterstützung.
Der Kriminalfall an sich ist schon spannend, aber einen Teil der Faszination dieses Buches machte für mich sicherlich auch der sorgsam recherchierte geschichtliche Teil aus. Wir erleben ein authentisches Leipzig von 1899: wir erfahren viel über das tägliche Leben, Zusammenhänge, politische Strömungen (wie schnell konnte jemand in bittere Armut abstürzen!), Kaisertreue usw. Bei vielen Gedankengängen konnte ich Vergleiche zur heutigen Zeit ziehen, z.B.: „Je höher die Herzen für das Vaterland schlugen, desto mehr Platz schien darin für Hass auf alles Fremde zu sein. Anscheinend war es nicht möglich, die eigene Nation zu lieben, ohne die anderen zu verabscheuen.“ (S. 160)
Wirklich, eine gelungene Kombination von Krimi und historischer Darstellung, die das Buch unterhaltsam macht und durch den gelungenen Schreibstil auch flüssig zu lesen ist. Ich werde mit Sicherheit den ersten Band „Völkerschau“ lesen, dann bin ich informiert, wie alles begann – und hoffe auf weitere Bücher dieses Autors! Die „Leipziger Zeitenwende“ kann ich allen Liebhaber/innen von historischen Kriminalfällen nur allerwärmstens empfehlen!

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