Ein Epos an atmosphärischer Detailverliebtheit und zwischenmenschlichen Beziehungen, der einen in eine Kleinstadt um 1830 entführt.
MiddlemarchDie Grenzen des Dorfes sind die Grenzen unserer Welt. Das akzeptieren vielleicht die restlichen Bewohner von Middlemarch, aber nicht Dorothea und Tertius. Wieso sollte einer jungen Frau der Zugang zu Wissen ...
Die Grenzen des Dorfes sind die Grenzen unserer Welt. Das akzeptieren vielleicht die restlichen Bewohner von Middlemarch, aber nicht Dorothea und Tertius. Wieso sollte einer jungen Frau der Zugang zu Wissen und Geist verschlossen bleiben, wenn die alten Männer damit nur Schindluder treiben? Und warum sollte ein junger Arzt nicht neue Methoden anwenden dürfen, wenn man dadurch Menschenleben retten kann? Neugier ist Pflicht für Dorothea und Tertius. Und um ihre Pflicht zu erfüllen, setzen sie vieles aufs Spiel... (Klappentext)
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"Nichts auf der Welt ist so unaufdringlich wie der Prozess dieses allmählichen Wandels! Am Anfang atmeten sie ihn ohne Wissen ein; du und ich, wir haben sie vielleicht etwas mit unserem Atem angesteckt, wenn wir unsere falschen Zustimmungen äußerten oder unsere dümmlichen Schlußfolgerungen zogen; oder vielleicht kam es mit den Schwingungen aus dem blick einer Frau."
(S. 201)
Man begleitet hier drei Paare, die in einer Kleinstadt namens 'Middlemarch' ihrem Schicksal begegnen.
Dorothea Brooke, die eine Ehe mit dem viel älteren und konservativen Gelehrten Mr. Casabaun eingeht.
Ihre Beweggründe waren jedoch weniger romantischer Natur, sondern um ihn bei seiner Arbeit zu unterstützen und dadurch nebenbei alles Wissen aufzusaugen. Mr. Casabaun jedoch wollte im Grunde nur eine bessere Sekretärin und Vorleserin, die ihn und seine Arbeit anhimmelt.
Anfangs scheint diese Ehe zu funktionieren. Dorothea unterwirft sich ihm, macht alles für ihn um ihn glücklich zu machen, denn wenn er glücklich ist, ist auch sie glücklich. Bis sein Mündel und Vetter Will Ladislaw die Bühne betritt und Dorothea es wagt ihren Ehemann das erste Mal zu kritisieren.
Selbst nach seinem frühen Tod möchte Mr. Casabaun das Leben Dorotheas kontrollieren und scheint es auch zu schaffen.
Dann lernt man den jungen Arzt Tertius Lydgate kennen, der neu in der Kleinstadt ist und große Pläne hat. Er möchte die neuesten erlernten medizinischen Methoden nach Middlemarch bringen und seine Forschungen vorantreiben. Er ist dafür bereit ohne Bezahlung im Krankenhaus zu arbeiten und möchte sein Leben einzig seiner Forschung widmen.
Bis Rosamond in sein Leben tritt. Sie kommt aus gutem Hause, ist wunderschön und entspricht ganz seinem konservativen Frauenbild. Doch Rosamund ist nur das Beste vom Besten gewohnt, verwöhnt, eingebildet und sieht in ihm vor allem die Möglichkeit in der Gesellschaft aufzusteigen, damit alle anderen vor Neid platzen.
Die rasche Ehe beruht eher auf einem Missverständnis, in das Tertius hineinstolpert, doch das ist nicht der einzige Grund, weshalb diese Ehe zum Scheitern verurteilt ist. Während er nicht vorhandenes Geld verprasst, um alle Wünsche Rosamondes zu erfüllen, hat er nämlich nicht nur mit dem Widerstand der alteingesessenen Ärzte zu kämpfen.
Dann hätten wir da noch Mary Garth, eine kluge und empathische junge Frau aus bürgerlichem Haus, die mit beiden Beinen fest im Leben steht, sich nicht so leicht blenden oder um den Finger wickeln lässt und konkrete Vorstellungen hat, wie ihr Ehemann zu sein hat.
Ihr Kind- und Jugendfreund Fred Vincy ist das Gegenteil - aus der Oberschicht, ein kleiner Hansdampf, der noch nicht so recht weiß wo er steht und was er will. Er ist unsterblich in Mary verliebt, doch bevor sie ihn heiratet, muss er sich erst bewähren und sein Leben grundlegend ändern.
"Dies war es, was Dorothea so kindlich machte und, einigen Urteilen zu folgen, so dumm bei all der Klugheit, die man ihr nachsagte; wie zum Beispiel gerade jetzt, wo sie sich - bildlich gesprochen - Mr. Casabaun zu Füßen warf und seine unmodischen Schnürsenkel küsste, als wäre er ein protestantischer Papst."
(S. 78)
Schon alleine die Geschichten dieser drei Paare könnte Bücher füllen, doch die Autorin Mary Ann Evans beschränkt sich nicht nur auf diese sechs Protagonisten.
Es ist auch kein, wie viele nun eventuell vermuten, Liebesroman, denn die Liebe und Romantik spielen hier eher eine untergeordnete Rolle. Viel mehr ist es eine soziologische Gesellschaftsstudie in einer Zeit des Umbruchs.
Der Beginn von etwas Neuem, welches das Alte langsam verdrängt, eine neue Generation wächst heran und ist dabei mit alten Traditionen und veraltetem Wissen zu brechen. Es ist eine Geschichte der gesellschaftlichen Emanzipation.
Mit Feminismus hat das Buch also nur wenig zu tun, auch wenn das oft und gerne als Marketingaufhänger benutzt wird.
Dies wird vor allem klar, wenn die Autorin auf die damaligen politischen Ereignisse eingeht, wie zum Beispiel die Reformation (Reform Act 1832) oder in Bezug auf die damalige Ökonomie und beginnende Industrialisierung.
"Im Kreisbezirk, zu dem Middlemarch gehörte, war die Eisenbahn ein ebenso aufregendes Thema wie das Reformgesetz oder die drohenden Schrecken der Cholera, und vor allem die Frauen und die Gutsbesitzer hatten darüber die ausgeprägtesten Ansichten."
(S. 733)
Doch auch vom psychologischen Standpunkt aus betrachtet enthält dieses Buch ganz großes Kino, stehen doch vor allem zwischenmenschliche Beziehungen im Vordergrund und das Schicksal ist hier ein ganz großes Thema.
Wie reagieren die einzelnen Figuren auf Schicksalsschläge, wie werden sie damit fertig zu scheitern und wie gehen sie daraus hervor? Im Verlauf entwickeln sich die Figuren, ob nun positiv oder negativ, ergo auch hier geht es um die Entwicklung.
Wer nun denkt, dies wird auf trockene Art und Weise an die Leserschaft gebracht, der irrt gewaltig.
Man taucht in eine typische Kleinstadtwelt ein, eine Welt voller Klatsch und Tratsch, Missgunst und Neid und politischen und familiären Intrigen, inklusive Erbschleicherei. Es kommt zu spannenden, tragischen und traurigen Momenten, sowie überraschenden Wendungen.
Die Figuren sind vielschichtig gezeichnet, selbst Nebenfiguren enthalten Tiefe und die ein oder andere sorgt auch für ein Schmunzeln.
Auf den ersten Blick waren mir die meisten Figuren, allen voran Dorothea, eher unsympathisch, doch hier ist keine Figur nur schwarz oder weiß gezeichnet und dadurch kommt die Entwicklung im Verlauf der Geschichte jedes einzelnen umso mehr zur Geltung.
Jede Figur, und mag sie noch so unwichtig erscheinen, ist ein wichtiger Bestandteil in dieser Geschichte. Im Verlauf greifen alle Zahnrädchen ineinander und ergeben ein großes Ganzes. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass eine nur sporadisch auftretende Figur auf jeden einzelnen Protagonisten im Städtchen Middlemarch Einfluss hat, um einige schließlich in den Abgrund zu reißen.
"Doch jeder, der genau die geheimnisvollen Wege beobachtet, die die menschlichen Schicksale zusammenführen, sieht, wie sich ganz langsam die Einflüsse des einen Lebens auf ein anderes ankündigen, was die Gleichgültigkeit oder den kalten Blick, mit dem wir einen noch fremden Nachbarn anstarren, fast als eine wohlberechnete Ironie ausweist. Das Schicksal steht voll Sarkasmus daneben und hält die Fäden unserer 'dramatis personae' fest in der Hand."
(S. 136)
Wenn man zeitgenössische Romane gewohnt ist, ist der Schreibstil der Autorin anfangs etwas gewöhnungsbedürftig, was jedoch bei allen Klassikern aus dieser Epoche der Fall ist.
Ich musste mich, wie immer, erst an die langen Schachtelsätze gewöhnen, doch nach nur paar wenigen Seiten war ich in der Geschichte gefangen.
Die Autorin macht es einem aber auch leicht, da sie zwischendurch auch trockenen Humor und Sarkasmus einstreut.
Zwischendurch wendet sie sich dabei an den/die LeserIn selbst und jedes Kapitel wird durch ein Motto eingeleitet. Viele davon stammen aus ihrer eigenen Feder.
Doch auch der Übersetzer Rainer Zerbst hat hier hervorragende Arbeit geleistet.
"Bei Frauen erwartete man keine festen Überzeugungen; überhaupt bestand die beste Garantie für Gesellschaft und Familienleben darin, dass man überhaupt nicht nach seinen Überzeugungen handelte. Vernünftige Leute taten, was ihre Nachbarn taten, sodass man Verrückte, falls irgendwelche auf freiem Fuß waren, erkennen würde und ihnen aus dem Weg gehen konnte."
(S. 24)
Ich äußere mich nur selten über die Aufmachung eines Buches, doch hier muss es einfach sein, denn der dtv-Verlag hat hier großartige Arbeit geleistet. Wunderschöne Umschlaggestaltung und das qualitativ hochwertige Hardcover mit Lesebändchen sind ein wahrer Augenschmaus.
So macht es gleich nochmal so viel Spaß in diesem Buch zu lesen, möge es noch so schwer sein. Zudem ist es dadurch ein toller Hingucker im Bücherregal. Vor allem bei Klassikern greife ich daher gerne zu solchen HC-Ausgaben, da diese in meinen Regalen bleiben dürfen.
Da der dtv-Verlag vor allem in Bezug auf Literaturklassiker mein absoluter Favorit ist, hätte ich nichts dagegen, wenn mehr Klassiker in dieser wunderschönen Aufmachung erscheinen würden.
Wie jeder Literaturklassiker aus dem dtv-Verlag, enthält auch diese Ausgabe ein interessantes Vorwort, diesmal von Elisabeth Bronfen, und ein ebenso interessantes wie auch informatives Nachwort des Übersetzers Rainer Zerbst. Da das Vorwort jedoch gewaltig spoilert, sollten diejenigen, die "Middlemarch" noch nicht kennen, dieses erst am Ende lesen.
Zum besseren Verständnis sind natürlich auch reichlich Fußnoten mit Anmerkungen vorhanden.
Auch dies alles Gründe, weshalb ich bevorzugt Klassiker aus dem dtv-Verlag wähle und weil hier wirklich gute ÜbersetzerInnen am Werk sind. Bei Letzterem bin ich nämlich wirklich etwas pingelig.
Fazit:
Einen Monat hab ich an diesem Wälzer von 1152 Seiten gelesen. Obwohl dieser durchaus ein paar Längen enthält, die politischen Ereignisse waren mir manchmal doch etwas zu trocken, reiste ich immer wieder gerne in das Städtchen Middlemarch und verfolgte gespannt Klatsch und Tratsch, Intrigen und vor allem die unterschiedlichen Entwicklungen der Figuren.
Wie gerne würde ich all das Gelesene wieder vergessen, um alles wieder neu lesen und entdecken zu dürfen.
© Pink Anemone (mit vielen Bildern aus dem Buch, Leseprobe und Autoren-Info)