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Veröffentlicht am 03.05.2020

How Not to Diet

How Not to Diet
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Ich interessiere mich ja sehr für Ernährung, vor allem deshalb, weil ich chronisch krank bin und gemerkt habe, dass es mir besser geht, wenn ich nicht nur Müll in mich hinein stopfe.

Leider bin ich mit ...

Ich interessiere mich ja sehr für Ernährung, vor allem deshalb, weil ich chronisch krank bin und gemerkt habe, dass es mir besser geht, wenn ich nicht nur Müll in mich hinein stopfe.

Leider bin ich mit den meisten Ratgebern nicht zufrieden, denn oft steht nur eine Ernährungsform im Vordergrund, die angepriesen und als einzig wahre Lösung verkauft wird. Deren Jünger:innen springen dann auf alle, die eine andere Meinung vertreten.

Mein letzter Ausflug ging in Richtung intuitives Essen, was ich weiterhin nicht schlecht finde. Das dazugehörige Buch hat mich aber leider überhaupt nicht überzeugt. Vor allem der offensichtliche Versuch, ordentlich Geld mit Programmen und Produkten zu scheffeln, hat mich abgeschreckt. Umso schöner, dass Greger das Geld, das er mit seinen Büchern einnimmt, komplett spendet!

"How Not to Diet" ist ein ganz schön dicker Wälzer geworden. Der Autor liefert wahnsinnig viele Infos, rattert eine Studie nach der anderen runter, wirft mit Fachbegriffen um sich und geht verschiedene Diätformen und deren Nutzen durch.

Anfangs geht es viel um den Schrott, den wir so essen. Dabei wird sich hauptsächlich auf die erschreckende Ernährungssituation in den USA bezogen, aber auch bei uns gibt es Nachholbedarf, was Zucker-, Salz- und Fettmengen angeht.

Interessant finde ich, dass Greger sehr scharf gegen die Lebensmittelindustrie schießt, die ja darauf angewiesen ist, dass Menschen immer mehr essen, damit sich die Gewinne stetig steigern. Er bezeichnet Übergewicht als normale Reaktion des Körpers auf eine unnormale Welt. Denn früher war noch nicht abzusehen, dass man einen fertigen Kuchenriegel ohne großen Aufwand einfach so jederzeit kaufen kann - und der Körper sucht nun mal automatisch nach kalorienreichen Lebensmitteln. Der Autor nimmt die Schuld und den Druck vom Einzelnen und sieht unter anderem auch das System kritisch und die Regierung in der Pflicht.

Die Tipps zur gesunden Ernährung haben mir gefallen, auch wenn natürlich manches - wie z.B. viel Gemüse - klar sein sollte. Es werden aber auch Superfoods wie Chia- und Leinsamen unter die Lupe genommen.

Spannend ist sicher für viele auch, dass beim Essen nicht nur das Was, sondern auch das Wie und sogar das Wann zählen. Von Chronobiologie hatte ich tatsächlich noch nichts gehört!

Ernährung ist eben am Ende wahnsinnig kompliziert und wir lernen immer wieder Neues dazu.

"How Not to Diet" liefert den aktuellen wissenschaftlichen Stand und ist auf jeden Fall empfehlenswert.

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Veröffentlicht am 03.05.2020

Das wirkliche Leben

Das wirkliche Leben
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CN: häusliche Gewalt, psychische Gewalt, Tierquälerei (viel davon... damit hatte ich nicht gerechnet)


Dieses Buch hat mich komplett gefesselt und ich habe es fast in einem Rutsch durchgelesen. Und ich ...

CN: häusliche Gewalt, psychische Gewalt, Tierquälerei (viel davon... damit hatte ich nicht gerechnet)


Dieses Buch hat mich komplett gefesselt und ich habe es fast in einem Rutsch durchgelesen. Und ich bin ganz froh, dass es nicht allzu dick ist, denn die Geschichte hat mich doch ziemlich mitgenommen.

Die namenlose Ich-Erzählerin lebt mit ihren (ebenfalls namenlosen) Eltern und dem kleinen Bruder Gilles zusammen. Der Vater ist ein Tyrann, der die Mutter schlägt und immer wieder Wutanfälle bekommt. Alle im Haus haben Angst vor ihm und laufen wie auf Eierschalen, um ihn nicht zu reizen.

Als eines Tages die Sahnemaschine des Eisverkäufers explodiert und ihm vor den Augen der Kinder das halbe Gesicht wegsprengt, bemerkt die Protagonistin eine Veränderung in ihrem Bruder. Aus dem lieben Jungen mit dem hübschen Lachen wird ein zurückgezogener Tierquäler, der später auch anfängt, die große Leidenschaft des Vaters (die Jagd) zu teilen. Die Protagonistin kennt nur eine Lösung: sie muss in der Zeit zurückreisen, um diesen Tag ungeschehen zu machen. Voller Hoffnung stürzt sie sich in die Physik. Dabei vergehen die Jahre und die Lage zuhause spitzt sich zu...

Das Thema häusliche Gewalt - grade Gewalt gegen Frauen - ist eines, das mich sehr umtreibt. Ich habe mich in letzter Zeit viel damit beschäftigt und darüber gelesen, grade auch zur Psychologie dahinter. Darum hatte ich anfangs schon die Befürchtung, das Buch würde in die typischen Klischees abrutschen. Die Protagonistin verachtet ihre Mutter dafür, dass sie sich so behandeln "lässt" und nie den Mut hat, für sich einzustehen. Sie wird immer wieder als "Amöbe" und als "Nichts" bezeichnet. Als der Vater seine Tochter jedoch einmal geistesabwesend "mein Schatz" nennt, glüht sie vor Freude. Das war für mich echt kaum erträglich. Zum Glück löst sich das alles später dann jedoch ein wenig auf. Die Protagonistin kommt selbst in die Situation gelähmt vor Angst, "das Nichts" und "die Amöbe" zu sein und kann ihre Mutter etwas besser verstehen. Die beiden entwickeln sogar eine kleine Verbindung und die Mutter hat tatsächlich Interessen und Wissen. Ein "Nichts" ist sie also nicht!

Trotzdem hätte ich mir noch ein ganz kleines bisschen mehr Einordnung gewünscht. Gewaltbetroffene Frauen müssen sich immer wieder Fragen lassen, warum sie das denn mitmachen (oder so lange mitgemacht haben). Dabei wird ausgeblendet, dass da ja oft eine sehr lange Zeit der psychischen Manipulation vorausgegangen ist. Die Frauen sind oft isoliert und wissen nicht wohin. Viele sind auch finanziell abhängig. Oft glauben sie, selbst Schuld zu sein, es zu verdienen, schämen sich. Und was auch oft vergessen wird: die Zeit um die Trennung herum ist die mit Abstand Gefährlichste für diese Frauen!

Die Mutter in der Geschichte hatte also auch ihre Gründe dafür, dieses Leben zu führen und ich hätte gerne mehr über sie erfahren, z.B. wie sie den Mann kennengelernt hat und wie es damals zur Hochzeit gekommen ist.

Die Ich-Erzählerin wird in den Lobgesängen für das Buch oft als stark beschrieben. Wahrscheinlich deshalb, weil sie sich "männlicher" Interessen bedient (Mathe, Physik) und immer wieder betont, dass sie nicht so werden will, wie ihre Mutter. Dabei fand ich sie grade in ihrer Schwäche großartig. Sie muss nämlich feststellen, dass auch sie sich nicht gegen den Vater wehren kann, weil der nun mal einfach körperlich viel stärker ist, als ein kleines Mädchen. Außerdem trägt sie eine ziemliche Arroganz in sich, weil sie klüger ist als andere - was wunderbar in das Gesamtbild dieses Charakters passt. Sie hat keine Freunde und wertet die anderen in der Schule immer wieder ab, um sich selbst aufzuwerten. Und irgendwie ist das auch typisch Teenie!

Hinten auf dem Buch steht etwas davon, dass sie sich "aus der weiblichen Opferrolle befreit". Da kann die Autorin wohl nichts für, aber das finde ich eine absolute Frechheit. Erstmal: weibliche Opferrolle? Was ist das? Und was ist eine männliche Opferrolle, wenn es die gibt? Außerdem spielt hier niemand eine Rolle! Die Frauen in diesem Buch sind wirklich Opfer und es wäre so schön, wenn dieser Begriff nicht so negativ besetzt wäre. Die Protagonistin sagt am Ende selbst, dass sie kein Opfer sein will, wie so viele Menschen, denen Gewalt angetan wurde. Aber warum eigentlich nicht? Wie konnte es so weit kommen, dass der Begriff als so schlimm empfunden und mit Passivität und Schwäche verbunden wird? Und: Wo kein Opfer ist, weil sich alle "befreien", gibt es dann überhaupt noch einen Täter? Das sind nur so meine Gedankengänge dazu, ich weiß es leider selbst nicht.

Übrigens, kleiner Spoiler: Ich fand nicht, dass sie sich am Ende selbst befreit hat. Aber wer weiß, wie andere das interpretieren.

Der Wissensdurst der Protagonistin hat mir gefallen. Ich mochte ihre Sitzungen beim alten Physiker. Ihre Motivation den kleinen Bruder zu retten, ist allerdings nichts Neues. In Büchern (und anderen Medien) werden Mädchen immer wieder zu Heldinnen, weil es um ihre Familie geht, selten um ihrer selbst willen. (Bekanntestes Beispiel Katniss, die sich freiwillig als Tribut meldet, um ihre Schwester zu beschützen.)

Die Geschichte der Frau des Physikers, hat mich zutiefst berührt. Auch hier spielt wieder geschlechtsspezifische Gewalt eine Rolle und ich musste richtig weinen. Das passiert mir so selten beim Lesen!

Eine Sache auf die ich hätte verzichten können, war die Sexszene. Die Protagonistin arbeitet als Babysitterin für ein junges Paar, die sie "die Feder" und "der Champion" nennt. Sie steht auf letzteren und dabei ist es ihr egal, ob sie erstere mag. Es kündigte sich schon eine Weile an, doch ich hatte trotzdem gehofft, dass die Autorin darauf verzichtet. Ein erwachsener Mann schläft also mit einem Teenie-Mädchen und mir persönlich dreht sich da komplett der Magen um. Das ist überhaupt nicht mein Ding, egal, ob es einvernehmlich war.

Der Schreibstil ist übrigens toll. Simpel, um die Kindlichkeit der Protagonistin zu unterstreichen und doch sehr fantasievoll. Das hat mir richtig gut gefallen. Hinzu kommt die bedrückende Stimmung, die Angst vor dem, was als nächstes passiert, weil man da schon so eine Ahnung hat... Man will das Buch weglegen und kann doch nicht aufhören zu lesen.

Insgesamt muss ich einfach sagen, dass mich die Geschichte total erreicht hat. Es ist aber verdammt harter Tobak und ich lag gestern noch lange wach und habe darüber nachgedacht. Und die besten Bücher sind doch die, die richtig nachhängen und auch nach der letzten Seite nicht loslassen wollen!

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Veröffentlicht am 07.04.2020

Prinzessinnenjungs

Prinzessinnenjungs
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Fast alle von uns kannten oder kennen doch wenigstens einen Prinzessinnenjungen.

Prinzessinnenjungs, das sind die, die Glitzer mögen, sich die Kleider ihrer Schwestern anziehen und bunte Nägel toll finden. ...

Fast alle von uns kannten oder kennen doch wenigstens einen Prinzessinnenjungen.

Prinzessinnenjungs, das sind die, die Glitzer mögen, sich die Kleider ihrer Schwestern anziehen und bunte Nägel toll finden. Ich behaupte: Prinzessinnenjungs, das sind so gut wie alle Jungs. Denn eigentlich mögen doch alle Kinder Glitzer, flatternde Kleider und bunte Farben. Allerdings bremsen wir diese Interessen bei Jungs in der Regel aus, sobald sie aufkommen.

Nils Pickert ärgert dieser Umstand so sehr, dass er ein ganzes Buch dazu geschrieben hat. Und dabei geht es eben nicht nur um Jungs, die auf pinke Schleifen stehen (und warum das eben nicht "schwul macht"), sondern auch um die Auswirkungen unseres aktuellen Bildes von Männlichkeit. Dieser kritische Blick ist dringend notwendig.

Viel zu oft habe ich in Supermärkten mitbekommen, wie einem Jungen das rosa "Mädchen-Ü-Ei" von einem entsetzten Vater aus der Hand gerissen wird. Viel zu oft höre ich auf Spielplätzen und an Stränden ein "wirf nicht wie ein Mädchen".

Pickert beginnt ganz vorn, nämlich dort, wo eigentlich noch überhaupt kein Mensch geboren wurde, sondern jemand schwanger ist. Denn schon zu diesem Zeitpunkt geht es hauptsächlich um das eine: welches Geschlecht wird das zukünftige Kind haben? Sobald das klar ist, fangen wir im Kopf schon mal mit den Zuschreibungen an, Freunde und Verwandte richten ihre Geschenke danach aus, alles wird entweder rosa oder hellblau. Wenn man mal genauer drüber nachdenkt eigentlich vollkommen absurd. Alle Farben sind für alle da! Und nichts ist so einfach und binär, wie wir es gern hätten, schon gar nicht so etwas Kompliziertes wie die geschlechtliche Identität.

Dem Autor ist es bei seinen Ausführungen wichtig, sich nicht gegen Eltern zu stellen. Er betont immer wieder, dass Vorurteile und Unbehagen ein Stück weit normal sind und eben einfach nur mal genauer betrachtet werden müssen. Das war mir anfangs ein wenig zu vorsichtig, aber im Nachhinein verstehe ich es als Versuch, diese Themen auch einer breiteren Masse zugänglich zu machen.

Sehr gut gefallen hat mir der kompromisslose Umgang mit Homosexualität, die hier als nicht verhandelbar gilt. Pickert schildert eine Situation mit seinem Sohn und dessen Freunde im Auto. Einer benutzt "schwul" als Schimpfwort, Pickert hadert mit sich und überlegt, ob er nun was sagen soll oder nicht. Denn er will seinem Sohn den Tag nicht verderben. Am Ende ist das Thema aber eben doch zu wichtig und er erklärt, warum das nicht in Ordnung ist. Leider kommt die Bisexualität wie so oft zu kurz und wird nur mal am Rande erwähnt. Dabei haben grade bi Männer immer das Problem, für "heimlich doch schwul" gehalten zu werden. Lesbische und bisexuelle Frauen kommen gar nicht vor. Das erscheint in einem Buch über Jungs auch erstmal logisch. Allerdings geht es hier eben auch um bestimmte Männlichkeitsbilder und den Blick der hetero Männer. Da wäre ein kleiner Satz über die Sexualisierung queerer Frauen schon angebracht gewesen.

Das Thema Gewalt bekommt viel Raum. Es geht darum, wie normal wir gewaltätige Jungs und Männer finden, um die Gewalt, die Männer Frauen antun, um die, die Männer Männern antun und natürlich auch um die, die Frauen Männern antun. Dem meisten kann ich wirklich zustimmen und ja, natürlich ist die Ohrfeige einer Frau auch Gewalt und nicht in Ordnung. Allerdings schreibt Pickert davon, dass wir im Glauben aufwachsen, Frauen wären eh nicht so stark und naja, zumindest durchschnittlich stimmt das nun mal auch. Das heißt aber natürlich trotzdem nicht, dass Frauen nie Gewalt ausüben und Männer nie Opfer sein können.

Immerhin, bei all diesen Themen behält der Autor die Zahlen und Machtgefälle im Blick und versucht nicht, Gewalt gegen Frauen klein zu reden (tatsächlich hat er eine sehr starke Abneigung gegen den typischen Whataboutismus der Männerfraktion, die immer dann mit Gewalt gegen Männern kommen, wenn es eigentlich grade um Frauen geht), bzw. bringt alles irgendwie mit unseren Männlichkeitsvorstellungen zusammen. Es wird sogar privat und Pickert nennt immer mal wieder Beispiele aus seiner eigenen Sozialisation und Erziehung. Er spricht offen darüber, was das mit ihm gemacht hat und welche Probleme er bis heute hat. Dadurch wird so manches ein wenig verständlicher und greifbarer.

Wir werden gebeten, Weiblichkeit nicht abwertend zu benutzen und einzugreifen, wenn unsere Jungs das tun. Hier hat mir allerdings ein kleiner Exkurs gefehlt. Warum ist weiblich sein das Schlimmste, was sich viele Jungs und Männer vorstellen können? Woher kommt das? Warum ist "du Mädchen" eine Beleidigung, "du Junge" aber nicht? Tatsächlich gelten als weiblich konotierte Dinge ja oft als oberflächlich, albern und dumm und das Ganze ist so schlimm, dass sich selbst manche Frauen gezwungen sehen, sich von ihrem eigenen Geschlecht abzugrenzen (man denke nur mal an die "Ich bin halt nicht so wie die anderen/typischen Frauen/Mädchen" Fraktion... auch Männer sagen "wow, du bist echt nicht wie andere Frauen" und meinen das auch noch als Kompliment). Vermutlich hätte das den Rahmen des Buches gesprengt, aber ich glaube, dass man durch solche Informationen ein größeres Aha-Erlebnis bei den Leser:innen rauskitzeln kann.

Es gibt viele weitere Themen, wie Aufklärung, Sex und Pornokonsum, Einvernehmlichkeit, Haushalt und Mental Load, Freundschaft und und und. Für mich war da zwar nicht ganz so viel Neues dabei, insgesamt ist vieles aber wirklich gut erklärt und grade auch für Neueinsteiger:innen in Sachen Feminismus sicher interessant.

Drei Kritikpunkte habe ich aber noch, für die ich einen Stern abziehe: Zum einen ist nicht ein mal die Rede von trans Jungs bzw. generell trans Identität. Wenn es schon darum geht, dass Homosexualität nicht abgewertet werden soll, muss es auch ums Transsein gehen und dass auch das legitim und nicht verhandelbar ist.

Außerdem kam mir die Eigenverantwortung der Männer zu kurz (die von Frauen ja immer so vehement verlangt wird). Ich habe immer noch zu häufig den Eindruck, dass einige Männer eben doch irgendwie von der aktuellen Situation (oder gar von vergangen Zeiten, die sie sich zurückwünschen) profitieren und gar keine Veränderung möchten. Sie sind eben nicht nur Opfer eines engen Korsetts an Männlichkeitsvorstellungen, sondern auch so oft Täter und Aufrechterhalter und Reproduzierer. Das wird zwar sehr zaghaft angerissen, war mir aber nicht deutlich genug. Da ja auch immer wieder betont wird, dass es im Buch nicht darum gehen soll, Jungs und Männer schlecht zu machen (was ich auch richtig und wichtig finde), wurde sich um manches ein wenig drum herum geschrieben.

Und dann gab es noch ein paar Wiederholungen, die mich ein bisschen gestört haben. Ich weiß ja, sowas kann helfen, Dinge zu verinnerlichen. Ich finde es auch in Ordnung, wenn der Autor einmal öfter darum bittet, dass Eltern ihrem Jungen bitte nicht das Lächeln aus dem Gesicht wischen sollen, wenn er ein "Mädchenspielzeug" haben möchte. Aber ich glaube, man kann der Leser:innenschaft hier schon zutrauen, dass sie es nach ein oder zwei mal verstanden hat.

Trotzdem ein sehr lesenswertes Buch, das mich immer mal wieder zum Nachdenken gebracht hat!

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Veröffentlicht am 23.03.2020

Großartig

Miracle Creek
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Es wäre falsch zu behaupten, dass mich "Miracle Creek" von der ersten Seite an gefesselt hat. Tatsächlich brauchte ich erstmal ein kleines bisschen, um wirklich reinzukommen.

Aber dann!

Die Geschichte ...

Es wäre falsch zu behaupten, dass mich "Miracle Creek" von der ersten Seite an gefesselt hat. Tatsächlich brauchte ich erstmal ein kleines bisschen, um wirklich reinzukommen.

Aber dann!

Die Geschichte spielt in den späten 00er Jahren, hauptsächlich während und um einen Mordprozess. Angeklagt ist Elizabeth, die Opfer sind ihr Sohn Henry und ihre Bekannte Kitt. Die Beweise sind erdrückend, aber hat eine Mutter wirklich kaltblütig ihr Kind ermordet?

Das Buch beginnt mit dem verhängnisvollen Tag und springt dann ein Jahr in die Zukunft zur Hauptverhandlung. Erzählt wird alles aus der Sicht vieler verschiedener Charaktere (in der dritten Person), was mich anfangs etwas verwirrt hat. Es dauert ein bisschen, bis man begreift, was passiert ist und wer all diese Menschen sind. Dran bleiben lohnt sich aber sehr, denn es wird schnell spannend.

Angie Kim ist eine talentierte Autorin und schafft es, ihren Charakteren Leben einzuhauchen. Alle haben etwas zu verbergen, niemand ist perfekt. Im Wechsel hat man Verständnis, Mitleid und wird dann doch wütend. Ich wusste fast nie, ob ich eine Person nun mag oder eben doch nicht.

Es gibt die Yoons, eine Familie, die aus Korea eingewandert ist. Young und ihre Teenie-Tochter Mary sind für deren Ausbildung zuerst in die USA gezogen, Vater Pak kam später nach. Der bietet nun eine Sauerstofftherapie an, die z.B. Kindern mit Autismus helfen soll. Elizabeth und ihr Sohn nehmen die Therapie in Anspruch, genauso wie Kitt mit ihrem Sohn TJ, Teresa mit ihrer schwerbehinderten Tochter Rosa und Matt, dessen Frau schwanger werden will und der sich eine Verbesserung der Leistung seiner Spermien erhofft. Durch Brandstiftung explodiert einer der Tanks und das kostet zwei Menschenleben.

Es werden im Laufe der Handlung viele Themen angesprochen, neben Autismus z.B. der Sexismus der koreanischen Gesellschaft und innerhalb der Familie, die Probleme, die das Auswandern und das Lernen einer neuen Sprache mit sich bringen, Rassismus und Fetischisierung etc. Die Autorin schafft das sensibel und glaubwürdig.

Sie fängt die Anspannung der Mütter von autistischen Kindern perfekt ein, ihren Kampf, ihre Aufopferung, aber auch ihre Verzweiflung und Überforderung, den Wunsch, dass alles ganz anders wäre, gefolgt vom schlechten Gewissen. Ich konnte Elizabeth, die ja eigentlich als Mörderin im Gerichtssal sitzt, von Anfang an verstehen und am Ende habe ich bei ihrem Part sogar Tränen verdrückt. Ich! Das passiert mit wirklich nicht oft. Mein Herz verloren habe ich an Henry, der zu Beginn stirbt und somit gar nicht mehr richtig auftaucht. Aber allein die kleinen Erzählungen und Rückblenden habe ausgereicht, um ihn mir näherzubringen.

Ebenso realistisch zeichnet Kim die koreanischen Familienverhältnisse, z.B. den Vater, der eigentlich das Oberhaupt sein sollte, aber Probleme mit der neuen Sprache hat und sich deshalb wie ein Idiot fühlt. Auch wenn mir Pak ansonsten nicht der Sympathischste war, konnte ich das doch nachvollziehen. Young hadert mit den Rollenbildern in ihrer Familie und mit ihrem nicht sehr liebevollen Ehemann, bringt aber lange nicht den Mut auf, mal laut zu werden und für sich einzustehen. Damit verliert sie ein bisschen die Achtung ihrer Tochter.

Janine, die Ehefrau von Matt, fragt sich an einer Stelle, ob ihr Mann einen Fetisch für asiatische Frauen hat, bemerkt aber gleichzeitig auch, dass man Männern, die auf Blondinen stehen, niemals einen Fetisch vorwerfen würde – oder ihr, die auch eher auf weiße Männer steht. Sie fühlt sich unwohl damit, als "exotisch" oder sogar als "perverse Fantasie" wahrgenommen zuwerden. Ich war total positiv überrascht, dass so etwas im Buch Erwähnung findet, weil ich da auch schon mit Bekannten drüber gesprochen habe (dabei ging es darum, dass "asiatisch" ja sogar eine eigene Pornokategorie ist, "europäisch" aber eher nicht... ebenso wie "lesbisch" häufig auf der regulären Hetero-Seite zu finden ist, "schwul" aber eine ganz eigene Seite inklusive Regenbogenbanner bekommt).

Matt selbst war der Einzige, mit dem ich meine Schwierigkeiten hatte und mit dem ich einfach so gar nicht warm wurde. Dafür gibt es einen bestimmten Grund, der aber leider ein ziemlicher Spoiler wäre... auch wenn es mich in den Fingern juckt, dazu ausführlicher zu werden. :P

Es gibt noch eine Gruppe Therapie-Gegnerinnen, die auch kurz im Verdacht stehen, da etwas gedreht zu haben, da sie häufig ziemlich aggressiv auftreten. Als Demonstrantinnen stehen sie mit Schildern vor jeder Sitzung draußen und belästigen die Patient:innen. Sie behaupten, all diese Behandlungen seien Kindesmisshandlung und man solle die Kinder so sein lassen, wie sei eben sind. Bei diesen Frauen hatte ich sofort die Assoziation zu den fanatischen Abtreibungsgegner:innen im Kopf und tatsächlich wird diese Brücke im Buch selbst auch geschlagen.

Generell wusste ich bisher erschreckend wenig über Autismus und Therapiemöglichkeiten, deshalb war das alles für mich hochinteressant. Das Buch wirft Fragen auf: Wie "normal" soll ein Kind sein? Welche Therapien sind sinnvoll und was ist zu viel? Wann verlieren Eltern die Kontrolle und sehen nicht mehr, dass ihr Kind doch schon großartig ist - und wann braucht es eben doch Behandlungen, weil es sonst leidet?

"Miracle Creek" ist wirklich ein wundervollen Buch, spannend, aufschlussreich, mit vielen Denkanstößen und Twist am Ende... und noch dazu absolut großartig geschrieben! Dicke Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 14.03.2020

Habe mir anderes erhofft

Unter der Erde
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Elias bekommt eine Einladung zum Geburtstag seines Großvaters. Zu dem hatte er schon ewig keinen Kontakt mehr. Aus Neugier fährt Elias in das Dorf, in dem der alte Mann wohnt. Leider kann er sich nur kurz ...

Elias bekommt eine Einladung zum Geburtstag seines Großvaters. Zu dem hatte er schon ewig keinen Kontakt mehr. Aus Neugier fährt Elias in das Dorf, in dem der alte Mann wohnt. Leider kann er sich nur kurz mit ihm unterhalten, denn plötzlich stirbt der Opa und das ganze Dorf verhält sich merkwürdig...

Das klingt wie der Stoff, aus dem richtig gute Thriller sind. Ich habe eine spannende und leicht unheimliche Story erwartet, mit subtilen Hinweisen und großem Plottwist. Bekommen habe ich jedoch eine für mich persönlich eher langweilige Geschichte, mit Charakteren, die mir im besten Fall egal, im schlimmsten total unsympathisch waren. Hinzu kommen ein paar Klischees und ein Frauenbild zum Wegrennen.

Protagonist Elias ist der typische Schriftsteller mittleren Alters, der irgendwie eine kleine Krise hat und auf seine Bestseller eher nicht so positiv zu sprechen ist. Eigentlich wünscht er sich, endlich mal was "Richtiges" zu schreiben, was von Belang. Von seinen Leserinnen hält er nicht allzu viel, offenbar sind Frauen, die gerne (blutige) Fantasy und Horror lesen ihm zuwider. Und Liebesromane stehen wohl auch immer noch für Frauen, die nichts im Kopf haben (zumindest macht Opa Wilhelm einen dummen Spruch in der Richtung und Elias nimmt das so hin).

Im Dorf ist die Welt erstmal noch in Ordnung: die Frauen stehen in der Küche und servieren das Essen, während die Männer zusammmensitzen und ihre wichtigen, wichtigen Gespräche führen (Ausnahme ist natürlich der Grill, der ist Männersache).

Betty ist grade anfangs hauptsächlich ein Paar wandelnde Brüste auf zwei Beinen (es gibt einen Typen im Dorf, der fast über nichts anderes spricht als ihre Möpse, es hat mich so geekelt), Anna ist jung (und es wird oft betont, dass sie eine junge Frau ist) und wunderschön und ach, hat die tolle Beine. Und klar, Anna will ihren Mann verlassen und schmeißt sich dem übergewichtigen und alternden Elias an den Hals – ohne, dass der auch nur im geringsten misstrauisch wird. Innerhalb kürzester Zeit ist er auch schon verliebt. Seine Frau, die patente aber langweilige Martha, scheint zwischendurch vergessen, denn natürlich haben wir hier die Thriller-typische harmonische, aber fade und leidenschaftslose Ehe.

Mit dem Schreibstil bin ich auch nicht so ganz warm geworden. Eher kurze Sätze und Abschnitte, dadurch geht das Lesen immerhin recht schnell. Aber die ungelenken Unterbrechungen mitten im Satz, dann plötzlich ein Flashback, dann auf einmal wieder nicht benannte Gestalten, die vermutlich über Walkie Talkie kommunizieren... das war mir einfach irgendwie too much.

Ich will natürlich nichts spoilern, aber nur so viel: Mir war alles zu wenig subtil und mysteriös, dafür zu knallig, kostruiert und in your face. Die Auflösung ändert irgendwie am Ende auch nichts an den Klischee-Charakteren und am schlimmsten: sie war mir egal. Hätte es die Leserunde nicht gegeben, hätte ich das Buch definitiv abgebrochen. So habe ich mich eben durchgequält und dabei um die verlorene Lebenszeit getrauert.

Fazit: Mir hat das Buch eben einfach nicht zugesagt. Das heißt aber nicht, dass es allen so gehen muss, denn Geschmäcker sind verschieden. Ich würde empfehlen, vor dem Kauf zumindest mal die Leseprobe runterzuladen, wenn man einen E-Reader hat.

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