Super!
SchamlosErstmal danke an den Verlag für das Rezensionsexemplar.
Es hat mich sehr gefreut, ein Buch von drei solch bemerkenswerten jungen Frauen lesen zu dürfen.
Es kostet sicher eine Menge Mut, so ehrlich und, ...
Erstmal danke an den Verlag für das Rezensionsexemplar.
Es hat mich sehr gefreut, ein Buch von drei solch bemerkenswerten jungen Frauen lesen zu dürfen.
Es kostet sicher eine Menge Mut, so ehrlich und, ja, auch schamlos zu sein.
Machen wir uns nichts vor: der Islam ist, wie alle Religionen, zutiefst patriarchal. Dennoch ist der Glaube für viele Frauen auf der Welt enorm wichtig und ich finde es gut, dass Dinge von der jüngeren Generation hinterfragt oder anders interpretiert werden.
Dass sich Glaube und Emanzipation nicht ausschließen müssen gefällt mir, auch wenn ich nicht religiös bin.
Eines der heißen Pflaster im Feminismus ist ja das Bedecken des Kopfes, es geht also um Kleidungsstücke wie den Hidschab.
Klar werden Frauen in bestimmten Ländern dazu gezwungen, sich zu bedecken. Die Lösung kann aber nicht sein, es Frauen zu verbieten, die es freiwillig tun, denn das ist eben auch nicht besser.
Im Buch wird ein Tweet von Omar Sakr zitiert, der mir dazu richtig gut gefällt und den ich hier unbedingt nochmal stehen haben will:
Women in the Middle East attacked
for not wearing hijab
Women in the West attacked
for wearing hijab
It's almost like women aren't the problem.
Ich finde, das trifft es ziemlich gut.
Mich bedrücken Geschichten von Frauen, die den Hidschab ablegen und dafür eingesperrt werden genauso sehr, wie die Geschichte vom Mädchen, dem eine Horde Jungs versuchen die Bedeckung vom Kopf zu reißen.
Beides ist widerlich, beides ist übergriffig, beides ist beschränkend, beides ist frauenfeindlich!
Ich finde die Position der drei Autorinnen hier übrigens super.
Sie sagen "hey, trag was dir gefällt und auch den Hidschab wenn du möchtest, aber bedenke, dass dich das nicht zum makellosen Engel oder Unschuldslamm macht und du dadurch auch nicht besser bist als Nicht-Hidschabis".
Und es wird klar und deutlich gesagt, dass es nicht vor Übergriffen und Vergewaltigungen schützt, sich zu bedecken, denn natürlich passieren diese schlimmen Dinge überall und können jeden Menschen treffen - ganz unabhängig davon, wieviel Stoff man grade am Körper trägt.
Beeindruckend finde ich außerdem, dass die Autorinnen ziemlich reflektiert wirken und ehrlich zu sich selbst sind. Sie ignorieren ihre Sozialisierung nicht und geben offen zu, dass ihnen Dinge wie beispielsweise im Bikini schwimmen oder ohne Kopfbedeckung aus dem Haus gehen schwer fallen - trotz Feminismus und trotz ihrer lauten Forderung nach Frauenrechten.
Angefeindet werden sie bei allem interessanterweise von zwei Seiten:
Die einen rufen, sie sollen sich in ihr Land verpissen, die anderen, sie wären zu verwestlicht und keine anständigen Muslimas.
"Für die einen sind wir zu norwegisch, für die anderen nicht norwegisch genug."
Ich kann mir dieses fürchterliche Gefühl nirgends richtig dazuzugehören nur vorstellen, aber es muss schrecklich sein.
Spannend war für mich, dass wir trotz aller Unterschiede ähnliche Erfahrungen in der Jugend gemacht haben, zum Beispiel beim Schwimmen. Auch ich habe irgendwann angefangen Shorts zu tragen und mit T-Shirt ins Wasser zu gehen, allerdings nicht, weil mich jemand attraktiv finden könnte und ich nicht die Aufmerksamkeit einer männlichen Person erregen wollte, sondern weil ich Angst hatte, nicht attraktiv genug zu sein.
Diese Phase ging irgendwann vorbei, trotzdem zeigt sie mir bis heute, dass wir alle unsere Fesseln haben, auf die eine oder andere Weise.
Ein bisschen mit Bauchschmerzen habe ich die Stellen über Familie und die Ungleichbehandlung von Mädchen und Jungen gelesen.
Bei "uns" im Westen gibt es noch eine Light-Version davon. Auch hier haben Söhne mehr Möglichkeiten, als Töchter.
Wörter wie "Schlampe", "Nutte" und "Hure", die einen deutlichen Bezug zu Sexualität und damit verknüpfter "Ehre" haben, sind auch bei uns (trotz eigentlichem generischen Maskulinum) feminin und werden fast ausschließlich für Frauen und Mädchen benutzt.
Für Jungs und Männer gibt es nichts Vergleichbares, die beliebteste Beleidigung ist "Hurensohn" - wobei da auch wieder eine Frau, die Mutter des Angesprochenen, als Hure beleidigt wird.
Dennoch beschreiben die drei Autorinnen auch Einschränkungen für Jungs und generell scheint die Kontrolle in muslimischen (oder vermutlich allgemein stark religiösen) Familien wahnsinnig hoch zu sein.
"Das ist eine ziemlich harte Macho-Kultur.", heißt es da. "Da ist nicht viel Raum für Gefühle und so was."
Ich persönlich wäre an so einem Teenie-Leben mit starken Einschränkungen, engen Regeln und einem völlig diffusen Ehrbegriff kaputt gegangen.
Ein großer Nachteil bei Religionen scheint die Abkehr von Wissenschaft zu sein. Psychische Erkrankungen werden z.B. mit "bete einfach mehr" abgetan, Depressionen mit Faulheit erklärt. Homosexualität, völlig normal im Menschen- und Tierreich, wird zur Sünde.
Aufklärung läuft komplett falsch, Jungfräulichkeit wird glorifiziert, Biologie wird nicht beachtet.
(Schönes Zitat hierzu:
"Heute weiß ich, dass das Jungfernhäutchen einfach eine elastische Schleimhautfalte ist, die noch nicht einmal alle Frauen haben, und niemand kann beweisen, dass ein Mädchen keine »Jungfrau« mehr ist, nicht einmal ein Arzt.")
Das ist schrecklich und ich kann bis heute nicht begreifen, wie man bewiesene Tatsachen ignorieren oder gar leugnen kann, um dann an etwas unbewiesenes und so abstraktes wie einen Gott zu glauben.
Abgesehen vom Inhalt hat das Buch auch eine sehr schöne Aufmachung. Es gibt neben den Gesprächen und Geschichten jede Menge Fotos, Zeichnungen und kleine Briefe, die die Autorinnen an ihr jüngeres Ich schreiben.
Mir hat alles ausgesprochen gut gefallen, einiges war mal wieder ein kleiner Augenöffner. Klare Leseempfehlung!
(Übrigens wundert es mich gar nicht, dass die norwegische Kultserie SKAM so oft erwähnt wird. Die ist ja auch toll und hat wahnsinnig starke Charaktere - nicht nur die Muslima Sana, sondern alle! (Die deutsche Adaption der Serie ist leider nicht so geil, das ist aber mein persönlicher Geschmack))