Der letzte Wille ihrer Mutter ist es, dass ihre Asche am Ufer des Sees verstreut wird, an dem die Familie vor Jahrzehnten viele Sommer verbracht hat. Und so machen sich die Brüder Nils, Benjamin und Pierre auf den Weg dorthin. Längst haben sie sich auseinandergelebt, und das, obwohl sie sich einst so nahe standen - sich nahestehen mussten, um sich gegenseitig Halt zu geben in einer Familie, die vom widersprüchlichen Verhältnis zwischen Kindern und Eltern geprägt ist. Nie konnten sie sich sicher sein, ob ihre Eltern ihnen nun mit Liebe oder mit Ablehnung begegnen würden. Und so wird es nicht nur eine Reise zum Sommerhaus der Gegenwart, sondern vor allem die zurück in ihre Kindheit.
Erzählt wird der Roman aus der Sicht Benjamins, des mittleren Bruders. Schon in seiner Kindheit hat er immer eine eher beobachtende Rolle inne, hat stets seine Brüder, seinen Vater und seine Mutter im Blick und spürt daher, wann die Stimmung kippt, wann es besser ist, sich still und heimlich zurückzuziehen und so einem Konflikt aus dem Weg zu gehen. Denn gerade seine Mutter wirkt teils unberechenbar, ist sie doch im einen Moment sehr liebevoll ihren Kindern gegenüber und weist im nächsten den von ihren kleinen Söhnen gepflückten Blumenstrauß zurück. Was Benjamin als kleines Kind nicht so sehr bemerkt hat, tritt mit den Jahren immer deutlicher hervor: seine Familie ist anders als die anderen Familien, die Beziehung zwischen Eltern und Kindern von einer stetigen, unterschwelligen Spannung geprägt, die zur Vorsicht mahnt. Und so sind es die Brüder, die sich gegenseitig schützen und füreinander da sein müssen. Umso rätselhafter scheint die Szene, mit der der Roman beginnt: einer Prügelei zwischen Pierre und Nils, während sie eigentlich die Asche ihrer Mutter verstreuen wollen. Was also ist passiert? An dieser Frage orientiert sich die Handlung des Romans.
Büchern, die rückwärts erzählt werden, stehe ich grundsätzlich etwas skeptisch gegenüber. Oftmals bekommt man schnell das Gefühl , dass der Autor diese besondere Erzähltechnik vor allem deshalb gewählt hat, um aufzufallen, während der Mehrwert für die Geschichte selbst jedoch häufig ein geringer bleibt. Hier war das anders. Der Handlungsstrang ist zweigeteilt, Gegenwart und Vergangenheit, und während im Gegenwartsstrang jedes Kapitel dort endet, wo das vorherige begonnen hat - man also mit jedem Kapitel ein paar Stunden weiter in der Zeit zurückgeht -, läuft der Vergangenheitsstrang mehr oder weniger chronologisch vorwärts. Meist ist es so, dass ein Gegenwartskapitel mit einer bestimmten Beobachtung endet, die dann im darauffolgenden Vergangenheitskapitel aufgegriffen und erklärt wird. Das mag zunächst verwirrend klingen, ist aber tatsächlich sehr gut gemacht, denn man erhält die nötigen Informationen immer nur häppchenweise und genau im richtigen Maß. Man könnte sich nun dennoch die Frage sellen, welchen Sinn es hat, das Ende vor dem Anfang zu kennen und wo denn dann die Spannung beibt - doch ohne hier zu viel verraten zu wollen, kann ich sagen, dass die Spannung auf jeden Fall da ist und dass es sich wirklich lohnt, bis zum Ende (oder zum Anfang?) weiterzulesen. Denn in den letzten Kapiteln ändert sich ein ganz entscheidenes Detail der Geschichte, das vorher kaum ins Auge gefallen ist, und bei mir war das tatsächlich der entscheidende Punkt, der für mich den Unterschied zwischen 4 und 5 Sternen ausgemacht hat. Tatsächlich habe ich wenige Seiten zuvor noch gedacht "Es ist sehr gut, aber irgendwas fehlt mir" - nun, das Ende hat mich dann sprachlos zurückgelassen.
Neben der Erzähltechnik sticht vor allem auch der Schreibstil des Autors positiv heraus. Trotz eher nüchterner, distanzierter Worte gelingt es Schulmann, ein unglaublich genaues, emotionales Bild zwischenmenschlicher Beziehungen zu zeichnen. Die Figuren werden auf Distanz gehalten, und dennoch fühlt man sich gerade den Brüdern nahe in ihren Ängsten, ihrem Wunsch nach Anerkennung, ihrem Gefühl des Alleinseins. Obwohl Einiges bis zum Ende im Dunkeln bleibt, vermag man nach und nach das Ausmaß der Geschehnisse in ihrer Gesamtheit zu begreifen und den Schmerz, der für die Figuren damit einhergeht, nachzuempfinden. Am Ende des Romans wird Vieles klarer, und das, was vorher vielleicht keinen Sinn ergeben hat, kann man plötzlich verstehen.
Mich hat "Die Überlebenden" sehr gepackt, die authentischen Figuren, die nüchterne, präzise Sprache, die dennoch solch große Gefühle transportiert. Hier wird ein Trauma beschrieben, das nicht auf den ersten Blick sichtbar ist, sondern sich erst nach und nach abzeichnet und nicht zuletzt durch die besondere Erzähltechnik großartig aufgearbeitet wird. Ein Roman, den ich sehr gerne weiterempfehle!