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Veröffentlicht am 20.02.2017

Epidemie des Hasses

Epidemie
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Seit fast vier Jahren ist in Schweden die Gesundheitspartei an der Macht, präsentiert durch den charismatischen und relativ jungen Ministerpräsident Johan Svärd. Svärd hat seinem Volk versprochen, es gesünder ...

Seit fast vier Jahren ist in Schweden die Gesundheitspartei an der Macht, präsentiert durch den charismatischen und relativ jungen Ministerpräsident Johan Svärd. Svärd hat seinem Volk versprochen, es gesünder und schlanker zu machen, und er hält sein Versprechen mit grausamer Konsequenz. Die Schweden bekommen Auflagen: Sie müssen unter einem bestimmten FMQ (Fett-Muskel-Quotient). Wer übergewichtig ist, wird ausgegrenzt, verliert seinen Job, dann sogar seine Wohnung (fettfreies Wohnen wird propagiert). Helen liegt über diesem Ideal-FMQ und sie erträgt die Diskriminierungen nicht mehr länger. Zusammen mit ihrer Tochter Molly versteckt sie sich irgendwo auf dem Land, wo sie Landon, einen netten Kerl, kennenlernt. Auch er weiß, dass sein Job in Gefahr ist und er hat mehr oder weniger zusehen müssen, wie sich seine Ex-Freundin zu Tode hungerte, völlig dem Schlankheitswahn verfallen. Helen verweigert sich diesem Wahn und wie viele andere auch wird sie eines Nachts in SS-Manier verschleppt und in ein so genanntes Fat Camp transportiert - und wer jetzt bei der Erwähnung der SS eine böse Ahnung bekommt, der liegt auch mit dem Fat Camp ganz richtig.

Dieses Buch ... hat mich überrumpelt. Die Banalität der Boshaftigkeit entwickelte sich schleichend, aber unaufhaltsam, sehr, sehr gekonnt von der Autorin umgesetzt. Dachte ich in der ersten Zeit noch "Na ja, jetzt habt euch nicht so", riss es mich wie eine Springflut unvermittelt aus meinem warmen Lesekokon, katapultierte mich in eine extrem glaubhafte, authentische, grausame Dystopie, die leider, leider, leider (!) überhaupt nicht an den Haaren herbeigezogen wirkte. Ich wünschte, es wäre so, aber das Schlimme ist: Genau so, ob jetzt mit Übergewicht oder Juden oder Leuten mit langen Nasen - genau so kann es immer und überall passieren. Und wir werden es alle nicht glauben wollen, weil man auch nach all den historischen Tatsachen, die man weiß und lernt, immer noch nicht fassen kann, wozu Menschen in der Lage sind, sich gegenseitig anzutun. Wir werden den Kopf schütteln, sagen "Das gibt's doch nicht", und uns umdrehen oder wegsehen, wenn etwas passiert, dass diese Aussage als falsch entlarvt. Genau deshalb sollte dieses Buch in der Schule gelesen werden, denn seine Eindringlichkeit erschüttert die moralischen Grundfesten, unseren Glauben an das Gute im Menschen und macht dafür Platz zum Denken, zum Reflektieren, vielleicht sogar zum Aufstehen im Angesicht einer Ungerechtigkeit. Über welches Buch kann man schon so ein Fazit ziehen?

Veröffentlicht am 20.01.2017

Brave new world

Company Town - Niemand ist mehr sicher
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New Arcadia ist eine Ölplattform in naher Zukunft. Sie ist riesig, eine ganze Stadt mitten auf dem Meer, mit Autos, Zügen, Hochhäusern. Die Menschen sind so gut wie alle getuned, genetisch verbessert oder ...

New Arcadia ist eine Ölplattform in naher Zukunft. Sie ist riesig, eine ganze Stadt mitten auf dem Meer, mit Autos, Zügen, Hochhäusern. Die Menschen sind so gut wie alle getuned, genetisch verbessert oder mit Chips geupdatet. Eine der wenigen völlig organischen Menschen ist Hwa, die ausgerechnet als Leibwächterin für die Prostituiertengewerkschaft arbeitet. Sie ist zwar einerseits nicht so stark und schnell wie mögliche Angreifer, hat aber auch den Vorteil, dass ihr Hirn nicht gehackt und sie nicht umprogrammiert werden kann. Diesen Vorteil erkennt auch Daniel Siofra, der Sicherheitschef der Familie Lynch, die New Arcadia neu übernommen hat. Er bietet ihr den Job als Leibwächterin von Joel Lynch, dem 15jährigen Sohn des Firmenchefs und dessen Erbe. Hwa nimmt an und sie gerät in eine Intrige, die größer ist als sie, in der ihre Prostituiertenfreundinnen ermordet werden, herauskommt, wer für den Tod ihres Bruders verantwortlich ist und die wahre Natur von Daniel Siofra und auch des alten Zacharias Lynch, dem Patriarchen der Familie.

Dieses Buch hat mich umgehauen. Okay, die ersten Seiten waren mehr als verwirrend, immer wieder wurden Sachen erwähnt, die man nicht kapiert hat, weil es das so in unserer Zeit nicht gibt, aber die sich dann nach und nach erklärt haben. Die Autorin ist Zukunftsforscherin, und die Erfindungen und Entwicklungen, die sie anspricht und beschreibt, sind teilweise genial, teilweise mehr als erschreckend, wirken aber fast durchweg authentisch. Mit Hwa, Siofra und Joel hat sie sehr sympathische Personen geschaffen, denen sie mit diversen Mördern, Superreichen und Freaks eine Menge Antagonisten entgegenstellt. Ich habe mich keine Sekunde gelangweilt, selbst wenn es Zeitsprünge gab oder ich mal wieder etwas nicht ganz verstanden habe. Die Story ist komplex, man muss konzentriert am Ball bleiben, was aber auch einfach ist, denn sie nimmt mit und fesselt. Es ist aber auch eine Art Dystopie für Erwachsene, wer großartiges Liebesgedöns erwartet, wird enttäuscht werden (ich wurde sehr, sehr gern enttäuscht in dieser Hinsicht!). Ich hoffe, es wird einen Nachfolger geben, auch wenn die Story für sich allein bestehen kann, auch werde ich das Buch in naher Zukunft noch mal lesen, um wirklich durch alles durchzusteigen. Dieses Buch ist wie das erste Mal Sex: Wer sich drauf einlassen und fallen lassen kann, für den klappt's auch mit dem Orgasmus. ;)

Veröffentlicht am 05.01.2017

Vom Bayou nach Chicago

Die Mississippi-Bande
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Alles fing mit dem Mord an einem Mörder an. Oder nein, wahrscheinlich schon vorher, als vier Kinder aus dem Bayou einen Einbaum bauten. Te Trois, Eddy die Grille, Julie und ihr kleiner Bruder Tit. Die ...

Alles fing mit dem Mord an einem Mörder an. Oder nein, wahrscheinlich schon vorher, als vier Kinder aus dem Bayou einen Einbaum bauten. Te Trois, Eddy die Grille, Julie und ihr kleiner Bruder Tit. Die vier leben unter recht ärmlichen Verhältnissen, doch sie kennen es auch nicht anders. Jedenfalls fing alles mit dem Einbaum an, denn als sie mit dem unterwegs waren und fischten, fanden sie eine Konservenbüchse, in der drei Dollar waren. Drei Dollar! Sie waren reich! Und beschlossen, im Katalog einen Revolver zu bestellen. Doch als ihr Paket endlich ankam, war dort kein Revolver drin, sondern eine alte, kaputte Taschenuhr. Und mit der ging es erst richtig los, denn plötzlich wurden sie bedroht und beschlossen, sich auf den Weg nach Chicago zu machen, um die anscheinend wertvolle Uhr persönlich zurückzugeben. Die Abenteuer führten sie nicht nur quer durch die USA, sondern brachten interessante und manchmal gefährliche Begegnungen ...

Ich bin ein großer Fan von Mark Twain, und gerade bei der Fahrt auf dem Mississippidampfer habe ich vieles wiedererkannt, was Twain auch in seinen Memoiren erwähnt hat. Doch auch so schaffte es Morosinotto, das alte Flair auferstehen zu lassen, das man so ähnlich von Tom Saywer und Huckleberry Finn kennt, erzählt dabei jedoch eine völlig eigene Geschichte mit eigenen, extrem sympathischen und unterschiedlichen Charakteren, die er selbst in jedem Abschnitt zu Wort kommen lässt. Dabei bekommt man ganz nebenbei einen Einblick in die Lebensweise um 1904 und Kindern im Alter um die 13. Es ist der Beginn eines Jahrhunderts voller Wunder und Technik und zumindest ich habe mit den vier mit offenem Mund dagestanden und gestaunt, mit ihnen ihre Abenteuer live erlebt und hatte allgemein eine tolle Geschichte, die es zu lesen lohnt.

Veröffentlicht am 03.01.2017

Ein kleines Genie

Das geheimnisvolle Leben des Nicholas Benedict
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Nicholas ist neun, Waise und mit Narkolepsie geschlagen. Das heißt, es kann passieren, dass er jederzeit einschläft, meistens, wenn ihn starke Gefühle überwältigen. Er war schon in mehreren Waisenheimen ...

Nicholas ist neun, Waise und mit Narkolepsie geschlagen. Das heißt, es kann passieren, dass er jederzeit einschläft, meistens, wenn ihn starke Gefühle überwältigen. Er war schon in mehreren Waisenheimen und dieses Mal verschlägt es ihn nach Child's End, einem Gutshof, der früher mal den Rothschilds gehört hatte. Wie er es gewohnt ist, gibt es auch hier mehrere jugendliche Raufbolde, die ihn mobben, weil er einfach anders ist, und dabei wissen sie noch nicht einmal, dass er ein kleines Genie ist, der innerhalb von Minuten dicke Bücher lesen - und sich merken kann. Nicholas hat ein eidetisches Gedächtnis und ist überaus clever. Als er von einem nie gefundenem Schatz der Rothschilds erfährt, beschließt er, ihn zu finden, um dem Waisenhaus zu entgehen; zusammen mit seinen neuen Freunden John und Violet macht er sich auf die Suche.

Bei diesem Buch hätte so viel schiefgehen können, gerade weil Nicholas so außergewöhnlich ist. Aber Stewart hat es echt geschafft, ihn einem nahezubringen, sympathisch zu machen, so dass man die ganze Zeit hinter dem kleinen Kerl steht, wenn er sich wieder einmal aufgrund seiner großen Klappe in Schwierigkeiten gebracht, aber gleich darauf auch wieder hinausmanövriert hat. Auch die Nebencharaktere sind supergut gezeichnet, jeder hat etwas, das ihn von den anderen abhebt und einzigartig macht, ohne ihn (oder sie) weniger authentisch wirken zu lassen. Natürlich muss man sich vor Augen halten, dass es sich hier um ein Kinderbuch handelt, manche Sachen müssen einfach mit einem Happy End ausgehen, auch wenn es wohl in der Realität nicht so einfach wäre, aber wenn dem nicht so wäre, wer wollte dann noch solche Bücher lesen wollen? Nein, hier hat es gepasst und Spaß gemacht, es gibt eine dicke Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 01.01.2017

00Salat - geschüttelt, nicht gerührt

Shaking Salad Low Carb
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Da haben wir den Salat! Für mich war das eigentlich immer so Zeug dazu, konnte, musste jedoch nicht unbedingt gegessen werden. Ja, ich weiß, gesund und so. Trotzdem. Und dann kam die Neugierde und ich ...

Da haben wir den Salat! Für mich war das eigentlich immer so Zeug dazu, konnte, musste jedoch nicht unbedingt gegessen werden. Ja, ich weiß, gesund und so. Trotzdem. Und dann kam die Neugierde und ich dachte: Joa, probiere ich halt mal die Salate aus diesem Buch aus. Will jetzt nicht gerade behaupten, dass es eine Offenbarung war - aber mal was richtig anderes in Bezug auf Salat. Und das auch noch sympathisch.

Also, was ist denn nun das Tolle? Erstens mal bildet sich die Autorin nicht ein, sie hätte mit ihrem Buch die Welt verändert, das finde ich schon mal cool. Dann hat sie ein paar echt gute Ideen, was man alles zu Salat verarbeiten könnte - schon mal von Sojapfannkuchen mit Avocado gehört? Bis ich das Buch aufschlug, hatte ich das auch nicht. Schmeckt aber, ehrlich.

Gut gemacht ist auch die Einteilung des Buches, denn sie unterteilt in vegetarisch, vegan, Fisch, Fleisch, süß - und dann der Knaller: Cheat Meals. Denn eigentlich heißt das Buch ja Shaking Salad Low Carb - aber Stöttinger sagt selbst, dass man manchmal cheaten muss, um vernünftig eine Diät oder Low Carb durchzuhalten. Gibt nun mal kaum was Besseres, als seine Zähne in frisches Brot zu graben. Dann sind da noch ihre Dressings, die fast alle mit den einfachsten Mitteln herzustellen sind, die sogar ich zuhause habe. Dreimal sympathisch war mir, dass sie bei exotischen Sachen immer auch Alternativen aufführte, es war kein dogmatisches "Du brauchst unbedingt das megateure Gewürz/Öl/die Zutat, die du danach nie wieder verwenden wirst", sondern sie hatte meistens einen preiswerten Ausweg bei der Hand.

Es hat mir also tatsächlich gefallen, das Shake-it-Baby-Buch - allerdings habe ich eine Kategorie kategorisch ausgelassen: Fisch. Sorry, nein, aber Fisch (oder Muscheln) im Glas - kein Plan, aber da schüttelt's mich selbst. Ich habe also nicht alle Rezepte probiert, aber alle Rezepte, die ich probierte, haben geschmeckt.
Und als Abschluss für all diejenigen, die das immer übelst wichtig finden: Ein Lesebändchen ist in dem Buch auch dabei. In Rot.