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Veröffentlicht am 06.09.2023

Eine exzellente Studie über ostdeutsche SED-Kader, die mithilfe westdeutscher Seilschaften nach der Wende Karriere machten.

Vorwärts und vergessen!
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Wie im Zuge der Deutschen Einheit in Justizwesen, Presselandschaft und Staatswesen Täter-Opfer-Umkehr betrieben wird, Verbrecher geschützt und Verbrechen ungeahndet bleiben.

Die Investigationsjournalisten ...

Wie im Zuge der Deutschen Einheit in Justizwesen, Presselandschaft und Staatswesen Täter-Opfer-Umkehr betrieben wird, Verbrecher geschützt und Verbrechen ungeahndet bleiben.

Die Investigationsjournalisten Uwe Müller aus Frankfurt/Main und Grit Hartmann aus Leipzig nahmen in den 2000er-Jahren die Herkules-Arbeit auf sich, gestützt auf ausführliches Quellenmaterial jenes Rollback zu dokumentieren, jene Konterrevolution, welche im wiedervereinigten Deutschland nach 1989/90 Stück für Stück die alten Machthaber des SED-Unrechtsstaats wieder im Amt und Würden brachte.

In gewisser Weise erinnert die heutige Zeit an jenes bleierne Biedermeier nach der Französischen Revolution bzw. erzreaktionäre Herrschaftsstrukturen, wie sie sich nach den gescheiterten Revolutionen 1848/1849 in Europa etablierten. Dabei macht das Ost-West-Autorenteam Müller/Hartmann nicht den Fehler, sich einzig auf Stasi-Seilschaften zu konzentrieren, die nach dem Fall der Mauer schnell wieder zu Macht und Einfluss kamen, und Siegerjustiz für DDR-Verbrecher zu fordern, wie es sie gegenüber Nazi-Verbrechern in der alten Bundesrepublik niemals gab.

Vielmehr wird dargelegt, wie Rufe nach Gerechtigkeit und Bestrafung nach der Wiedervereinigung im Deutschen Bundestag jeweils von Opposition gefordert wurde, beispielsweise von der SPD gegenüber CDU-Kanzler Helmuth Kohl bzw. nach seinem Sturz von der CDU unter Angela Merkel, was wiederum SPD-Kanzler Helmuth Schröder konterkarierte, und dass hernach unter der Großen Koalition von CDU und SPD sogar einem Stasi-Chef von Bundeskanzler Steinmeier das Bundesverdienstkreuz verliehen wurde.

Jene Seilschaften in Politik, Wirtschaft, Presse- und Justizwesen, jene Kader, Spitzel und Komplizen aus Ost und West, die gemeinsam Hand in Hand die Restitution betrieben, wie im Buch von 2009 eindrücklich dargestellt, sitzen mehr als drei Jahrzehnte nach der friedlichen Wende, überall an den Schalthebeln der Macht.

Höchst bedauerlich, dass es heutzutage krude Verschwörungstheoretiker und Reichsbürger auf die Straßen gehen – was letztendlich den in »Vorwärts und vergessen!« angeprangerten Ost-West-Seilschaften in die Hände spielt. Längst überfällig wäre eine gesamtdeutsche Protestbewegung, vergleichbar mit jener der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, die 1967/68 unter der Parole »Unter den Talaren - Muff von 1000« gegen Nazi-Verbrecher in Rektoren- und Richterroben protestierte.

Warum gesamtdeutsch? Weil sich jene mafiösen Strukturen – beispielsweise unter Bundesbediensteten und im Justizwesen – inzwischen auch in Westdeutschland etabliert haben, und weil es Westdeutschen heutzutage durchaus passieren kann, dass sie von einem DDR-Kreisstaatsanwalt, der sich nun Oberstaatsanwalt nennen darf, in einem Schauprozess zu Kerkerhaft verurteilt wird. Dies klingt kurios, ist jedoch dem Buchrezensenten jetzt und hier in 2022/2023 widerfahren. Sein Verbrechen: Bücher schreiben, in denen Verbrecher der Staatssicherheit erwähnt werden.

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Veröffentlicht am 30.08.2023

Narrenspiel am Rande des Höllenkraters

Im Anfang war das Wort
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Wie ein DDR-Pfarrer mit Kanzel-Predigten, Romanen, Hörspielen, Filmdrehbüchern, Theaterstücken und Gedichten der Stasi trotzt.

Drei Dinge stoßen mich ab, wenn ich durch die ersten Seiten eines Buches ...

Wie ein DDR-Pfarrer mit Kanzel-Predigten, Romanen, Hörspielen, Filmdrehbüchern, Theaterstücken und Gedichten der Stasi trotzt.

Drei Dinge stoßen mich ab, wenn ich durch die ersten Seiten eines Buches blättere, und oft genug lege ich es dann beiseite: 1.) Rechtschreibfehler, 2.) langatmige Schilderungen, 3.) stumpfsinnige Formulierungen.

Nicht davon findet sich im dicken Werk des Autors. Die Einführung von Sabine Bauer-Helpert, einer Pfarrerin im Ruhestand, verzichtet bei allem religiösen Bezug auf kitschige Frömmelei, und wenn sie schreibt, dass Dieter Liebigs Texte uns auch heute Tore in die Zukunft öffnen können (Seite 8), dann ist dies kein leeres Versprechen.

Der Autor belässt es bei einem knappen Vorwort, das dem Leser hilft, den »Deutsch-Ossig-Report 1977-1986«, wie er »An Anfang war das Wort« tiefstapelnd im Untertitel benennt, in sein umfangreiches Oeuvre einzuordnen, und kommt dann gleich in medias res, will meinen: Er zitiert, anstatt seine Herkunft eigenhändig zu beschreiben, wortwörtlich einen Ermittlungsbericht der Staatssicherheit (S. 11). Solche Dokumente tauchen auf den folgenden 500 Seiten immer wieder auf. Und zu den IM-Decknamen liefert er auch die Klarnamen.

Mit anderen Worten: Der wehrhafte Pfarrer und Schriftsteller in Personalunion packt den Stier bei den Hörnern, kämpft mit offenem Visier – was auch bitternötig ist, hat er doch seit seinem 25. Lebensjahr nicht nur die Stasi im Nacken, sondern auch riesige Braunkohlebagger vor der Nase, die sich Stück für Stück wie im Hollywoodepos »Herr der Ringe« auf sein Barockkirchlein zubewegen. Wahrhaft teuflisch. Doch Dieter Liebig ist kein Jammer-Ossi, will nicht bemitleidet werden, sondern schildert das Dantes Inferno gleichkommende Höllenspektakel, indem er (S. 17) aus einem eigenen Roman zitiert:

»Auf dem Ort regnete Asche, mit Schwefel vermischt ... An ihre Ohren drang Quietschen, Heulen, Rasseln, Leiern, Wummern ... Als Kontrast dazu stand nach Norden hin eine Kirche, die von außen schmucklos wirkte.«

Es folgen Theaterstücke, mit einem Laienspieltrüppchen aufgeführt, das er dort am Rande des Höllenkraters aus der Braunkohlenerde gestampft hat, in etwas so, wie nach griechischer Mythologie das Menschengeschlecht aus Lehmklumpen geformt und gebacken wurde. Der Vergleich kommt nicht von ungefähr, greift der Autor doch in seinem literarischen Schaffen auf die Werke kulturgeschichtlicher Epochen zurück, ist ungeheuer belesen, ohne in falsche Eitelkeit zu verfallen. In seinen Tagebüchern, die neben Predigten, Theaterstücken und Stasi-Berichten das Buch so reich und abwechslungsreich machen, schreibt er (S. 123):

»Im Radio hörte ich zufällig das Dürrenmatt-Zitat: ›Ein Stück ist dass zu Ende gedacht, wenn es die schlimmstmögliche Wendung bietet.‹ Sehr schön weit vorn formuliert, für pointiertes Reden war Dürrenmatt schon immer gut.«

Dass die Staatssicherheit dem schriftstellernden Pfarrer bzw. pfarrernden Schriftsteller dabei stets im Nacken saß und sich (mit Erfolg) bemühte, Informanten auf ihn anzusetzen, zeigt ein Tagebucheintrag auf der gleichen Seite:

»Gestern haben wir vor einem ausgezeichneten Publikum in Weinhübel gespielt. Da ich immer noch auf der Sucher nach einem weiteren Stück bin, kam mir der Gedanke, einen ›Traum‹ nach Günter Eich zu versuchen. In dem befindet sich ein Familienvater, der nur hinausgegangen ist, um eine Zigarette zu rauchen. Da bitte ihn die Häscher um Feuer. Er kenne doch den ... So ward er zum Judas.«

Die äußere Situation des kleinen Kirchleins am Rande der sich stetig ausbreitenden Kohlegrube ist bedrücken. In einer Silvesterpredigt (S. 176) macht Dieter Liebig seiner Gemeinde Mut:

»Es gilt, dass das Herz fest werde, wir stark im Glauben werden in dem Wissen, dass unsere Zeit in Gottes Händen liegt.

Am gleichen Tag steht im Tagebuch, dass am 30. Geburtstag im Sommer sein erstes Stück Premiere haben soll. Episoden aus dem Bauernkrieg. Zwei Wochen später kommt ein Schreiben, dass die Schließung des evangelischen Friedhofs ankündigt. Unerbittlich fressen sich die Braunkohlebagger weiter. Die Realität in Deutsch-Ossig im südöstlichsten Zipfel der DDR erfüllt die dramatischen Vorgaben des Friedrich Dürrenmatt in der fernen Schweiz, damals dank Stacheldraht, Mauer und Schießbefehl unerreichbar für den schreibenden Gottesmann.

Dass die Stasi auf der Suche nach Spitzeln in seinem Umfeld erfolgreich war, zeigt der Bericht von IM Maus (S. 231). Dieter Liebig dreht den Spieß um, nennt nicht nur den Klarnamen des verräterischen Nagetiers, sondern zitiert die gesamte Tonbandabschrift der Kreisdienststelle der Staatssicherheitsdienstes in Görlitz. Thema des Gesprächs in der Privatwohnung des Informellen Stasi-Mitarbeiters war eine Generalprobe zum neuen Theaterstück »Der Turm«.

Wenn der Autor in diesem autobiografischen Report sich selbst erklärt und jenes Unbegreifliche, das letztendlich die Kreativität jedes Künstlers ausmacht, so zitiert er aus einem eigenen Brief (S. 294), und das in jenem ihm eigenen Stil, der Bilder im Kopf des Lesers aufblitzen lässt::

»Ich kenne einen Bassgitarristen, der alles, was erhört, in Noten fasst. Mein Tun ist ähnlich gelagert. Ich kann nur das, was ich mir beigebracht haben, setze mir begegnende Stoffe in Stücke um. Entscheidend ist also das Verhältnis zum Stoff.«

Als Kurzvita zitiert Dieter Liebig auch einem Brief an die Zeitschrift »Theater der Zeit«, die sein Stück »Nonnenmacher« abdrucken will:

»Mein Verfahren waren Landarbeiter, meine Mutter ist in der LPG tätig, mein Vater Arbeiter ... 1980 wurde ich Pfarrer der Kirchengemeinde Deutsch-Ossig im Energiezentrum Hagenwerder. Der Ort selbst steht auf Braunkohle.«

Was es bedeutet, auf Kohleflözen zu wohnen, die in unmittelbarer Nähe abgebaggert werde, lässt er uns Leser in einem Romanzitat wissen(S. 333):

»Plötzlich erstarb das Singen der Vögel, das Summen der Bienen. Die Schafe standen vollkommen regungslos das, als würden sie das Atmen unterlassen ... Das Geräusch war nicht klar zu definieren. Es handelte sich um ein Grunzen, Schnauben, Brüllen, als würde alle Tiergattungen zur Schlachtbank getrieben. Da gab es einen Schlag wie von einer überdimensionalen Uhr ... eine gewaltige Rutschung abgegangen. Zig Tonnen ... sind vom Granit abgerissen ... Daraus folgte, dass das Kohleflöz gehoben wurde und mit Luft in Berührung gekommen war. Durch die Reibung hatte es sich entzündet.«

Man muss schon ein harter Bursche sein, um das auszuhalten. Als Sohn eines Waldarbeiters hat der Autor gelernt, handfest zuzupacken. Und weil er in Halle und Leipzig neben dem Theologiestudium das Theaterhandwerk erlernte, setzte er seine Erfahrungen in einem Hörspiel um, frei nach Iwan Turgenjews »Aufzeichnungen eines Jägers«. Das folgende Zitat stammt aus seinem Brief von 1984 (S. 336) an Radio DDR II. Ein Jahr später wurde Liebigs Hörspiel ausgestrahlt.

»Ich werde, vor allem von kirchlicher Seite, immer wieder gefragt, wie sich beide Berufe, der des Pfarrers und der des Schriftstellers vereinbaren lassen. In beiden geht es um das Wort. Beide kommen von Menschen her und gehen auf den Menschen zu. Das verbindende Element ist daher die Ethik. In solchen Stücken wie ›Der Wildhüter‹ reflektiere ich Begegnungen. ... Mein Vater war Forstarbeiter ... Das Leben im Wald war, als es sich noch in der natürlich Ordnung vollzog, war hart. Für das Harzen der Kiefern mussten im Winter die Lachten für die Schnitte vorbereitet werden, durch sogenanntes Röten. Es galt, stundenlang bei schwerer Arbeit im Schnee zu knien. Wenn der Wind aus Westen kam, trieb er einem die abgehobelte Rinde ins Gesicht, wenn er aus Osten kam, gefror einem der Schweiß auf dem Rücken.«

Conclusio: Dieter Liebig, der auf Jahrzehnte kreativen Schaffens zurückblicken kann, als Pfarrer sein Kirchlein verteidigte, als Bürgerrechtler von der Kanzel gegen Umweltzerstörung (Totenmesse für die Natur, S. 413 ff.), Militarismus und den Unrechtsstaat DDR predigte, ebenso mit Gedichten, Romanen, Hörspielen, Filmdrehbüchern und Theaterstücken, dem das Kunststück gelangt, sein 1986 (just als er sein Mittelalter-Theaterstück »Ratgeb« vollendet hatte, S. 478 ff.) abgebaggertes Kirchlein inmitten einer Plattenbausiedlung wiederauferstehen zu lassen, der nach der Wende als Landrat im Kreis Görlitz dem zaghaften Pflänzchen der Demokratie zum Wachsen verhalf, den jetzt in 2023 drei neue Projekte unter der Feder hat, ist kein Jammer-Literat, der sein Leid beklagen und dafür bedauert werden will. Er ist ein Dramatiker im Sinne Dürrenmatt – und uns Leser weiß er zu vergnügen.

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Veröffentlicht am 18.08.2023

Manche Bücher brauchen Jahrzehnte, bis sie einen Verleger finden. Die Zeit geht über sie hinweg, Geschichte wiederholt sich nicht - oder doch? Sie wiederholt sich und gute Literatur ist zeitlos!

Der Spion, der Jazz spielte
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Als der US-amerikanische Musiker in den 70ern seinen Krimi schrieb, war der Kalte Krieg in vollem Gang. Seine Story basierte auf Tatsachen, das Jazz-Festival mit Musikern aus den USA, die vom Einmarsch ...

Als der US-amerikanische Musiker in den 70ern seinen Krimi schrieb, war der Kalte Krieg in vollem Gang. Seine Story basierte auf Tatsachen, das Jazz-Festival mit Musikern aus den USA, die vom Einmarsch in die Tschechoslowakei überrascht wurden, basiert auf historischen Tatsachen. Die Armeen des Warschauer Pakts hatten 1968 dem Tauwetter in der Tschechoslowakei ein jähes Ende bereitet. Das hatten die Russe 1956 bereits in Ungarn erfolgreich zelebriert, 1961 beim Mauerbau in der DDR, und 1980 zwangen sie die Volksrepublik Polen, das Kriegsrecht auszurufen.

Dies war wohl der Anlass, dass sich in Amerika endlich ein kleiner Verlag fand, der Willens war, den Agententhriller herauszubringen. Kleines Problem: Das Verlagshaus brannte ab. Auch dies historische Tatsache. Größeres Problem: Ende der 80er war Gorbatschow und dem Fall des Eisernen Vorhangs war das Interesse an Ost-West-Verschwörungsgeschichten »out of time«. Tschechen, Slowaken und alle anderen in den Warschauer Pakt gezwungenen Vasallen der UdSSR hatten die Fremdherrschaft abgeschüttelt. Russland und Amerika wurden ziemlich gute Freunde – vorerst.

Ob sich Geschichte doch wiederholt? Nachdem Putin 2015 die Krim annektiert hatte, »Der Spion, der Jazz spielte« endlich in die Buchhandlungen. Doch dankt des Minsk-Abkommen erkaltete der Konflikt schnell. Ost und West gingen wieder auf Schmusekurs. Russisches Öl floss via Nordstream 1 durch die Ostsee, und weil wirtschaftliche Einbinden für Frieden sorgt, bastelte man gemeinschaftlicher Harmonie am Nordstream 2. Hätte ich es damals den Ost-West-Thriller gelesen, wäre ich vor Langweile gestorben.

Geschichte wiederholt sich! Jetzt in 2017, wo mir Bill Moodys Roman unter die Finger kommt, besteht kein Zweifel, dass sich Geschichte wiederholt. Russlands Überfall auf die Ukraine erinnert fatal an den Ersten Weltkrieg von 100 Jahren. Wer immer es liest, wird fasziniert sein von den detaillierten Schilderungen jener Tage in 1968, als sich Jung und Alt verzweifelt den Panzern entgegenstellten, letztendlich erfolglos – und zugleich an die Gegenwart denken. Die Ukrainer, damals unter kommunistischer Herrschaft und militärisch aufseiten Russlands an der Invasion beteiligt, habe die Russen in Kiew zurückgeschlagen. Ihren langen (und hoffentlich erfolgreichen) Freiheitskampf unterstützen die Tschechen und Slowaken mit großzügigen Panzerlieferungen.

Bill Moodys Agententhriller ist nicht nur zeitlos, sondern auch gut geschrieben, lesenswert!

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Veröffentlicht am 16.08.2023

Faszinierende Palette gelebten Lebens. Ein gelungener Versuch, mit Kunstsprache dem Erzählten näher zu kommen.

Das volle Leben
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Oral History als akademische Studienarbeit ist im Grunde unlesbar. Wort für Wort, Stammelei und Ähs und Öhs inbegriffen, werden in schriftlicher Form Tonbandprotokolle von Gesprochenem aufgezeichnet. ...


Oral History als akademische Studienarbeit ist im Grunde unlesbar. Wort für Wort, Stammelei und Ähs und Öhs inbegriffen, werden in schriftlicher Form Tonbandprotokolle von Gesprochenem aufgezeichnet. Ein schier unleserliches Kauderwelsch, das im Alltag fast jeder von uns spricht, wenn er nicht als Politiker oder Callcenter-Agent etc. perfekte Rede trainiert hat.

Zeitungen und Rundfunkanstalten redigieren solche Texte in aufwendiger Weise und legen sie vor Veröffentlichung den Interviewten zur Freigabe vor. Fernsehsoaps wie »Gute Zeiten schlechte Zeiten« habe Storyliner, die die »Futures« der Erzählstränge skizzieren, Drehbuchautoren für die einzelnen Folgen, und engagieren für das auf dem Bildschirm gesprochene Wort spezielle »Dialogschreiber«. Manuskripte von Theaterstücken habe ihr eigenes Bühnendeutsch, sei es nun Shakespeare, Goethe oder Brecht. In Kinofilmen existiert wiederum eine eigene Sprache, welche dem Zuschauer die Illusion geben soll, die Helden auf der Leinwand würden »ganz natürlich« sprechen.

Susanne Schwager lässt in »Das volle Leben« Frauen über achtzig selbst zu Wort kommen. Großformatige Porträts zu Beginn jeden Kapitels verstärken die Illusion, hier würden beispielsweise eine stinkreiche Schlagerdiva, eine bettelarme Zigeunerclan-Urahne, eine Schauspielerin gutbürgerlicher Herkunft oder eine energische Kämpferin für Frauenrechte, die sich vom ärmlichsten Immigrantenverhältnisse in einem abgelegenen Schweizer Bergdorf bis nach New York und in die hohe Politik hochkämpfte, und andere mit uns am Küchentisch sitzen und aus ihrem Leben erzählen.

Die Autorin bedienst sich hierbei einer ganz speziellen Kunstsprache, die statt mit wörtlicher Rede die literarische Technik der erzählten Rede anwendet – und das derart feinsinnig, dass sich eine faszinierende Palette gelebten Lebens zum wahren Lesegenuss entfaltet.

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Veröffentlicht am 10.08.2023

Ein Lesevergnügen für Rest- und Rostberliner - und solche, die sich dafür halten

Heute hat die Welt Geburtstag
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Die Ambivalenz provokanter Satire in der Rockmusik am Beispiel Rammstein:

Was kann und darf Satire, wo ist ironische Überspitzung wichtig, um verkrustete Gesellschaftsstrukturen aufzubrechen, und wird ...

Die Ambivalenz provokanter Satire in der Rockmusik am Beispiel Rammstein:

Was kann und darf Satire, wo ist ironische Überspitzung wichtig, um verkrustete Gesellschaftsstrukturen aufzubrechen, und wird die Menschenwürde verletzt. Zweifelsohne ist die MeToo-Debatte wichtig, muss sexueller Missbrauch im Kulturbereich skandalisiert werden. Doch auch Frauen- und Männeremanzipation ist vor Machtmissbrauch nicht gefeit, wie es Camille Paglia, US-amerikanische Hochschulprofessorin und bekennende Lesbe, bereits Mitte der 80er-Jahre in »Die Masken der Sexualität« beschrieb.

Ob sich in der 2017 von Christian „Flake“ Lorenz eine Antwort finden lässt? Ich bekam es im Sommer 2023 in die Hand gedrückt, just als die Missbrauchsvorwürfe zu Rammstein in allen Medien diskutiert worden.

Die Antwort ist: Ja, auf jeden Fall!
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Deutschlands weltweit erfolgreichste Rockband ist erklärtermaßen ostdeutsch, hat ihr Wurzeln in der Punkszene der DDR, arglistig bewacht von der Stasi, und nach der Wende mussten sie sich ewig abmühen, bis sie endlich, mehr oder weniger zufällig, von mächtigen Managern der Musikindustrie hochgepäppelt wurden.

All dies beschreibt Rammstein-Pianist »Flake« amüsant und unterhaltsam. Das Buch las ich an einem Abend und dem anschließenden Vormittag in einem Rutsch. Es muss daran liegen, dass er Berliner ist, genau wie ich. Während ich Ende der 70er in meiner Kreuzberger Altbauküche, also Rostberlin, am selbst gebastelten Keyboard psychedelische Töne entlockte, der Drummer drauflos drosch und sich der Gitarrist sein Opiumpfeifchen zum Glimmen brachte, bevor im stets die gleichen drei Akkorde über einen Phaser an dem Amp schickte (als einziger Besitzer eines Verstärkers mussten wir das dulden), über der gute Flake drüben hinter der Mauer im Prenzlberg, d.h. Restberlin, brav Kadenzen und Sonatinen am Klavier einübte.

So jedenfalls entnehme ich es der Autobiografie von Christian Lorenz, der stets Außenseiter geblieben ist – und genau das macht die Faszination dieses unterhaltsamen Buches aus. Es ist klar strukturiert. Ein Erzählstrang spielt in der Gegenwart, von den Vorbereitungen zu einem gigantischen Rockkonzert in Budapest mit riesigem Equipment bis zur verpassten After-Show-Party und anschließender Reise zur nächsten Touretappe in Zagreb. Der zweite Erzählstrang beginnt eben in jenen 70ern, wo ich diesseits der Mauer musikalisch rumdillettierte und Rockstars wie David Bowie und Iggi Popp nebenan in Neukölln und Schöneberg ihre Platten aufnahmen. Davon konnte der gute Flake nur träumen. Aber immerhin, er hörte Tag und Nacht Sender Freies Berlin und nahm die paradiesischen Klänge des nichtsozialistischen Auslands mit seinem Ost-Kassettenrekorder auf.

Ein zweites Mal hätte ich mich mit Flake beinahe in den 90ern getroffen. Er und seine Rammstein-Gründungsmitglieder lebten von Arbeitslosengeld und trieben sich im Prenzlberg rum. Da war ich in mein Bauernhaus im Havelland gezogen und kam nur zum Wochenende in die Stadt. Ein Franzose spielte Free-Jazz auf der Klarinette, genau wie ich (bloß nicht so grässlich, ansonsten hätte mich sicherlich Flakes Feeling-B als Bandmitglied akzeptiert, deren Sound ebenfalls Trommelfelle platzen ließ). Also wie gesagt: André lud beim U-Bahn-Fahren Leute zu seinen Keller-Sessions in der Schönhauser ein, Lorenzo mixte gegen nachts um zwei Kir Royal und Sabinchen mit dem Cello schleppte ich hernach ab, ins Havellandhäuschen.

Flake und Co. hingegen übten wie der Teufel im stinkenden Keller der Kulturbrauerei. Und als ihnen das Arbeitsamt die Pistole auf die Brust setzten, verpflichteten sie sich bangen Herzens, nach Zahlung einer bescheidenen Summe niemals mehr Stütze kassieren. Wenn die Rammsteins damals nicht doch noch Staatsknete kassiert hätten, über den Senats-Rockwettbewerb, wären sie wohl zu ihren alten Hilfsjobs zurückgekehrt, als Kartenabreißer wie Flake, oder als Korbflechter in Mac Pom, wie der olle Lindemann. Genauso unverblümt, trocken und gnadenlos realistisch beschreibt es Christian Lorenz in »Heute hat die Welt Geburtstag« (natürlich ohne meine Wenigkeit, denn irgendwie sind wir damals aneinander vorbeigelaufen, vermutlich mit Currywurst in der Hand, denn die an der U-Bahn-Station dort ist einfach legendär).

Die Autobiografie des Keyboarders der weltberühmten Rockband, die trotz ausschließlich deutscher Songtexte sowohl in den USA als auch in Russland und sonst wo ganze Fußballstadien füllt, bietet detaillierte Einblicke in das Musikbusiness, verfasst aus erster Hand. Was die Faszination dieses Buchs ausmacht, ist jedoch einerseits die abgeklärte Sichtweise eines »gelernten DDR-Bürgers«, der zwar in jenem Land, in der er aufgewachsen ist, Punkrebell war und nichts mehr hasste als Stasi und Skinheads, sich andererseits von »Goldenen Westen« niemals blenden lässt, die hinter die Masken schaut, selbst im hautnahen Kontakt mit Ami-Superstars.

Und andererseits – hier komme ich auf die Eingangsfrage bzgl. Satire versus Menschenwürde zurück – hat sich Flake bei aller Provokation auf der Showbühne seine Außenseiterrolle bewahrt. Anstatt sich wie bei den eingangs geschilderten Konzertauftritten in Budapest und Zagreb in üblichen Showstar-Allüren zu produzieren und seine Position als Projektionsfläche für »Starfucker« hernach im Backstage-Bereich zu missbrauchen, ist er erklärtermaßen »Passant«, nutzt die Bandauftritte in Europa und Übersee für lange Spaziergänge, in denen er sich unter die ganz normalen Menschen mich, sich darüber freut, dass er nicht erkannt wird, teilweise als einer von ihnen angesehen wird. Jene inneren Monologe, die ihm dabei durch den Kopf gehen, auf Papier gebracht: Dies sind für mich als Leser die schönsten Passagen dieses beeindruckenden Buches. Nun gut, ich bin Berliner, genau wie Flake. Wir sind eigen ganz eigenen Spezies, ordinär und vulgär, geliebt und gehasst zugleich. Doch irgendwie respektiert man uns, traut man uns alles zu, haben wir Narrenfreiheit. Es wird daran liegen, dass wir, wie jüngst im November ’89, (es kommt mir vor wie gestern), schier unüberwindliche Mauern einreißen können

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