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Veröffentlicht am 29.06.2023

Absolut lesenswert!

Revolutionär und Staatsgründer
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Wolfgang Templin ist vielen heutzutage nur als DDR-Bürgerrechtler bekannt. Dass er zugleich ein exzellenter Kenner der modernen osteuropäischen Geschichte ist und sich stark in Polen engagiert hat, ist ...

Wolfgang Templin ist vielen heutzutage nur als DDR-Bürgerrechtler bekannt. Dass er zugleich ein exzellenter Kenner der modernen osteuropäischen Geschichte ist und sich stark in Polen engagiert hat, ist eine Überraschung.

Er kennt die Sprache und die Leute so gut, wie nur wenige deutsche Schriftsteller, ist vollkommen frei von sentimentalen Erinnerungen an so genannten »deutschen Ostgebiete«, die man westdeutschen Schriftstellern wie Siegfried Lenz und Günter Grass verzeihen mag. Auch verzichtet er auf klischeehafte Verniedlichung der Polen, wie es dem Kabarettisten Steffen Möller zu eigen ist, der auf seine Weise sicherlich viel zur deutsch-polnischen Verständigung beigetragen hat.

Seine Biografie des polnischen Staatenlenkers Józef Piłsudski endet mit einem kleinen Kapitel namens »Hoffnungszeichen«. Jedoch, als es im März 2022 erschien, hatte Russland bereits die Ukraine überfallen und Polen wurde zum Frontstaat der Nato. Warschau liefert Panzer nach Kiew und leistet humanitäre Hilfe, hat Millionen ukrainischer Flüchtlinge großzügig aufgenommen.

Warum jetzt eine Biografie lesen über einen polnischen Politiker, der vor fast einem Jahrhundert starb? Und überhaupt, was geht uns schon polnische Geschichte an. Wir Deutschen fahren als Tanktouristen oder zum billigen Ostseeurlaub rüber. Mit dem Euro in der Tasche bedient man uns zuvorkommend, ohne dass man uns Deutsche mit dieser vertrackten polnischen Sprache konfrontiert. Es sind nette Leute dort drüben, als billige Erntehelfer und Putzfrauen gern bei uns gesehen. Oder die Geschichte Polen studieren, ist das nicht ein bisschen zu viel verlangt?

Der Autor, obwohl fachlich versiert und der Sprache unseren östlichen Nachbarn mächtig, verzichtet aufs Dozieren und Belehren, auf endlose Schachtelsätze und Fußnoten – er ist nicht eitel. Zudem wendet Wolfgang Templin einen literarischen Trick, mit dem britische Historiker eine breite Leserschaft für sich gewinnen: In Mäandern wie bei einem sich gemächlich dahin schlängelnden Flusslauf mit vielen Seitenarmen schmückt er die Biografie des Vaters der Zweiten Polnischen Republik mit Anekdoten und Reiseerzählungen, die uns Leser über die Baltischen Staaten ins tiefste Sibirien führen, wo Piłsudski von einer Wahrsagerin aus der Hand gelesen wird. In die Schweiz, nach London und Paris, in ein Psychiatrie-Gefängnis in St. Petersburg, dem unser Held verkleidet als Gentleman mit Frack und Melone verkleidet entkommt, nach Lemberg und Krakau, wo die Toleranz der österreichischen K.u.K. ihn aufatmen lässt.

Das Buch zeigt am Beispiel des »Kommandanten«, wie man den knorrige Polen nannte, wie sich die Sozialdemokratie in Osteuropa entwickelte. Konspirative Parteiarbeit unter Lebensgefahr und Konflikte mit Rosa Luxemburg, seiner Gegenspielerin, die als Salonkommunistin die Unterwerfung polnischen Arbeiter unter russische Parteifunktionäre forderte.

Piłsudski war aufgeklärter Intellektueller und zugleich Pragmatiker. Er trat für religiöse Toleranz ein, auch gegenüber Juden, besiegte in einem waghalsigen Militärmanöver die Russen und zwang sie zum Friedensvertrag. Sein großes Ziel, eine Wiederauferstehen der Rzeczpospolita, als Polen, Litauen und die Ukraine ein Staatenbündnis eingingen, scheiterte. Jedoch wird dem Leser nach 450 Seiten unterhaltsamer Biografie klar, wieso es jetzt in 2022 zu solch einer starken Solidarität der drei osteuropäischen Staaten bei Widerstand gegen Russlands Invasion gekommen ist.

Entlang der Lebensgeschichte eines legendären Polen Wechselwirkung ost- und westeuropäischer Politik vom ausgehenden 19ten bis weit ins 20ste Jahrhundert erzählt.

Lesenswert!

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Veröffentlicht am 29.06.2023

Die dunklen Schatten der Staatssicherheit nach der politischen Wende

Der Magier
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Bonzen aus der DDR und Bonzen aus der BRD, Hand in Hand nach der Wiedervereinigung den Staat ausplündernd - ein Thriller, so nahe an der Realität, dass er verboten gehört

Blicken wir zurück auf ihr ERstlingserk ...

Bonzen aus der DDR und Bonzen aus der BRD, Hand in Hand nach der Wiedervereinigung den Staat ausplündernd - ein Thriller, so nahe an der Realität, dass er verboten gehört

Blicken wir zurück auf ihr ERstlingserk "Der Tunnel":

Es scheint der Autorin nicht ganz klar zu sein, ob sie Dokumentation oder Fiktion verfassen will. Doch diese Kritik geht an der Realität vorbei. Viel besser lässt sich ihre literarische Unentschlossenheit verstehen, wenn man ihren deutlichen Hinweis liest, wonach es bei ihrem Werk angeblich keinerlei Bezug zur Realität gibt. Dies ist natürlich eine Schutzbehauptung, werden die Verbrechen des Kalten Krieges doch auch heutzutage von den Geheimdiensten in Ost und West größtenteils vertuscht, sitzen die Verbrecher in Amt und Würden bzw. auf hohen Pensionen, wird ihr Treiben von den vielen Richtern und Staatsanwälten, die Jahrzehnte nach der Wende die ostdeutsche Justiz beherrschen, gnadenlos gedeckt.

Gehen wir mal rein fiktiv - ohne Wirklichkeitsbezug denn wer will schon von alten SED- und Stasi-Seilschaften vor Gericht schikaniert werden - einfach mal davon aus, dass die Autor Magdalena Parys in ihrem Doku-Thriller aus wahren Gegebenheiten schöpft, und zwar hautnah, weil sie selbst Betroffene ist, Opfer natürlich, denn Täter würden niemals solch ein Buch schreiben, würden sich niemals literarisch enttarnen.

Unter dieser Hypothese ist "Tunnel" in faszinierendes Werk Zeitschichte, verfasst aus Angst und Wut, ein Vorläufer ihres genialen Romans "Der Magier", in dem es ihr Jahre später gelungen ist, emotionale Distanz zu den Schrecken der Vergangenheit zu erlangen, was dem Leser dann auch zugute kommt. In diesem Sinne empfehle ich dieses Buch und das Folgewerk.

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Veröffentlicht am 29.06.2023

Tote Kinder, einst verscharrt und nun endlich ...

Unter dem Maulbeerbaum
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Ein historischer Roman, bunt und vielfältig und elegant, im Grund lesenswert, wenn ... ja wenn ... der Autor, ein Historiker, in seinem ersten belletristischen Werk nicht auf professionelles Lektorat und ...

Ein historischer Roman, bunt und vielfältig und elegant, im Grund lesenswert, wenn ... ja wenn ... der Autor, ein Historiker, in seinem ersten belletristischen Werk nicht auf professionelles Lektorat und ordentlichen Buchsatz verzichtet hätte.

Und so quält sich der Leser durch Textwüsten, die seitenweise ohne irgendeinen Absatz oder sonstige Gestaltung auf elender Breite mit schmalsten Rand dahin geklatscht wurden. Endlose Bandwurmsätze torpedieren das Lesevergnügen, nicht nur auf anständiges Lektorat, sondern auch auf Korrektorat wurde verzichtet. Anscheinend wurde der Text nicht einmal durch eine automatische Word-Korrektur gejagt, denn ansonsten wäre aufgefallen, dass oftmals Leerzeichen am Ende von wörtlicher Rede falsche Ausführungszeichen bewirken.

Verdammt schade, denn es ist ein großartiges Epos, das jenseits der heutzutage gängigen Schwarz-Weiß-Malerei an plastisch und unterhaltsame geschilderten Charakteren aufzeigt, wie sehr Europäer seit der Kaiser- und Zarenzeit bis jetzt im 21sten Jahrhundert eingebunden sind in weltpolitische Strömungen, wie sich innerhalb einer einzigen Person Täter- und Opferbiografien mischen.

Der Autor Klaus Bachmann ist ein großartiger Historiker mit weitem Horizont. Jedoch fehlt ihm als Hochschulprofessor anscheinend jene Demut, die nötig ist, um im Alter noch dazuzulernen, und sich ins für ihn neue Genre der Belletristik einzuarbeiten. Wenn sich schon kein großer Publikumsverlag für sein Werk interessieren konnte, so hätte er zumindest aus eigenem Budget eine deutschsprachige Lektorin finanzieren und sich von ihr belehren lassen.

So aber ist dieser von ihm an der Warschau Universität geschriebene und für Polen eigentlich hochinteressante Roman nicht nur für Deutsche schier unlesbar, sondern auch eine absolute Quälerei für polnische Übersetzer, kommt doch bekanntlich im Deutschen im Gegensatz zu fast allen anderen Sprache das Wichtigste am Ende eines Satzes und da Bachmann fast ausschließlich endlose Bandwurmsatze verfasst, ist dies im Grunde eine deutsch-polnische Quälerei, die niemandem zuzumuten ist.

All dies sind wertvolle Hinweise für den Autor, denn in ihm schlummert ein echtes Erzähltalent. Sein Buch ist eine bunte Perle in fest verschlossener Muschel, er selbst in puncto Belletristik ein ungeschliffener Diamant.

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Veröffentlicht am 29.06.2023

grandios!

Der Verdächtige
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Unterbezahlte Bundesbehörde gegen mordenden Richter: Ein ungleicher Kampf, der für eine beiden Parteien tödlich endet

Unterbezahlte Bundesbehörde gegen mordenden Richter: Ein ungleicher Kampf, der für eine beiden Parteien tödlich endet

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Veröffentlicht am 29.06.2023

Mit Vorsicht zu genießen

Die Vernunft und ihre Feinde
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Thilo Sarrazin ist zweifelsohne ein Bestsellerautor – und er genießt es. 2010 lief er mir auf der Frankfurter Buchmesse zufälligerweise über den Weg. Für ein paar Sekunden drängten sich seine Fans um ihr, ...

Thilo Sarrazin ist zweifelsohne ein Bestsellerautor – und er genießt es. 2010 lief er mir auf der Frankfurter Buchmesse zufälligerweise über den Weg. Für ein paar Sekunden drängten sich seine Fans um ihr, hielten ihm flehentlich »Deutschland schafft sich ab« zum Signieren hin, während ihn Bodyguards abschirmten. Er widersetzte sich, ließ sich nur widerwillig in eine Seitentür abdrängen. Ein merkwürdiger Glanz lag in seinen Augen, den ich erst jetzt verstehe, angesichts der autobiografischen Anmerkungen im neuesten Werk.

»Die Vernunft und ihre Feinde« ließ Sarrazin im August 2022 von Uwe Tellkamp präsentieren, einem zunehmend brauner werden Schwurbler – an sich schon ein Paradox, jedoch wird das Buch trotz derartiger Promotion wohl kaum die Millionenauflage eines vor hundert Jahren verfassten Bestsellers erreichen: https://en.wikipedia.org/wiki/MeinKampf

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Auf den ersten Seiten seines neuen Buchs verurteilt Sarrazin Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine aufs Schärfste. Er ordnet sich in der politischen Mitte dar, klagt die ideologische Blindheit der Rechten und der Linken an, teilt gleichermaßen gegen rechte Corona-Verschwörungsmythen aus wie gegen linken Genderwahn. Sich selbst sieht er als kritischen Rationalisten, im jüdischen Philosophen Karl Popper und dessen 1944 erschienen Werk »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« https://de.wikipedia.org/wiki/Die
offeneGesellschaftundihreFeinde. Fast möchte man glauben, Sarrazin habe sich vom Saulus zum Paulus gewandelt, sein neuestes Werk würde sich gegen »Falsche Propheten« wenden – den gleichnamigen Text veröffentlichte der jüdische Literatursoziologe Leo Löwenthal im Jahr 1947 und wurde in der deutschen Übersetzung von Susanne Hoppmann-Löwenthal 2021 neu aufgelegt.

Eingangs Sarrazins analysiert in »Die Vernunft und ihre Feinde« brillant jene Gründe, die heutzutage zur Popularität von FakeNews: Belesenheit spielt angesichts frei verfügbaren Wissen und Pseudowissen keine Rolle mehr. Musste man sich vor der Erfindung von Internet und Smartphone sein Wissen mühsam durch das Studium von Fachliteratur erwerben, so reicht heutzutage ein Mausklick bzw. Daumenwisch auf dem Smartphone. Für welche gefühlte Meinung auch immer lassen sich heutzutage Fakten bzw. so genannte »Alternative Fakten« zu finden. Angelehnt an die Philosophie Karl Poppers, dessen Verehrung er mit dem SPD-Kanzler Helmut Schmidt teilte, sieht sich Thilo Sarrazin als Aufklärer, als Verteidiger und Beschützer der Demokratie. Irrationale und einzig dem Gefühl sich überlassende Gesellschaftsströmungen seien in gewissem Maße hinzunehmen, wenn eine Gesellschaft offenbleiben will. Jedoch müsse beim Volk ständig und immer wieder Freude an rationaler Wahrheitssuche geweckt werden,

Im autobiografischen Kapitel von »Die Vernunft und ihre Feinde« schildert der Autor jene harte akademische Disziplin, die ihm sein Vater auferlegte, beschreibt seine Mutter, Vertriebene aus den Ostgebieten des Deutschen Reichs, im Gegensatz dazu als verschlossen, melancholisch und depressiv: ein vollkommen gegensätzliches Elternpaar ohne gemeinsame Lebensauffassung. Aufwachsend unter zuerst einmal ärmlichen Verhältnissen in einer westfälischen Kleinstadt zieht es sich früh in die Welt der Bücher zurück. Inspiriert vom Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit verlegt er sich auf die rationale Welt der Zahlen – womit wir auf Seite 45 seines Buches angelangt sind, einer m.E. zentralen Passage, die seinen eingangs geschilderten Erfolg auf der Frankfurter Buchmesse 2010 erklärt, zugleich jedoch all das ad absurdum führt, was er jetzt in 2022 entlarven will als »Irrtümer und Illusionen ideologischen Denkens«.

Die Hypothese, dass sich mit Mathematik die menschliche Psyche erfassen lässt, mag 1972 für den damals gerade einmal 27-jährigen Thilo Sarrazin verlockend gewesen sein. Hoffte er, auf diese Weise die unterschiedlichen Lebensauffassungen seiner Eltern zu überbrücken? Er führte damals nach Anleitung des Psychologen Hans-Jürgen Eysenck an sich selber einen Intelligenztest durch, richtete nach eigener Aussage sein späteres Leben danach aus und veröffentlichte die Studien 38 Jahre später »unbefangen und in wissenschaftlich einwandfreier Diktion« (Zitat Sarrazin 2022 Seite 45) in »Deutschland schafft sich ab«, seinem Durchbruch als deutscher Bestsellerautor. Auf dieses Buch kommt er immer wieder zurück, bleibt bei den zweifelsohne als rassistisch und unwissenschaftlich einzustufenden Thesen – wider besseren Wissens, denn besagter Eysenck hatte seine Studien gefälscht, sie wurden 2019 vom Londoner King's College als »unsicher« eingestuft, man sprach in der Fachwelt vom »schlimmsten wissenschaftlichen Skandal aller Zeiten«. https://de.wikipedia.org/wiki/HansJ%C3%BCrgenEysenck

KritikundKontroversen

Sarrazins Veröffentlichung jetzt in 2022 kann als Versuch gewertet werden, die fatale Wirkung seiner in den letzten zwölf Jahren mit Irrtümern und Illusionen ideologischen Denkens gespickten Publikationen insofern zurückzunehmen, als dass er als gelernter Volkswirt und erklärter Anhänger der Philosophie Karl Poppers mit seinen Bestsellern letztendlich Geister geweckt hat, die sich als erklärte Feinde von Demokratie und offener Gesellschaft verstehen.

»Der größte Angriff auf die menschliche Vernunft« sei Russlands Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022, schreibt Thilo Sarrazin auf der ersten Seite seines neuen Bestsellers. Um zu verstehen, welchen Kampf er als Zauberlehrling jetzt führt, an der Schwelle zum Dritten Weltkrieg, reichen Worte, Zahlen oder Statistiken nicht aus. Man muss die Kunst bemühen, ewige Mittlerin zwischen Intellekt und Psyche. Niemand konnte dies besser als Walt Disney. Im Gegensatz zu Leo Löwenthal und Karl Popper beantworte er 1940 den Schrecken des Zweiten Weltkriegs mit der Bildsprache des Zeichentricks. Sein wohl bedeutendstes Epos »Fantasia« war damals ein finanzielles Desaster, trieb sein Filmstudio beinahe in den Bankrott, ist mittlerweile jedoch zum Bestseller geworden. »The Sorcerer's Apprentice« ist immer noch sehenswert.

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