Selbstmordgefährdeter Kapitän ermittelt in Glückstadt
Fortunas SchattenDas Buch:
Nachdem ich als erstes den 4. Teil „Tod in der Speicherstadt“ dieser Reihe gelesen hatte und restlos überzeugt war, musste ich ganz unbedingt von vorn anfangen um heraus zu finden, wie Hauke ...
Das Buch:
Nachdem ich als erstes den 4. Teil „Tod in der Speicherstadt“ dieser Reihe gelesen hatte und restlos überzeugt war, musste ich ganz unbedingt von vorn anfangen um heraus zu finden, wie Hauke Sötje zum Inspektor der Kieler Kriminalpolizei werden konnte und was genau ihn immer noch so belastet. Da das Print-Exemplar nicht mehr im Handel verfügbar ist, bedanke ich mich umso mehr bei der Autorin, die mir eines der wenigen Restexemplare zur Verfügung stellte. Ganz herzlichen Dank, liebe Anja, für dieses Lesevergnügen!
Die Kapitel des Buches sind mit Originalnachrichten aus der „Glückstädter Fortuna“ von 1894 – eben dem Jahr, in dem die Geschichte spielt – überschrieben und haben in gewisser Weise einen Bezug zum jeweiligen Kapitel. Dadurch hat der Leser das Gefühl, sich nicht in einer fiktiven Geschichte sondern vielmehr in der ganz realen Welt von 1894 in Glückstadt zu befinden. Mir gefallen diese Schmankerl aus einer längst vergangenen Zeit.
Worum geht’s?
Hauke Sötje – Kapitän und tendenziell selbstmordgefährdet – heuert auf dem Ewer „Alte Möwe“ an um mit harter Arbeit seine Überfahrt nach Glückstadt zu finanzieren. Der alte Kapitän Jenssen des Ewers – ständig betrunken und bekannt dafür, seine Mannschaft um ihre wohlverdiente Heuer zu betrügen – versucht es auch dieses Mal, woraufhin es üble Schlägerei gibt, in dessen Nachgang sich Hauke im örtlichen Gefängnis wiederfindet.
Ausgerechnet Graf von Lahn – Haukes Verteidiger in England, nachdem sein Schiff „Revenge“ mit Mann und Maus untergegangen war – sorgt dafür, dass Hauke umgehend aus dem Gefängnis entlassen wird und hält auch ansonsten schützend seine Hand über ihn. Aber warum? Ehe Hauke sich versieht, ist er als Ermittler im Dienste des Grafen unterwegs und findet nicht nur heraus, was in der Glückstädter Heringsfischerei AG schief läuft.
Charaktere:
Hauke Sötje und Sophie Struwe tun offenbar das, was man als „gegen den Strom schwimmen“ bezeichnen könnte. Sophie, die Tochter des Glückstädter Möbelfabrikanten Hermann Struwe, soll von ihrer Tante Dora verheiratet werden. Allerdings ist Sophie nicht die klassische junge Dame, die still und blöd an der Seite eines gut situierten Bürgers stehen will. Sie denkt lieber selbst und hat nicht viel für die Sittlichkeit besagter Damen übrig – sie fällt ja nicht einmal in Ohnmacht! Sehr zum Unmut ihrer Tante, der langsam die Geduld mit Sophie ausgeht. Mir war Sophie damit überaus sympathisch. Ich habe mehr als einmal geschmunzelt, wenn sie sich wieder einmal aufgelehnt hat und schlagfertig reagierte, womit sie ihre Zuhörer gern in Erstaunen und manchmal auch Widerwillen versetzte.
Hauke mag eben diese Art an Sophie. Und ich mag Hauke! Ich fand seine Gedankengänge dahingehend, dass er dann wohl seinen ehrenhaften Tod noch etwas nach hinten verschieben müsse, um die Aufgabe, die Graf von Lahn ihm auferlegte, zu erfüllen, irgendwie amüsant, wenngleich der Grund hinter seinem Todeswunsch alles andere als das war. Jedoch zeigt dies einen gewissen (schwarzen) Humor. Hauke ist überdies – genau wie Sophie übrigens – sehr klug. Beide können logische Zusammenhänge erkennen, schauen genau hin und haben auch keine Scheu, die Wahrheit auszusprechen. Dies trifft natürlich nicht immer auf die Zustimmung der Bürger der Stadt. Und auch das macht mir die beiden so überaus sympathisch.
Anton Rübcke, der Reviervorsteher der Stadt, war mir auf Anhieb unsympathisch. Ich kann nicht einmal genau sagen, worin das begründet ist. Immerhin tut er ja nur seinen Job. Aber da er so wenig bereit ist, auch nur einmal genauer hinzusehen – es könnte ja schließlich Arbeit bedeuten und überhaupt will er kein Sozialistenpack in seiner Stadt haben – ist er irgendwie abstoßend. Darüber hinaus kann er überhaupt nicht nachvollziehen, warum nun ausgerechnet Hauke Sötje von Werner von Lahn „beschützt“ wird. Schließlich ist Hauke eine Schande für das deutsche Kaiserreich. Vielleicht sind es einfach die Vorurteile und dieses „das war schon immer so“, das meine Antipathie begründet.
All ihren Charakteren haucht Anja Marschall authentisch Leben ein. Als Leser kann man sich gut in sie hineinversetzen, sie sich vorstellen. Es fällt so unglaublich leicht, eine Figur zu mögen oder eben auch nicht und es macht viel Spaß mit Hauke und Sophie mit und gegen die Anderen zu ermitteln. Wirklich gut gefallen hat mir Hinnerk. Er ist Haukes Freund und auch wenn er nur eine Nebenrolle spielte, so ist er mir ans Herz gewachsen – tatkräftig, ehrlich und eben einfach liebenswert, gerade auch mit seiner Eigenart Priem zu kauen und Platt zu schnacken. Zudem vertraut er Hauke zu 100%. Solche Freunde braucht man!
Der Kriminalfall:
Der Kriminalfall an sich bleibt spannend bis zum Schluss. Die Autorin nötigt dem Leser das Miträtseln einfach ab. Zumindest ich habe versucht heraus zu finden, was genau gespielt wird. Zwar hatte ich meinen Verdacht und zumindest der Mittäter war mir auch von Anfang an recht suspekt, dennoch wurde der Täter tatsächlich erst sehr spät entlarvt. Das gefiel mir ausgesprochen gut. Immer wieder gab es Wendungen, mit denen der Leser nicht unbedingt rechnen konnte und das Puzzle setzt sich langsam Stück für Stück zusammen.
Schreibstil:
Der Schreibstil von Anja Marschall ist locker und flüssig zu lesen. Sie schreibt immer mit dieser Prise Humor, die den Kriminalfall nicht ganz so streng und die Charaktere nicht so bierernst erscheinen lässt. Ich mag diese Art zu erzählen sehr. Es finden sich keine Längen und es geht flott voran. Der Leser kann das Buch kaum zur Seite legen, wenn er bemerkt, dass er schon mitten in den Ermittlungen steckt.
Historischer Hintergrund:
Ich habe lange Zeit selbst in Glückstadt gelebt und hatte den Eindruck, dass sich diese beschauliche kleine Stadt seit Ende des 19. Jahrhunderts nicht so sehr verändert haben kann. Während des Lesens fand ich mich immer wieder, wie ich durch die Straßen schlenderte, am Hafen und am Fleet unterwegs war. Anja Marschall verleiht dem historischen Glückstadt noch einmal Leben und jeder der einmal dort war, wird es in diesem Buch wiederfinden. Sie hat sehr gut recherchiert und gibt dem Leser in einem ausführlichen Anhang viele Informationen über ihre Recherchen weiter. Neben dem Personenregister, in dem sie reale historische Personen markierte, gefiel mir die Übersetzung des Plattdeutschen besonders gut. Denn eben diese Sprache macht den Roman besonders authentisch, ist aber nicht jedem Leser geläufig.
Besonders spannend fand ich überdies, dass Anja Marschall Einblick in die Ermittlungsarbeit dieser Zeit gewährt. Als Hauke in der Leichenhalle steht und sich von Dr. Halling erklären lässt, was dieser heraus gefunden hat, erklärt sie damit auch mir, wie weit die damaligen Erkenntnisse bei der Aufklärung waren. Das fand ich nicht nur unterhaltsam sondern überaus interessant.
Fazit:
Ein spannender Auftaktroman mit zwei überaus sympathischen Protagonisten, die man einfach mögen muss, weil sie sich von ihren Schicksalen nicht unterkriegen lassen. Eine Geschichte mit Humor erzählt, in einer lebendigen Stadt des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Großartig! 5 von 5 Sternen.