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Veröffentlicht am 27.02.2023

Dschinns der Vergangenheit und Gegenwart

Sibir
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Inspiriert von der eigenen Familiengeschichte erzählt die1985 in Niedersachsen als Tochter eines 1945 nach Zentralasien deportierten Zivilgefangenen und einer Polin geborene Autorin Sabrina Janesch in ...

Inspiriert von der eigenen Familiengeschichte erzählt die1985 in Niedersachsen als Tochter eines 1945 nach Zentralasien deportierten Zivilgefangenen und einer Polin geborene Autorin Sabrina Janesch in "Sibir" vom Schicksal der Russlanddeutschen und ihrer Nachkommen, von Auswanderung, Umsiedlung, Vertreibung, Enteignung, Verschleppung, Befreiung und Rückkehr. In zwei Erzählsträngen, 1945/46 und 1990/91, verwebt sie zwei Kindheiten: Josef Ambacher wurde 1945 als Zehnjähriger nach Sibirien, genauer Kasachstan, verschleppt, seine Tochter Leila lebt im gleichen Alter 1990/91 in Mühlheide, Niedersachsen, und wächst mit seinen Geschichten auf:

"Wofür mein Vater keine Worte fand, das kleidete er in Geschichten." (S. 15)

"Ich hing an den Geschichten meines Vaters wie an einem Tropf…" (S. 17)

In der Rahmenhandlung erzählt die erwachsene Leila von ihrem Bemühen, die Geschichten des inzwischen über 80-jährigen, zunehmend dementen Vaters zu bewahren.

Kasachstan
Ursprünglich aus dem Egerland stammend, wanderte die Familie Ambacher im 18. Jahrhundert wie viele andere nach Galizien aus, wurde von den Nationalsozialisten „heim ins Reich“ geholt und im zuvor polnischen Wartheland angesiedelt, bevor sie auf der Flucht von der Roten Armee aufgegriffen und in die Verbannung nach Zentralasien geschickt wurde. Zusammen mit den Großeltern und der Tante – der kleine Bruder verstarb auf dem Transport, die Mutter verschwand spurlos – verbrachte Josef zehn Jahre in einem Dorf mit Deportierten verschiedenster Nationalitäten unter der Aufsicht des Dorfsowjets in der lebensfeindlichen Steppe. Hunger, Mangel an allem, extreme Wetterverhältnisse, Ausgestoßensein, Angst vor den Gulags, aber auch Abenteuer, die Begegnung mit der kasachischen Kultur, ein zugewandter russischer Lehrer und sein kasachischer Freund Tachawi bestimmten Josefs Leben bis zur Ausreise 1955 nach Deutschland. Allgegenwärtig war die Trauer um den Verlust der Mutter:

"Wenn er auf den Beinen war und umherlief, konnte er die Gedanken an die Mutter manchmal für eine Weile abschütteln. Seine Traurigkeit wanderte langsamer durch den Raum als er selbst…" (S. 120/121)

Mühlheide
35 Jahre nach den Zivilgefangenen kamen die Spätaussiedler nach Deutschland, für die Siedlungsbewohnerinnen und –bewohner am Rande von Mühlheide bedeutete dies eine schwierige Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit, Berührungsängste und Schuldgefühle. Aus kindlicher Ich-Perspektive erzählt Leila von Menschen, die „jeder Vorstellung von Beheimatung und Zuhause misstrauen“ (S. 247), ihrer Freundschaft mit Arnold, der Isolation der Siedlungskinder und von ihrer Grenzwallfunktion zwischen Türken und „Normalos“ im Klassenzimmer, ihrem Konflikt mit dem ehemaligen SS-Mann Tartter und dem Spätaussiedlerjungen Pascha, der ihr Duo zum Trio macht.

Ein wichtiger Teil der deutschen Geschichte
Herausragend in Sibir ist der Teil über Josefs Kindheit, das Aufwachsen unter Extrembedingungen, die man in jedem Wort fühlt. Gefallen hat mir auch, wie gekonnt Sabrina Janesch Sachinformationen über die historischen Bevölkerungsverschiebungen in den literarischen Text einbindet, wie sie fließend die beiden Kindheiten über Begriffe wie „Sturm“, „Hütte“, „Schuld“, „Freundschaft“, „Schule“ oder „Familie“ verwebt und sie in die anrührende Rahmenhandlung einbindet. Auch die sprachliche Qualität des Romans mit den eingeflochtenen deutsch-russisch-kasachischen Vokabelketten hat mich überzeugt. Allerdings hadere ich mit der Gewichtung der Erzählstränge, denn Leilas kindliche Klagen über ihre „schwere“ Kindheit, die dramatisch beschriebene Außenseitersituation der nachgeborenen Kinder 35 Jahre nach der Rückkehr der Eltern, die ich aus eigener Anschauung so nicht nachvollziehen kann, und der aufgebauschte Konflikt mit dem Tartter haben mich mehr genervt als ergriffen und dienen vor allem der Konstruktion von Parallelen. Empfehlenswert ist Sibir trotzdem. Mit mehr Kasachstan und weniger Mühlheide wäre es sogar ein Lieblingsbuch geworden.

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Veröffentlicht am 23.11.2022

Kreuthner in Bedrängnis

Herzschuss
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Im Jubiläumsband zehn der kultigen Tegernsee-Reihe um das ungleiche Duo Wallner/Kreuthner lässt der Jurist und Autor Andreas Föhr ausnahmsweise nicht den unkontrollierbaren und unkonventionellen Polizeihauptmeister ...

Im Jubiläumsband zehn der kultigen Tegernsee-Reihe um das ungleiche Duo Wallner/Kreuthner lässt der Jurist und Autor Andreas Föhr ausnahmsweise nicht den unkontrollierbaren und unkonventionellen Polizeihauptmeister Leonhardt Kreuthner die Leiche finden, sondern den reflektierten, teamfähigen Kriminalhauptkommissar Clemens Wallner. Jedenfalls ist er zuerst am Fundort, denn beim Skifahren hat ihm ein Unbekannter die Koordinaten in die Hand gedrückt. Doch kurz nach ihm taucht auch Kreuthner in dem Hotelrohbau auf. Warum? Hat er wirklich nur zufällig Wallners Wagen gesehen oder steckt mehr dahinter?

Ein Mordfall, viele mögliche Motive
Das Opfer, Philipp Gansel, getötet mit mehreren Schüssen, war Mitglied des Bayerischen Landtags mit auffallend steiler Politkarriere in den vergangenen zehn Jahren. Hat er sich mit den falschen Leuten eingelassen oder ist das Motiv eher im privaten Bereich zu suchen? Was hat ein zwei Monate zuvor in der Mangfallmühle, dem übel beleumdeten Lieblingsgasthaus Kreuthners, „wo sich Menschen zusammenfanden, denen die schattigen Niederungen gerade recht waren“ (S. 7), ausgehecktes Femegericht des Polizeihauptmeisters und seiner zwielichtigen Freunde gegen Philipp Gansel damit zu tun? War ihnen die nur halbwegs geglückte Abreibung nicht genug? Nicht lange, und Kreuthner wird zum Haupttatverdächtigen, denn Gansels Frau Philomena war vor langer Zeit seine Freundin, und dass sie in ihrer Ehe häuslicher Gewalt ausgesetzt war, wollte er nicht dulden. Wallner allerdings glaubt nicht so recht an die Schuld des langjährigen kollegialen Freundes und ermittelt in alle Richtungen, auch wenn die Arbeit durch die neue Leiterin der Polizeiinspektion Miesbach, Karla Tiedemann, einem weiteren Alphatier unter den Vorgesetzten, nicht einfacher wird. Der „Profilügner“ (S. 143) Kreuthner manövriert sich derweilen mit seiner ganz eigenen Logik immer tiefer in den Schlamassel. Seine Hoffnungen ruhen einzig auf Wallners Ermittlungsgeschick, denn selbst seine Mangfallmühlenkumpel lassen Solidarität vermissen:

"Weißt – ich hab so viel Dusel g’habt bei dem ganzen Scheiß, den ich angestellt hab in meinem Leben. Irgendwer hat mich immer rausgehauen. Oft warst du des. Und vielleicht sperren die mich jetzt für was ein, was ich gar nicht war. So als Ausgleich mal andersrum." (S. 263)

Eine herausstechende Regionalkrimi-Serie
Wie immer in dieser Reihe steht trotz des durchaus vorhandenen, mit Augenmaß dosierten Lokalkolorits und Einblicken in das Privatleben Wallners die klug durchdachte Krimihandlung mit Rückblicken in die nähere und ferne Vergangenheit im Mittelpunkt. Es ist jedes Mal eine große Freude, die beiden bodenständigen Polizisten wieder zu treffen, den grundsoliden Kripobeamten Wallner mit der legendären Abneigung gegen Zugluft und das Urgestein Kreuthner, für den kein Gesetz zu gelten scheint, aber auch Wallners inzwischen 91-jährigen Großvater Manfred. Spritzige Dialoge, unerwartete Wendungen, Spannung bis fast zur letzten Seite, seriöse Ermittlungsarbeit und skurrile Slapstickeinlagen haben mich wieder sehr gut unterhalten, auch wenn der Humor in anderen Bänden der Reihe noch mehr nach meinem Geschmack ausfiel. Auf jeden Fall bin ich jedoch bei Band elf wieder dabei, schon um erfahren, ob der frische Wind in der Polizeiinspektion für den frisch geschiedenen Wallner auch privat weht…

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Veröffentlicht am 12.09.2022

Gesellschaftskonforme Trauer

Schlangen im Garten
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Wie das ist, wenn plötzlich die Mutter stirbt, lässt Stefanie Höfler in ihrem Jugendroman "Der große schwarze Vogel" den 14-jährigen Ben erzählen. Fassungslos müssen er, sein sechsjähriger Bruder Krümel ...

Wie das ist, wenn plötzlich die Mutter stirbt, lässt Stefanie Höfler in ihrem Jugendroman "Der große schwarze Vogel" den 14-jährigen Ben erzählen. Fassungslos müssen er, sein sechsjähriger Bruder Krümel und ihr Pa miterleben, wie Sanitäter die Mutter nicht retten können. Ben erzählt von der Woche danach, von seinen Erinnerungen, beschreibt die unterschiedlichen Verarbeitungsstrategien der Zurückgebliebenen, aber auch die Hilfe von außen, so dass der sehr realistische Roman traurig, aber zugleich hoffnungsvoll ist.

Im zweiten Roman von Stefanie vor Schulte ist die Ausgangslage ähnlich, denn auch die Familie Mohn mit dem zwanzigjährigen Steve, der zwölfjährigen Linne, dem elfjährigen Micha und dem Vater Adam in "Schlangen im Garten" ist mitten im Trauerprozess um die Mutter Johanne. Allerdings ecken sie mit ihrer Trauer an, gar zu lang, anders, undurchsichtig und heftig wirkt ihre Trauer auf die neugierige, unempathische, ungeduldige Umgebung. Linne mit ihrer Aggressivität und der introvertierte Micha stoßen in der Schule auf Ratlosigkeit, der resignierte, weltfremde Adam kündigt und einzig der nach Hause zurückgekehrte Student Steve hält ein Minimum an Ordnung aufrecht. Darf das sein? Herr B. Ginster, der Mann vom Traueramt, ist anderer Meinung und schickt eine erste Mahnung:

"Über einen Zeitraum von drei Wochen finden sich fünf Beschwerden, die beim Traueramt eingegangen sind. […] Die Beschwerden legen den Verdacht nahe, es handele sich hier um verschleppte Trauerarbeit." (S. 58)

Ungehöriges Trauern
Mit Herrn Ginster kommt die Schlaflosigkeit. Die Mohns begreifen ihre Verfehlung nicht, wollen gar nicht weniger trauern und fürchten mehr als alles den Erinnerungsverlust. Doch das Traueramt stuft verschleppte Trauerarbeit als gefährlich ein:

"Wer beim Trauern auffällt, richtet gesellschaftlichen Schaden an." (S. 76)

Unterstützung von überraschender Seite
Glücklicherweise tauchen nach und nach Menschen auf, die dank ihres eigenen Außenseitertums sehr viel mehr Einfühlungsvermögen mitbringen: Brassert, der einsame Schwänefütterer, die obdachlose Bille mit ihrem Einkaufswagen voller lichterfüllter Dinge und die junge Marlene mit dem künstlichen Bein. Sie stellen keine Forderungen, sondern sind einfach nur unverstellt da und während das Zuhause der Mohns langsam untergeht, erzählen sie fantastische Geschichten über Johanne.

Fantastik als Stilmittel
Spätestens mit dem Auftauchen von Herrn Ginster kippt die Romanhandlung ins Fantastische, ein literarischer Kunstgriff für das schwierige Thema Trauer, mit dem ich absolut nicht gerechnet hatte. Als gänzlich ungeübte Leserin in diesem Genre hat mich die Bild-, Symbol und Metaphernfülle zwar oft überfordert, trotzdem hatte ich fast immer das Gefühl, die Absicht dahinter mit dem Bauch zu erfassen. Nicht verstanden habe ich allerdings, warum die erfundenen Geschichten über Johanne der Familie helfen, wo sie doch die realen Erinnerungen gefährden könnten? Gleitet die Handlung anfangs sacht aus der Realität und hält die Grenzen zur Fiktion im Unscharfen, was mir sehr gut gefiel, wurde es mir am Ende doch etwas zu surreal. Besser hätte mir ein Schwenk zurück in die Realität gefallen. Und doch stimmen der innerfamiliäre Zusammenhalt und der Schlusssatz hoffnungsfroh:

"Endlich ist der Sommer vorbei." (S. 239)

Ein mutiger, experimenteller, gesellschaftskritischer Roman voller außergewöhnlicher Ideen zum Thema Tod und Trauer, ein lesenswerter Appell für Toleranz und gegen normiertes Verhalten.

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Veröffentlicht am 24.08.2022

Ein literarischer Stolperstein für den Urgroßonkel

Isidor
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Einer jüdischen Tradition gemäß stirbt ein Mensch zweimal: wenn das Herz aufhört zu schlagen und wenn sein Name zum letzten Mal gesagt, gelesen oder gedacht wird. Genau wie der Künstler Gunter Demnig mit ...

Einer jüdischen Tradition gemäß stirbt ein Mensch zweimal: wenn das Herz aufhört zu schlagen und wenn sein Name zum letzten Mal gesagt, gelesen oder gedacht wird. Genau wie der Künstler Gunter Demnig mit den von ihm erdachten Stolpersteinen oder der norwegische Autor Simon Stranger mit seinem Buch "Vergesst unsere Namen nicht" verschiebt auch Shelly Kupferberg mit ihrem Debüt diesen zweiten Tod ihres Urgroßonkel Dr. Isidor Geller. Nicht nur sein Leben zeichnet sie nach, auch das seiner Eltern, Geschwister, seines Neffen, seiner Geliebten und anderer, Schicksale, die ich teilweise sogar noch interessanter fand. Initialzündung für das Buchprojekt der 1974 in Tel Aviv geborenen, in Westberlin aufgewachsenen und heute in Berlin lebenden freien Journalistin und Moderatorin war ihre Moderatorentätigkeit bei einer internationalen Tagung zu Nazi-Raubkunst und Provenienzforschung in Berlin, die sie an diesen sehr betuchten Vorfahren erinnerte. Ihr detektivischer Spürsinn war geweckt und aus dem Plan zu einem Radiofeature wurde nach überraschend ergiebigen Funden von Fotoalben, Dokumenten und Familienbriefen auf dem großelterlichen Hängeboden in Tel Aviv, in Wiener Archiven und bei der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde dieses Buch. Eingeflossen sind außerdem Erinnerungen ihres verstorbenen Großvaters Walter Grab, der vor seiner Flucht als Neunzehnjähriger 1938 von Wien nach Palästina dem legendär reichen und erfolgreichen Onkel in dessen Kanzlei nachfolgen sollte und damit ein „gemachter Mann“ gewesen wäre.

Aufstieg und Fall
Als Sohn eines Talmudgelehrten im armen ostgalizischen Dorf Lokutni geboren, war eine Karriere als Jurist, Kommerzienrat und Wirtschaftsbereiter der österreichischen Staatsregierung dem 1886 als Israel Geller geborenen Urgroßonkel nicht in die Wiege gelegt. Ehrgeiz, Disziplin, Neugier und Aufstiegsdrang führten ihn über Kolomea und Lemberg nach Wien, wo er sich wie seine vier Geschwister gegen den Willen des Vaters niederließ. Schnell stieg er auf, assimilierte sich und erwirtschaftete nicht immer legal während des Ersten Weltkriegs ein großes Vermögen, von dem er fortan ein bequemes Leben in der Beletage eines Palais führte, umgeben von Kunstschätzen und als Liebhaber der Oper. Das größte Hochgefühl empfand der Dandy, kein reiner Sympathieträger, wie Shelly Kupferberg in Ihrem Nachwort schreibt, aber sympathisch in seiner Großzügigkeit, wenn er als „gleichberechtigtes Mitglied der guten Gesellschaft wahrgenommen wurde“ (S. 95). Dass er die Bedrohungen durch den Nationalsozialismus nicht ernstnahm, wurde ihm zum Verhängnis:

"Seinen Glauben an Recht, Ordnung und den eigenen Aufstieg hatte er über alle Warnzeichen gestellt. Der ganze Hass der letzten Jahre und Jahrzehnte habe nichts mit ihm zu tun, dachte er immer." (S. 202)

Geschichte in Form von Einzelschicksalen
Alleine wegen des Themas hätte ich zu diesem Buch wahrscheinlich nicht gegriffen, zu viele ähnliche habe ich in den letzten Jahren gelesen. Allerdings interessierte mich die Autorin Shelly Kupferberg, die ich als hervorragende Moderatorin von Autorenlesungen und –interviews sehr schätze, stets exzellent vorbereitet, klug fragend und angenehm zurückhaltend. Nun steht fest, dass sie auch schreiben kann, fundiert, klar formulierend, nachdenklich, abwägend und mit merklicher Betroffenheit, die berührt. Wer also wissen möchte, was es mit dem Reh auf dem Cover auf sich hat, und wer Geschichte gerne anhand gut erzählter Einzelschicksale liest, für den ist "Isidor" genau die richtige Lektüre.

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Veröffentlicht am 09.07.2022

Ein Leben wie ein Roman

Violeta
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"Leben hat seine Zeit, und Sterben hat seine Zeit. Dazwischen ist Zeit, sich zu erinnern." (S. 391/392)

Nachdem sie länger gelebt hat, „als die Würde es gebietet“ (S. 387), schreibt Violeta del Valle ...

"Leben hat seine Zeit, und Sterben hat seine Zeit. Dazwischen ist Zeit, sich zu erinnern." (S. 391/392)

Nachdem sie länger gelebt hat, „als die Würde es gebietet“ (S. 387), schreibt Violeta del Valle einen Bericht, um vor ihrem geliebten Enkel Camilo Zeugnis abzulegen:

"Du wirst sehen, mein Leben ist ein Roman." (S. 7)

In den vier ähnlich umfangreichen Teilen „Die Verbannung 1920 – 1940“, „Leidenschaft 1940 – 1960“, „Die Abwesenden 1960 – 1983“ und „Wiedergeburt 1983 – 2020“ verbindet Violeta ihre Biografie mit der Geschichte eines Jahrhunderts in Südamerika, das eine nicht weniger dramatisch als das andere. Zwei Pandemien rahmen ihr Leben ein: die Spanische Grippe und die Corona-Epidemie.

Ein turbulentes Leben in dramatischen Zeiten
Während eines Sturms kommt Violeta 1920 in Chile zur Welt. Ihre wohlhabende Oberschichtfamilie büßt in der Weltwirtschaftskrise ihr Vermögen ein, nach dem tragischen Verlust des Vaters zerfällt die Familie und Violeta erlebt die Verbannung nach Patagonien, wo sie trotz der widrigen Umstände glücklich heranwächst. Leidenschaften und Sexualität prägen sie bis ins hohe Alter, vier grundverschiedene Männer begleiten sie durch ein Leben voller persönlicher und gesellschaftlicher Turbulenzen. Erst spät erkennt Violeta, die wie in ihren Kreisen üblich stets die Konservativen wählte, die Verbrechen der Junta, als sie die Leiche ihres treuen Familienbediensteten Torito anhand eines Kreuzes identifiziert:

"Ich weiß noch, wie ich mit vierundsechzig drauf und dran war, mich dem Altwerden zu überlassen, und wie Toritos Kreuz mich damals zwang, den Kurs zu ändern und ein neues Leben zu beginnen, wie es mir ein Ziel schenkte, eine Möglichkeit, nützlich zu sein, und eine wundervolle Freiheit der Seele." (S. 387)

Die Mutter als Vorbild
Die Inspiration zu Violeta verdankt die 1942 geborene Isabel Allende ihrer kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie verstorbenen Mutter. Wie die Titelfigur des Romans war sie schön, klug, freiheitsliebend und leidenschaftlich, allerdings erreichte sie nie deren wirtschaftliche Unabhängigkeit. Vorbild für Violetas Tochter Nieves, nach der sie im hohen Alter ihre Stiftung für Opfer häuslicher Gewalt benannte, war Allendes drogensüchtige Stieftochter und viele Anekdoten über Violetas rebellischen Sohn Juan Martín und ihren noch aufmüpfigeren Enkel sind von ihrem eigenen Sohn inspiriert.

Eine Vielschreiberin
Keine Autorin und kein Autor nimmt mit seinem Werk so viel Platz in meinem Bücherregal ein wie Isabel Allende, obwohl sie nie wieder die überragende Qualität ihres Debüts "Das Geisterhaus" von 1982 erreichte. Nichtsdestotrotz ist sie nach wie vor die weltweit meistgelesene spanischsprachige Stimme und auch ihre leichteren Romane habe ich immer wieder gern gelesen, egal, ob sie im Plauderton aus ihrem Leben erzählte oder fiktive Stoffe behandelte. Neben leidenschaftlichen Charakteren sind es besonders die politischen Themen, die mich interessieren, die sozialistischen Bewegungen Lateinamerikas, die chilenische Militärdiktatur, der Feminismus und gesellschaftliche Fragen.

Ich bin Violeta gerne durch ihr Leben vom ungezogenen Kind bis zur altersweisen Großmutter gefolgt. Statt magischen Realismus gibt es einen starken Frauencharakter mit einem unsentimentalen, selbstkritischen, teilweise humorvollen Blick auf ein Leben, das tatsächlich mehr als genug Stoff für einen unterhaltsamen, bisweilen allerdings durch die Vielzahl der Themen eher oberflächlichen Roman bietet.

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