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Veröffentlicht am 26.02.2022

Ende einer Teenagerfreundschaft

Die Gezeiten gehören uns
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35 Jahre und fast 250 Buchseiten trennen die jeweils ersten Sätze der beiden Romanteile von "Die Gezeiten gehören uns" der 1971 geborenen US-amerikanischen Autorin Vendela Vida:

"Wir sind dreizehn, fast ...

35 Jahre und fast 250 Buchseiten trennen die jeweils ersten Sätze der beiden Romanteile von "Die Gezeiten gehören uns" der 1971 geborenen US-amerikanischen Autorin Vendela Vida:

"Wir sind dreizehn, fast vierzehn, und die Straßen von Sea Cliff gehören uns." (S. 11)

"Wir sind fast fünfzig Jahre alt und die Straßen von Sea Cliff gehören nicht mehr uns." (S. 259)

1984 bis 1985
Hinter dem „wir“ im gut 250 Seiten umfassenden Hauptteil des Romans verbirgt sich ein zunächst unzertrennliches Freundinnen-Quartett an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Sie besuchen eine exklusive Mädchenschule und wohnen in Sea Cliff, einem Luxusstadtteil San Franciscos am Pazifik mit unverbaubarer Sicht auf die Golden Gate Bridge. Ich-Erzählerin ist Eulabee, Tochter eines ungarnstämmigen Galeristen und einer Krankenschwester aus Schweden, hart arbeitenden Aufsteigern. Zusammen mit der schwerreichen Zuckererbin Maria Fabiola bildet sie den Kern der Clique. Seit Kindertagen sind die beiden beste Freundinnen und beherrschen das gefährliche Klettern auf den Klippen wie niemand sonst. Altersgemäß gilt das Interesse der Clique den Jungs des Viertels, aber nur die zu einer großen Schönheit heranwachsende Maria Fabiola schlägt Erwachsene wie Gleichaltrige beiderlei Geschlechts in ihren Bann.

Maria Fabiola ist nicht nur außergewöhnlich attraktiv, sie ist auch, wie ihr Name es andeutet, eine große Fabuliererin. Als sie eines Morgens auf dem Schulweg behauptet, bei einem Autofahrer unzüchtige Handlungen gesehen zu haben, bleibt Eulabee als einzige bei der Wahrheit und wird zur Geächteten. Trotzdem lässt sie sich auch in der Folgezeit nicht von Maria Fabiolas immer ungeheuerlicheren Lügengeschichten blenden. Während ihre ins Rampenlicht drängende Ex-Freundin eine Lügenlawine lostritt, erkennt Eulabee die Wahrheit so klar wie die Golden Gate Bridge, wenn der Nebel sich lichtet.

2019
Nur etwa 25 Seiten umfasst der sehr starke zweite Teil des Romans, der "Die Gezeiten gehören uns" vom reinen Jugendbuch zum All-Age-Roman macht. Nun wird klar, dass nicht die dreizehnjährige Eulabee erzählt, sondern die knapp fünfzigjährige. Angesichts von eher erwachsen klingendem Sarkasmus und schwarzem Humor erschien mir das, trotz der sonst meist zu einer Jugendlichen passenden Wortwahl, glaubhafter. Sea Cliff ist nicht mehr wiederzuerkennen. CEOs und Firmenchefs aus dem Silicon Valley haben den Stadtteil okkupiert und die ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner verdrängt. Weit weg von San Franzisco treffen Eulabee und Maria Fabiola sich überraschend wieder. Was ist aus ihnen geworden und wie gehen sie heute mit Wahrheit und Lüge um?

Vom Sachbuch zum Roman
Vendela Vida ist verheiratet mit dem Bestseller- und Drehbuchautor Dave Eggers und teilt ihre multikulturelle Abstammung mit ihrer Protagonistin Eulabee. Ihre Karriere als Schriftstellerin begann sie 2000 mit dem Sachbuch "Girls on the Verge" über weibliche Coming-of-Age-Rituale in den USA. "Die Gezeiten gehören" uns ist ein Roman über die Rätsel des Erwachsenwerdens, über Pubertät und erwachende Sexualität, über die Fragilität von Jugendfreundschaften und vor allem über Wahrheit und Lüge. Die mit viel Flair der 1980er-Jahre erzählte Geschichte über zwei sehr unterschiedliche Mädchen, deren Kinder- und Teenagerfreundschaft keinen Bestand hat, ist gute Unterhaltung – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

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Veröffentlicht am 19.02.2022

Eine letzte Wette

Ein Grab für zwei
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Zwei Monate vor Beginn der Olympischen Winterspiele 2018 in Pjöngjang steckt der erfolgsverwöhnte norwegische Skilanglaufverband in der Krise. Die weltbeste Langläuferin Hege Chin Morell wurde positiv ...

Zwei Monate vor Beginn der Olympischen Winterspiele 2018 in Pjöngjang steckt der erfolgsverwöhnte norwegische Skilanglaufverband in der Krise. Die weltbeste Langläuferin Hege Chin Morell wurde positiv auf das anabole Steroid Clostebol getestet. Sie beteuert ihre Unschuld, ihr Adoptivvater, der reiche, durchsetzungsfähige Unternehmer Jan Morell, ist fest von Sabotage überzeugt. Selma Falck, seine langjährige Anwältin, ehemals erfolgreiche Spitzen-Handballerin und Noch-Ehefrau eines Abgeordneten, soll Heges Unschuld beweisen. Ihre Ermittlungen sind eine „letzte Wette“, denn Selma ist spielsüchtig und hat sein Geld veruntreut. Er hat sie deshalb gezwungen, die Anteile an ihrer Villa zu verkaufen, was Selma den Kontakt zu Mann und Kindern kostete, ihre Zulassung zurückzugeben, nicht mehr zu spielen und eine Therapie zu beginnen. Dafür will er auf eine Anzeige verzichten. Wenn sie die Wette gewinnt, soll Selma das Geld zurückerhalten.

Ein zweiter Dopingfall
Kaum hat Selma zögernd eingewilligt, kommt ein anderer Spitzen-Langläufer, ihr Patenkind Haakon Holm-Vegge, bei einem mysteriösen Unfall ums Leben. In seinem Blut wird ebenfalls Clostebol nachgewiesen.

Mit der Arbeitshypothese Sabotage macht sich Selma ans Werk. Wer profitiert von Heges Nicht-Nominierung für Olympia? Liegen rassistische Motive gegen die in China geborene Athletin in dieser urnorwegischen Sportart zugrunde? Wem schadet die positive Dopingprobe noch: dem Verband? Ihrem ehrgeizigen Vater Jan Morell? Hängen die Fälle von Hege und Haakon tatsächlich zusammen?

Eingestreut in Selmas Ermittlungen sind mit „Das Drehbuch“ überschriebene Abschnitte über einen Mann, der auf seine Therapeutin zunehmend bedrohlich wirkt, über einen nackten Gefangenen in einer sich stetig verkleinernden Zelle und über Selmas Treffen mit ihrem einzigen Freund und einstigen Mandanten, dem Ex-Polizisten und Obdachlosen Einar.

Eine hervorragende Sprecherin
"Ein Grab für zwei" ist der erste Fall einer neuen Reihe der 1958 geborenen norwegischen Juristin, Ex-Justizministerin und Bestseller-Krimiautorin Anne Holt, die deutsche Krimifans bisher vor allem von ihren Serien um die Ermittlerinnen Hanne Wilhelmsen beziehungsweise Inger Vik kennen.

Ich habe die 806 Minuten dauernde ungekürzte Lesung topaktuell während der Olympischen Winterspielen 2022 in Peking auf meinem Handy gehört, unterteilt in Tracks zu gut drei Minuten, während die Norweger wie gewohnt die Medaillen abräumten und das ein oder andere Dopingvergehen anderer Nationen bekannt wurde. Herausragend ist die Sprecherin Katja Bürkle, die ich bisher nicht kannte, mir aber merken werde. Sie liest mit einer sympathischen, warmen Stimme in angenehmer Tonlage und perfektem Tempo, ohne übertriebene Schauspielerei und bemüht um die korrekte Aussprache des Norwegischen.

Mehr als ein Krimi
Die Sozialdemokratin Anne Holt ist bekannt dafür, in ihren Krimis aktuelle gesellschaftliche Probleme aufzugreifen. Leistungssport, Doping, Korruption in Sportverbänden, Spielsucht, sozialer Abstieg, Rassismus und Medien sind nur einige der Themen, um die es in Selma Falcks erstem Fall geht. Vorbild für die Dopingproblematik war der Fall der norwegischen Spitzen-Langläuferin Therese Johaug, die 2016 nach Verwendung einer Lippensalbe positiv auf Clostebol getestet und gesperrt wurde. Manchmal war mir die Themenfülle etwas zu viel und der Fall geriet aus dem Fokus, aber insgesamt hat mich der Krimi trotzdem gut unterhalten. Die Protagonistin, die nach einer Sportverletzung am Tränenkanal nicht weinen kann, wurde mir zwar nicht besonders sympathisch, hat aber als Serienfigur viel Potential. Ich freue mich daher auf weitere Übersetzungen der in Norwegen bereits erschienenen Folgebände, gerne wieder als Hörbuch mit Katja Bürkle.

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Veröffentlicht am 30.01.2022

Zwischen Realität und Fiktion

Der Erinnerungsfälscher
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Zweimal war Said Al-Wahid seit seiner Flucht in seiner irakischen Heimat: nach dem Sturz der Diktatur, heimlich, während in Deutschland sein Asylverfahren lief und in den Straßen von Bagdad das Chaos amerikanischer ...

Zweimal war Said Al-Wahid seit seiner Flucht in seiner irakischen Heimat: nach dem Sturz der Diktatur, heimlich, während in Deutschland sein Asylverfahren lief und in den Straßen von Bagdad das Chaos amerikanischer Soldaten herrschte, und zwei Jahre später kurz vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs. 2014 wird er plötzlich ein drittes Mal nach Hause gerufen: Sein jüngerer Bruder Hakim teilt ihm mit, dass ihre Mutter im Sterben liegt. Said, der gerade auf dem Weg von einer Podiumsdiskussion in Mainz zurück nach Berlin ist, begibt sich umgehend zum Frankfurter Flughafen:

"Said Al-Wahid hat seinen Reisepass überall dabei, egal, wohin er geht. Er hat ihn bei einem Podiumsgespräch in Mainz dabei und auch im Supermarkt um die Ecke." (S. 25)

Auf seiner Reise nach Bagdad begleiten ihn Gedanken an seine vier Jahre dauernde Fluchtodyssee, seine ersten Jahre in Deutschland mit befristeten und unbefristeten Aufenthaltsgenehmigungen, Abschiebungsandrohungen, Widerrufsverfahren, Duldung und schließlich der Einbürgerung, bürokratischen Schikanen bis heute und einem ständigen Gefühl der Unsicherheit:

"In der Fremde gibt es keine Himmelsrichtungen." (S. 8)

Traumata
Dabei ist Saids Integration eine Erfolgsgeschichte: Abitur am Studienkolleg und Studium an der Philosophischen Fakultät in München als einziger arabischer Student, Jobs zur Finanzierung, Ehe mit Monica, einer deutschen Sozialarbeiterin aus einer Mittelschichtsfamilie, der zweijährige Sohn Ilias und erste schriftstellerische Erfolge.

Worüber er mit niemandem sprechen kann, sind die „Minenfelder“ im Gedächtnis, der als Verräter hingerichteten Vater, über den geschwiegen werden musste, die im Bürgerkrieg mit ihrer Familie getötete Schwester und die traurige Mutter, die mit Krisen umgehen kann, nicht jedoch mit glücklichen Momenten. All dies beeinträchtigt sein Erinnerungsvermögen:

"Said scheiterte bei jedem Versuch, einen längeren Text zu verfassen. Es war grauenhaft." (S. 47)

Erst als er beginnt, die Gedächtnislücken mit Fiktion zu füllen, erlebt er einen „Schreibdurchfall“.

"Der Erinnerungsfälscher" des deutsch-irakischen Autors Abbas Khider ist mit gerade einmal 124 Seiten leider ein sehr kurzer Roman. Albtraumhafte Flucht aus einem desolaten Land, Ankommen in Deutschland, das auch den integrationswilligsten Schutzsuchenden immer neue bürokratische Felsbrocken in den Weg rollt, Rassismus und Vorurteile in der neuen sowie schwierige Besuche in der alten Heimat, wo sich auch Jahre nach dem Sturz der Diktatur nichts zum Besseren entwickelt, sind seine Themen.

Mehrwert der Perspektive
Wie bei "Herkunft" von Saša Stanišić oder "Eine Formalie in Kiew" von Dmitrij Kapitelman liegt der besondere Wert von Abbas Khiders Roman für mich in der Perspektive des Migranten, der aus eigener Anschauung schreibt. Zwar betont er in Interviews, dass "Der Erinnerungsfälscher" ein literarisches Werk und keine Biografie sei, sein eigenes Schicksal als 1973 in Bagdad geborener Autor, seine Flucht 1996 nach mehreren Gefängnisaufenthalten und die Ankunft in Deutschland 2000 liefern jedoch erkennbar die Vorlage.

Dass man trotz der traurigen Thematik bei der Lektüre nicht verzweifelt, liegt am gelungenen Wechsel zwischen nüchtern wiedergegebenen Fakten und Poetik, den originellen Sprachbildern, dem Wortwitz und Humor und dem immer durchscheinenden Optimismus. Unfassbar, dass Abbas Khider erst mit 27 Jahren die deutsche Sprache erlernt hat!

Sowohl für die deutsche Literatur als auch für die politische Debatte hierzulande sind Stimmen wie die von Abbas Khider eine große Bereicherung. Höchste Zeit also für mich, auch seine vier früheren, etwas umfangreicheren Romane kennenzulernen.

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Veröffentlicht am 07.01.2022

Was im Leben wirklich zählt

Rob & Jonny (Bd. 1)
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Wer will schon Tag und Nacht für andere schuften, wenn er oder sie auch ein schönes Leben führen und all die großartigen Orte dieser Welt entdecken könnte? Der kleine Roboter Rob 1 jedenfalls will kein ...

Wer will schon Tag und Nacht für andere schuften, wenn er oder sie auch ein schönes Leben führen und all die großartigen Orte dieser Welt entdecken könnte? Der kleine Roboter Rob 1 jedenfalls will kein Diener sein und haut deshalb klammheimlich aus der Fabrik ab, kurz bevor er verkauft wird. Nun steht ihm die große weite Welt offen! Mit einem Jumbo-Jet macht er sich auf nach London. Wie er dort mit seiner Neugier, seinen ganz speziellen Roboterfähigkeiten, seinem guten Herzen und seinem Einfallsreichtum an einem ereignisreichen Tag nicht nur die Stadt und ihre Sehenswürdigkeiten entdeckt, sondern im Straßenhund Jonny auch noch einen Freund fürs Leben und bei ihm sogar ein neues Zuhause findet, erzählt Walter Kössler alias Walko wie gewohnt humorvoll, herzerwärmend und ebenso detailreich wie fantasievoll und liebevoll illustriert.

Der Schwerpunkt liegt bei diesem Kinderbuch für kleine Zuhörerinnen und Zuhörer ab fünf Jahren, das den Auftakt zu einer neuen Reihe bildet, nicht auf der Spannung, sondern auf der Freundschaftsgeschichte, den Londoner Sehenswürdigkeiten und der Erkenntnis, dass man sein Schicksal selbst in die Hand nehmen muss. Dazu braucht es Mut, Pfiffigkeit und vor allem ein Herz auf dem rechten Fleck, alles Eigenschaften, über die Rob in großem Maße verfügt. Robs technische Fähigkeiten und sein Wissen bieten darüber hinaus den ein oder anderen zusätzlichen Erkenntnisgewinn. Ob sich das 48 ungezählte Seiten umfassende Buch allerdings als Erstleserlektüre eignet, hängt sehr vom jeweiligen Kind ab: Die hübsch anzusehende Schrift ist keine Fibelschrift, es gibt keine Kapiteleinteilung und auf einigen Seiten ist die Zeilenmenge für Leseanfängerinnen und –anfänger sehr groß. Hilfreich sind in jedem Fall die vielen Bilder, die das Textverständnis unterstützen, mal seitenfüllend, mal als kleine Erinnerungsfotos mit Bildunterschrift, die Robs vollautomatische Augenkamera für sein eingebautes Erinnerungsalbum fotografiert.

Für mich erreicht "Rob und Jonny" zwar nicht ganz den Zauber von Walkos abenteuerlicher Reihe "Hase und Holunderbär", ich kann es zum Vorlesen jedoch trotzdem sehr empfehlen. Wer könnte schon einer Geschichte widerstehen, in der es am Ende eines aufregenden Tages heißt:

"Zu zweit machte alles einfach viel mehr Spaß. Und Rob freute sich auch. Für ihn begann jetzt ein herrliches, freies Leben. Eins, wie man es sich herrlicher nicht vorstellen kann. A wonderful life, wie man in London sagt."

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Veröffentlicht am 20.11.2021

Italienkrankheit und Eurowaisen

Wenn ich wiederkomme
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Wenn alte Menschen Hilfe benötigen, nicht ins Heim möchten und die Angehörigen sie nicht pflegen können oder wollen, kommen osteuropäische Pflegekräfte als tragende Säule der Altenpflege ins Spiel. Genaue ...

Wenn alte Menschen Hilfe benötigen, nicht ins Heim möchten und die Angehörigen sie nicht pflegen können oder wollen, kommen osteuropäische Pflegekräfte als tragende Säule der Altenpflege ins Spiel. Genaue Zahlen gibt es nicht, doch gehen Fachleute von einigen Hunderttausend Pflegemigrantinnen aus, vor allem aus Polen, Rumänien, Bulgarien oder der Ukraine. Ihre persönlichen Schicksale und die ihrer zurückgelassenen Familien bleiben meist im Dunkeln.

Der italienische Autor Marco Balzano greift solche verborgenen Themen gerne auf, zuletzt das Schicksal der Südtirolerinnen und Südtiroler in "Ich bleibe hier". Für seinen Roman "Wenn ich wiederkomme" hat er über Rumäninnen in italienischen Haushalten und ihre sogenannte „Italienkrankheit“ recherchiert, hat mit vielen von ihnen gesprochen, in Rumänien Einrichtungen für zurückgelassene Kinder und Jugendliche, die „Eurowaisen“, besucht und sich ein hohes Ziel gesetzt:

"Es zu schreiben, war für mich ein Versuch der Wiedergutmachung." (Nachwort S. 311)

Eine Familie von vielen
Aus drei Perspektiven schildert Marco Balzano das Leben der Familie Matei aus einem ostrumänischen Dorf an der moldawischen Grenze. Im ersten Teil erfahren wir durch Manuel, wie die Mutter Daniela die Familie ohne Ankündigung verließ, als er zwölf Jahre alt war, seine Schwester Angelica zwanzig. Mit einer illegalen Beschäftigung als Altenpflegerin in Mailand möchte Daniela die finanziellen Notlage durch die Arbeitslosigkeit des antriebsschwachen Ehemanns lindern. Manuel verliert nacheinander die Mutter, den Vater, der Arbeit in Russland findet, die Schwester, als sie ein Architekturstudium beginnt, und den geliebten Großvater. Unausweichlich kommt es zur Tragödie, als die exklusive Privatschule sich als Qual entpuppt, die Einsamkeit immer unerträglicher und der sporadische Kontakt zur Mutter von zunehmender Entfremdung und Befangenheit überschattet wird:

"Ein unbekanntes Schweigen drückte uns nieder, und ich wusste weder ein noch aus." (S. 33)

Im zweiten Teil, dem umfangreichsten, erfahren wir Danielas Sicht: die Alternativlosigkeit ihres Weggehens, die Schuldgefühle, die unerfüllten Träume und ihr von Abhängigkeit und Rassismus geprägtes Leben in Italien:

„Ihr habt echt ein Händchen im Umgang mit unseren Alten und Kinder…“
„Wen meinen Sie mit >ihr<, Signora?“
„Na, ihr aus dem Osten. Ihr könnt das besser als Philippinas, dafür können die besser putzen, stimmt’s?“ (S. 185)

Erzählerin im dritten Teil ist Angelica. Ihre Promotion beweist Daniela, dass ihr Opfer nicht vergebens war. Zwar ist Angelica ihrer Mutter dankbar, andererseits prangert sie deren ausschließliche Fixierung auf das Geld an, möchte selbst einen anderen Weg gehen und fühlt sich um ihre Jugend gebracht:

"Mein Vater mag alle möglichen Mängel dieser Welt haben, aber er ist der Einzige in der Familie, der mich nie ausgenutzt hat.“ (S. 270)

Melancholisch und relevant
Mein anfängliches Verständnis für Daniela und ihre Notlage und meine Bewunderung für ihren Ehrgeiz bezüglich der Ausbildung ihrer Kinder schwanden leider im Laufe des Romans. Wie sie Manuel und Angelica immer fremder wird, so erging es auch mir, und ich konnte zunehmend weniger Mitgefühl für ihre Sturheit aufbringen. Marco Balzano hat angesichts seines großen Materialvorrats viel in diese Figur gepackt, unter anderem auch eine unkommentierte Ceaușescu-Nostalgie, die mich angesichts von dessen unzweifelhaften Verbrechen gestört hat. Trotzdem ist der melancholische, einfach geschriebene Roman unbedingt zu empfehlen, denn er rückt Menschen ins Licht, mit denen wir – direkt oder indirekt – in Berührung kommen, von denen wir aber nichts wissen.