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Veröffentlicht am 15.08.2024

Der schmale Grat

Mein drittes Leben
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Zwischen 400 und 500 Radfahrerinnen und Radfahrer verunglücken jedes Jahr tödlich auf deutschen Straßen. An einige von ihnen erinnern inzwischen weiße, oft blumengeschmückte Gedenk- oder Geisterräder am ...

Zwischen 400 und 500 Radfahrerinnen und Radfahrer verunglücken jedes Jahr tödlich auf deutschen Straßen. An einige von ihnen erinnern inzwischen weiße, oft blumengeschmückte Gedenk- oder Geisterräder am Straßenrand. Hinter jedem Opfer stehen trauernde Angehörige, manche Hinterbliebenenfamilien zerbrechen an diesem Schicksalsschlag.

Gefangene der Todessekunde
Auch die Ehe der Mittvierzigerin und Ich-Erzählerin Linda hält der unterschiedlich gelebten Trauer nicht Stand. Waren sie und ihr Mann Richard nach dem Unfalltod ihres einzigen gemeinsamen Kindes, der 17-jährigen Sonja, zunächst gleichermaßen „Gefangene jener Todessekunde“ (S. 97), begann Richard sich allmählich zu befreien:

"Hat sich nur eines Tages umgedreht und nach vorn gesehen, während mein Blick in die Vergangenheit gerichtet blieb." (S. 14)

Linda dagegen konnte und wollte den Schmerz nicht loslassen. Nach überstandenem Schilddrüsenkrebs ließ sie ihren fassungslosen Mann in der Leipziger Wohnung zurück und zog etwa zwei Jahre nach Sonjas Tod allein in einen halbverfallenen, 40 Autominuten entfernten Dreiseithof am Rande eines unansehnlichen Straßendorfs, wo es keine „Erinnerungsfallen“ (S. 24) gibt:

"Das Niemandsland zwischen Leben und Tod, das ich bewohne, spiegelt sich in der Landschaft wider und verschmilzt mit ihr. Die Schönheit hat hier kein Recht." (S. 82)

Hier lebt die ehemals erfolgreiche Kuratorin und überzeugte Städterin zu Beginn des Romans "Mein drittes Leben" von Daniela Krien seit zwei Jahren alleine mit einer Hündin und Hühnern. Nach Abbruch fast aller Brücken besuchen sie nur noch die neue Bekannte Natascha mit ihrer schwerbehinderten Tochter Nine und 14-tägig Richard, den sie trotz allem noch liebt. Doch nun ist dessen Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft zerbrochen, seine Geduld aufgebraucht. Mit der Schriftstellerin Brida Lichtblau scheint für ihn ein Neubeginn möglich. Natascha erklärt es Linda so:

"Er hat sich gerettet. Auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod hat er sich für das Leben entschieden, während Sie versucht haben, ihn zu den Toten rüberzuziehen." (S. 71)

Jedes Wort am richtigen Platz
"Mein drittes Leben" ist das fünfte Buch der 1975 geborenen, in Leipzig lebenden Autorin Daniela Krien. Während ich zwei ihrer früheren Romane, "Die Liebe im Ernstfall" und "Der Brand", mit kleinen Abstrichen gerne gelesen habe, hat mir dieser neueste sensationell gut gefallen. Wie sie den Absturz ihrer Protagonistin haarscharf beobachtend begleitet, einfühlsam und doch gänzlich ohne Kitsch Worte für das Unsagbare findet, ist überragend. Ebenso gelungen sind die zaghaften Anzeichen der Wende nach überschrittenem Tiefpunkt, über die Linda selbst am meisten staunt:

"Das Überraschende daran ist, dass ich überhaupt eine Zukunft sehe." (S. 279)

Mit glasklaren Formulierungen erfasst Daniela Krien alle Zwischentöne dieser Entwicklung, spiegelt sie am Wechsel der Jahreszeiten und macht aus dem schwierigen Stoff ein überraschend gut lesbares Buch, akribisch recherchiert bis in medizinische Details. Viele der Nebenhandlungen haben Potential für weitere Geschichten, bisweilen lassen sich Parallelen zum Leben der Autorin ausmachen. Kein Wunder, wenn man der Schriftstellerin Brida Lichtblau, die schon in "Die Liebe im Ernstfall" eine tragende Rolle spielte, glaubt:

"Alle Schriftsteller tun das. Wir beuten unser eigenes Leben und auch das Leben der anderen aus." (S. 246)

"Mein drittes Leben" von Daniela Krien gehört zusammen mit "Lichtungen" von Iris Wolff und "Maifliegenzeit" von Matthias Jüngler zu meinem Favoritentrio für den Deutschen Buchpreis 2024. Alle drei empfehle ich unbedingt zur Lektüre.

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Veröffentlicht am 11.07.2024

Wer einmal mit dem Morden anfängt...

Dunkler Abgrund
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Drei lange Jahre musste ich auf die Fortsetzung der Clara-Lofthus-Trilogie der preisgekrönten norwegischen Lyrikerin und Kinderbuchautorin Ruth Lillegraven warten, nun endlich liegt der heiß ersehnte zweite ...

Drei lange Jahre musste ich auf die Fortsetzung der Clara-Lofthus-Trilogie der preisgekrönten norwegischen Lyrikerin und Kinderbuchautorin Ruth Lillegraven warten, nun endlich liegt der heiß ersehnte zweite Band "Dunkler Abgrund" vor. Gewechselt hat der Übersetzer: von Hinrich Schmidt-Henkel zu Günther Frauenlob. Obwohl man Band eins, "Tiefer Fjord", nicht unbedingt kennen muss, empfehle ich es trotzdem dringend, denn viele interessante Details aus Claras Vergangenheit erschließen sich nur durch den Vorgängerband.

Viele Erzählstimmen
Der Aufbau der beiden Bände ist nahezu identisch: ein kurzer Prolog, 75 Kapitel aus verschiedenen Ich-Perspektiven und in Teil zwei zusätzlich ein Epilog.

"Dunkler Abgrund" beginnt dort, wo "Tiefer Fjord" endete: kurz nach dem Tod von Clara Lofthus‘ Ehemann, dem Kinderarzt Haavard Fougner, den die trainierte Schwimmerin in die gefährliche Strömung eines Bergsees lockte. Wenig später wird sie zur Justizministerin Norwegens berufen, zeitgleich entdecken Taucher in ihrem tiefen Heimatfjord den Unfallwagen, mit dem die damals Zwölfjährige und Magne, der Partner ihrer Mutter, 1988 verunglückten.

Mehr Ministerin als Mutter
Ohne ihren Mann ist Clara, nach eigenem Bekunden „kein Naturtalent als Mutter“ (S. 102), plötzlich allein verantwortlich für die etwa zehnjährigen Zwillinge Andreas und Nikolai. Die beiden Papakinder leiden sehr unter dem Tod ihres Vaters, den die kühle, zudem meist abwesende Mutter nicht ersetzen kann:

"Papa war immer fröhlich und leicht wie ein Sommertag. Mama versucht, Sommer zu sein, ist aber eigentlich Winter." (Andreas, S. 272)

Clara sieht, wenn auch mit schlechtem Gewissen, ihre Prioritäten im Ministerium. Traumatisiert vom Tod ihres eigenen kleinen Bruders, den sie als Kind nicht verhindern konnte, hat sie sich dem Kampf gegen Kindesmisshandlung verschrieben:

"Ich habe eingewilligt, Staatssekretärin und schließlich Ministerin zu werden, um etwas zu erreichen und dafür zu sorgen, dass das, was mit Lars passiert ist, keinem anderen Kind passiert." (Clara, S. 118)

Für dieses Ziel schreckt die intelligente, kontrolliert-distanzierte Frau mit der komplizierten Persönlichkeitsstruktur, in deren früherem und jetzigem Leben es vor Todesfällen und Tragödien nur so wimmelt, vor nichts zurück.

Alles gerät aus den Fugen
Daran gewöhnt, alles selbst zu regeln, lehnt Clara Personenschutz, häusliche Überwachung und professionelle Kinderbetreuung ab. Doch dann geschehen seltsame Dinge, die Geheimnisse aus ihrer Vergangenheit drohen sie einzuholen und schließlich sind sogar ihre Kinder verschwunden. Die Spur führt nach Westnorwegen ins Dorf ihrer Kindheit. Obwohl sie nur schlecht Hilfe annehmen kann, ist sie nun auf die Unterstützung ihres neuen Chauffeurs Stian angewiesen, der sich als heimlich platzierter Leibwächter und ebenso bedingungsloser wie unkonventioneller Unterstützer entpuppt:

"Man muss tun, was richtig ist, auch wenn das Richtige nicht unbedingt den Regeln entspricht." (Stian, S. 252)

Wie "Tiefer Fjord" hat auch "Dunkler Abgrund" viel Dynamik, vor allem durch die kurzen Kapitel aus wechselnden Perspektiven. Mit seinen unvorhersehbaren Wendungen und der perfekt konstruierten Handlung, realistisch oder nicht, hat mich der zweite Teil fast ebenso gut unterhalten wie der erste. Die Einblicken in den norwegischen Verwaltungs- und Politikbetrieb, den die Autorin aus langjähriger Arbeit im Verkehrsministerium kennt, und traumhafte Beschreibungen ihrer westnorwegischen Heimat sind für mich die Besonderheiten dieser Mischung aus Psychothriller und Familiendrama, auf deren Abschlussband ich ungeduldig warte.

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Veröffentlicht am 19.04.2024

Der Türspalt in die Vergangenheit

Die Zeit im Sommerlicht
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2022 erschien der erste Band einer Trilogie der 1971 geborenen Samin Ann-Helén Laestadius über die samische Bevölkerung Schwedens auf Deutsch, "Das Leuchten der Rentiere". Der schwedische Originaltitel ...

2022 erschien der erste Band einer Trilogie der 1971 geborenen Samin Ann-Helén Laestadius über die samische Bevölkerung Schwedens auf Deutsch, "Das Leuchten der Rentiere". Der schwedische Originaltitel "Stöld" (Diebstahl) verrät mehr über den Inhalt: Rentierwilderei im heutigen Lappland und die unterlassenen Ermittlungen durch die schwedische Polizei als Teil von strukturellem Rassismus gegen die samische Bevölkerung.

Auch beim nun erschienenen zweiten Band "Die Zeit im Sommerlicht" sagt der Originaltitel mehr: In "Straff" (Bestrafung) geht es um das System der Nomadenschulen, in die Rentierzüchterfamilien ihre Kinder ab sieben Jahren schicken mussten. Wochenlang von zuhause getrennt, durften sie ihre Muttersprache nicht sprechen, schreiben oder lesen, nicht joiken, erlebten die Verunglimpfung ihrer Kultur und waren physischer wie psychischer Gewalt durch das Personal und ältere Kinder schutzlos ausgeliefert. Ähnlich wie es der kanadische Indigene Richard Wagamese in seinem Roman "Der gefrorene Himmel" über die kanadischen Residential Schools beschreibt, sollte den Kindern mit Gewalt ihre Kultur und Tradition ausgetrieben werden – ein Trauma mit lebenslangen Folgen.

Fünf Schicksale in zwei Zeitebenen
Der Roman spielt auf zwei Zeitebenen. Mitte der 1950er-Jahre sind Else-Maj, Anne-Risten, Marge, Jon-Ante und Nilsa im Internat in Láttevárri, das unter der Leitung der brutalen Hausmutter Rita Olsson steht. Einzig die junge Betreuerin Anna, eine sanfte und zugewandte Samin, schenkt den Kindern Zuneigung und gibt ihnen Halt. Ihre Entlassung ist ein Schock.

Mitte der 1980er-Jahre sind Else-Maj, Anne-Risten, Marge, Jon-Ante und Nilsa knapp 40. Alle leiden unter den Internatserfahrungen, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Else-Majs Mann, mit dem sie in ihrem Dorf eine traditionelle Rentierzüchterfamilie gegründet hat, war ebenfalls Internatsschüler, doch ist das schmerzhafte Thema tabu. Anne-Risten lebt in Kiruna, hat einen Schweden geheiratet und spricht mit ihren Kindern nur Schwedisch. Sie leidet unter multiplen körperlichen Beschwerden, unter der Verachtung ihrer Tochter und der Angst, als Samin „enttarnt“ zu werden. Ebenfalls in Kiruna leben Marge und Jon-Ante, der im Internat von Nilsa und seiner Bande misshandelt wurde. Beiden fehlt es an Selbstbewusstsein und Mut zu einer Bindung. Als Marge ein kolumbianisches Mädchen adoptiert, erkennt sie Teile ihrer eigenen Geschichte wieder. Der allseits verhasste Nilsa, der als Rentierzüchter ins Dorf zurückgekehrt ist, leidet unter seiner Mitschuld am Tod seines jüngeren Bruders Aslak.

Was alle vereint, ist das kollektive Schweigen. Erst als Rita Olsson wieder auftaucht, gerät etwas in Bewegung. Der klugen Anna ist es schließlich zu verdanken, dass die Mauer des Schweigens erste Risse bekommt:

"Tastend wurden Erinnerungen formuliert, für die Anna einen Türspalt geöffnet hatte." (S. 473)

Fiktiv und doch wahr
Die einzelnen Kapitel springen zeitlich und zwischen den Hauptfiguren hin und her, trotzdem behält man leicht den Überblick. Wer "Das Leuchten der Rentiere" gelesen hat, wird einige der Personen wiedererkennen, doch sind die Bücher auch völlig unabhängig zu lesen. Ann-Helén Laestadius setzt sich in beiden fiktiv, jedoch auf wahren Begebenheit beruhend, mit dem Rassismus gegen die samische Bevölkerungsminderheit in Schweden auseinander und zeigt die Weitergabe des samischen Traumas über Generationen. Ich habe auch "Die Zeit im Sommerlicht" als schonungs-, jedoch nicht hoffnungslosen Roman mit großem Interesse und ausgesprochen gern gelesen und warte nun sehr gespannt auf den noch ausstehenden dritten Band.

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Veröffentlicht am 10.04.2024

Eine neue Zeit

Der Heumacher
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Knut Hansen Nesje, genannt Nesje, wurde 1838 als elftes Kind von Marta Kristine Anderdatter Nesje geboren, den Leserinnen und Lesern der familienbiografischen Romane von Edvard Hoem bestens als "Die Hebamme" ...

Knut Hansen Nesje, genannt Nesje, wurde 1838 als elftes Kind von Marta Kristine Anderdatter Nesje geboren, den Leserinnen und Lesern der familienbiografischen Romane von Edvard Hoem bestens als "Die Hebamme" bekannt, und war der Urgroßvater des Autors. Kaum mehr als die Daten der Kirchenbücher und die Erzählungen des Großvaters sind verbürgt:

"Ich musste ihn herbeidichten, aus Luft und aus dem Nichts, aus dem Licht über Molde und Rekneslia, aus dem Wind, der meine Haare zaust, und aus dem Regen, der auf Felder und Menschen fiel – zu seiner wie zu meiner Zeit." (S. 5)

Ein entbehrungsreiches Leben
Nesje lebte als Kleinbauer das harte Leben seiner Vorfahren, bestehend aus der Anstellung beim Großbauern, den Pflichttagen zur Bezahlung der Pacht auf dem Gut Reknes und der Arbeit auf dem gepachteten Land, 160 Ar in Rekneslia oberhalb der Kleinstadt Molde in der norwegischen Provinz Møre og Romsdal.

Der Roman beginnt kurz vor der zweiten Hochzeit des Witwers Nesje 1875 mit Serianna vom Bortehof in der Siedlung Hoem, auf dem Edvard Hoem heute wieder teilweise lebt. Serianna war die Großnichte von Lars Olsen Hoem, Protagonist von "Der Geigenbauer". Vier Kinder wurden dem Paar geboren, darunter der Großvater des Autors.

40 Jahre lang machte Nesje Heu auf dem Gutshof und war stolz auf seine Meisterschaft mit der Sense und auf sein kleines „Nesje-Stück“. Nur selten haderte er mit seinem geplatzten Traum vom eigenen Grund und Boden. Trotz aller Mühsal, Sorge und fehlendem Wahlrecht kam ein Weggehen für ihn nie in Betracht, obwohl es diese Möglichkeit durchaus gegeben hätte. Hunderttausende norwegische Bauernfamilien wanderten damals aufgrund der schlechten Lebensbedingungen in die USA aus:

„Mutter Norwegen schafft es nicht, alle ihre Kinder zu ernähren“, […] „Also müssen einige von ihnen hinaus in die Welt.“ (S. 36)

Der Traum vom besseren Leben
Auch in Nesjes Verwandtschaft grassierte das Auswandererfieber. Seriannas jüngste, abenteuerlustige Schwester Gjertine, die zweite Protagonistin des Romans, überredete 1886 ihren Mann Ole zur Auswanderung, um ihrem Traum von einem besseren und freieren Leben für sich und ihre Kinder näherzukommen, andere aus der Familie folgten nach. Doch auch in South-Dakota wartete ein entbehrungsreiches, hartes Leben auf die Neuankömmlinge und längst nicht jeder Traum wurde wahr, obwohl darüber in den Briefen nach Hause oft geschwiegen wird.

Edvard Hoem – ein begnadeter Geschichtenerzähler
"Der Heumacher", im Original 2014 und erstmals auf Deutsch 2024 im Verlag Urachhaus erschienen, ist der Auftakt zum mehrbändigen Romanzyklus Edvard Hoems über die norwegische Auswanderung. Wie alle seine familienhistorischen Romane, die ich im Laufe der letzten Jahre mit immer größerer Begeisterung gelesen habe, ist auch "Der Heumacher" absolut mitreißend und von Antje Subey-Cramer hervorragend übersetzt. Ich liebe die Bücher des begnadeten Geschichtenerzählers Edvard Hoem für die knappe, leicht verständliche, unverwechselbare Sprache in Verbindung mit den poetischen Landschaftsbeschreibungen, das ruhige Erzähltempo, die Bilder voller Intensität, die akribische historische Recherche und die empathische Figurenzeichnung. Mittendrin im Leben der Menschen war ich beim Lesen, teilnehmend an ihren Sorgen und schwierigen Entscheidungsprozessen ebenso wie an den sonnigen Momenten und voller Freude, wenn mir vertraute Figuren aus anderen Romanen wiederbegegneten.

Ich hoffe sehr, dass bald auch die Folgebände auf Deutsch erscheinen, denn ich möchte unbedingt erfahren, wie es in der Alten und Neuen Welt weitergeht.

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Veröffentlicht am 02.04.2024

Wurzeln und Neubeginn

Kosakenberg
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Der Wegzug von rund vier Millionen Menschen löste im Osten Deutschlands nach 1989 eine demografische Krise aus. Eine von denen, der im Osten die Luft zum Atmen fehlte, ist Kathleen, Ich-Erzählerin im Roman ...

Der Wegzug von rund vier Millionen Menschen löste im Osten Deutschlands nach 1989 eine demografische Krise aus. Eine von denen, der im Osten die Luft zum Atmen fehlte, ist Kathleen, Ich-Erzählerin im Roman "Kosakenberg" von Sabine Rennefanz. Nach dem Abitur 1997 verlässt sie ihr fiktives Dorf im Osten Brandenburgs, um im Westen zu studieren:

"Wir gingen weg, um zu suchen, was wir gleichzeitig verloren. Eine Heimat." (S. 9)

Immer seltener werden fortan ihre Besuche und sie wird zu einer Fremden mit zwei Leben, wie es der russisch-französische Schriftsteller Vladimir Navokov formuliert:

"Das eine, das man lebt, und das andere, das an dem Ort weitergeht, von dem weggegangen ist." (S. 11)

Gehen – ein Vergehen?
Mit 25 Jahren hat Kathleen es geschafft: Als Grafikdesignerin ergattert sie einen Posten in London. Damit lässt sie ihre Herkunft nun sogar doppelt hinter sich: geografisch und sozial. Die Entfremdung manifestiert sich in einer unüberbrückbaren Sprachlosigkeit. Das Desinteresse der Eltern, die sich weder etwas unter ihrem Beruf noch unter einem Leben in London vorstellen können, empfindet Kathleen als feindselig, sie ist verletzt und zunehmend verbittert. Was sie stolz macht, ist in Kosakenberg nichts wert. Sie wiederum schämt sich für das Dorf, die Eltern, die Wegbegleiterinnen und –begleiter ihrer Kindheit und Jugend und blickt mit nicht verborgen bleibender Arroganz auf die Gebliebenen herab:

"… ich ging, sie blieben, meine Welt wurde größer, ihre blieb klein und eng." (S. 17)

Zugleich leidet sie unter der Verachtung, mit der man sie im Dorf straft, und die ihr ein Gefühl des Verrats vermittelt:

"Gehen, ein Vergehen." (S. 113)

Zehn Heimfahrten
Zehn Besuche in der Heimat innerhalb der nächsten fünfzehn Jahre geben dem Roman seine Struktur. Jedes Mal leidet Kathleen unter der Ambivalenz ihrer Gefühlen: Sie reist mit „Widerwillen und Neugier, Ablehnung und Sehnsucht“ (S. 107) an und verspürt Erleichterung beim Gehen. In London bleibt sie trotz beruflicher Erfolge und einer Einladung zur königlichen Gartenparty, mit der man „es geschafft hat“, fremd, auch wenn sie es kaum eingesteht. Der Verkauf ihres Elternhauses nach dem Tod der Großmutter, ausgerechnet an ihre Jugendfreundin Nadine, bringt sie endgültig aus dem Gleichgewicht. Nadine, eine der wenigen Gebliebenen, steht Kathleens Mutter näher als sie selbst. Hatte Kathleen vorher in der Gewissheit der jederzeit möglichen Rückkehr gelebt, ist dieser Weg nun versperrt. Hätte sie das Haus, eine winzige Backsteinkate mit Plumpsklo, Kohleofen und grauem DDR-Verputz, übernehmen sollen? Aber wäre die Rückkehr nicht das Eingeständnis einer Niederlage? Wie kann sie stattdessen in London eine echte Heimat finden?

Eine uneingeschränkte Leseempfehlung
"Kosakenberg" ist ausdrücklich kein autobiografischer Roman, obwohl die 1974 geborene, in Eisenhüttenstatt aufgewachsene Journalistin und Autorin Sabine Rennefanz spürbar viele Erfahrungen mit ihrer Protagonistin teilt. Ob auch sie nach ihrem Weggang mit Eiern aus der Heimat versorgt wurde, diesem gleichermaßen als Zahlungsmittel wie als Liebesbeweis dienenden Nahrungsmittel, das man auf dem hervorragend zum Roman passenden Cover sieht? Mir hat diese fast komplett aus der subjektiven Perspektive einer nicht immer sympathischen Protagonistin erzählte Geschichte über Wurzeln und Neubeginn ausnehmend gut gefallen, nicht nur als Beitrag zur andauernden Ost-West-Problematik, sondern auch zur Landflucht überall. Sabine Rennefanz ist eine ausgezeichnete Erzählerin, die den melancholischen Grundton ihres Romans mit feiner Ironie durchbricht, minimalistisch, elegant, sensibel und punktgenau formuliert, passende Sprachbilder findet, weder beschönigt noch übertreibt und deren exzellent gezeichnete Figuren sich glaubhaft entwickeln. Unbedingt lesen!

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