Platzhalter für Profilbild

Batyr

Lesejury Profi
offline

Batyr ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Batyr über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 17.05.2021

Psychogramm

Die Beichte einer Nacht
0

Die Lektüre vermittelt einen intimen Einblick in die seelische Verfassung einer Frau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Ich-Erzählerin gibt vor, gegenüber der Nachtschwester einer psychiatrischen ...

Die Lektüre vermittelt einen intimen Einblick in die seelische Verfassung einer Frau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Ich-Erzählerin gibt vor, gegenüber der Nachtschwester einer psychiatrischen Klinik eine Lebensbeichte abzulegen, aber die Situation legt nahe, dass es sich nur um eine Fiktion handelt. Einerseits lassen die fehlenden Reaktionen der vorgeblichen Zuhörerin vermuten, dass die Kommunikation nur imaginiert ist, andererseits wird sehr deutlich, dass die Gemütslage dieser Frau sie definitiv unfähig macht, sich gegenüber einem anderen Menschen zu öffnen. Die bigotte, frömmelnde Atmosphäre des Elternhauses bildet den Ausgangspunkt zur Ausbildung dieser absoluten Verschlossenheit der Protagonistin. Aufgrund ihrer Position als älteste Tochter wird ihr übermäßig viel Arbeit und Verantwortung für die kontinuierlich wachsende Geschwisterschar aufgebürdet. Glasklar erkennt sie die Lage der vollkommen ausgelaugten Mutter und den schreienden Egoismus des Vaters und seine Verlogenheit. Eine frühe Abtötung aller Regungen ist das Ergebnis ihrer frühen Erfahrungen. Aufschlussreich, dass die klarste und glückhafteste Erinnerung ein vergeblicher Ausbruchsversuch in sehr jungen Jahren darstellt, wenige Stunden eines vorher nie erlebten, aber umso mehr genossenen Alleinseins. Die sich anschließenden Stufen ihrer Entwicklung lassen einen Wesenszug immer deutlicher hervortreten: nie kann sie voller Überzeugung sich ihrer Individualität gewiss sein. In allen Stadien ihrer Berufstätigkeit, in allen Partnerschaften wirkt sie wie ferngesteuert. Im erstgenannten Lebensbereich genügt sie von außen an sie herangetragenen Ansprüchen, in ihren Beziehungen kommt es nie zu einem Miteinander. Gerade in diesem Bereich der Erotik erweist es sich, dass diese Persönlichkeit von Anfang an eingeschränkt, verkümmert, verdorrt ist. Wie pathologisch ihre Charakteranlage ist, erweist sich gerade in der letzten Beziehung, der vollkommen überhöht dargestellten Liebe zu Hannes. Ihm kann sie kein liebendes Gegenüber sein, folgerichtig, dass auch die Bindung an die Schwester sich als Chimäre erweist. Die als Konsequenz sich ergebende Katastrophe sorgt dafür, dass sie zur Insassin einer Heilanstalt wird. Beeindruckend, mit welchem Feingefühl, mit welcher Einsicht bereits im Jahr 1930 ein solches Psychogramm zu zeichnen vermag.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 12.05.2021

Zwei Frauen aus verschiedenen Generationen

Warten auf Eliza
0

Der Anfang des Romans weckt noch positive Erwartungen auf eine unterhaltsame Lektüre, die durchaus Anstalten macht, literarische Ansprüche zu erfüllen. Alternierend werden zwei gänzlich unterschiedliche ...

Der Anfang des Romans weckt noch positive Erwartungen auf eine unterhaltsame Lektüre, die durchaus Anstalten macht, literarische Ansprüche zu erfüllen. Alternierend werden zwei gänzlich unterschiedliche Frauen präsentiert: eine ältere Witwe, hinter der eine glückliche Ehe liegt, an der man allenfalls kritisieren mag, dass die Frau gegenüber der dominanten Gestalt des Ehemanns nicht ihr volles Potenzial ausgeschöpft hat. Mit ihr kontrastiert eine junge Frau, Doktorandin, bisexuell, charakterlich unfertig, was sich unter anderem darin zeigt, dass sie sich nicht von einer bereits beendeten Beziehung lösen kann. Stück für Stück nähern sich diese beiden Frauen einander an, wobei übermäßig viele Nebenstränge retardierend wirken, um die Begegnung und das Anknüpfen einer Freundschaft herauszuzögern. Der Autorin muss geschwant haben, dass ihre Erzählökonomie ziemlich aus der Balance geraten ist, denn in der zweiten Hälfte des Romans zieht sie merklich das Tempo an, auf Kosten der sprachlichen und kompositorischen Ausgestaltung. Der Text mutet zunehmend nur noch als ein Entwurf an. Den dramatischen Höhepunkt bildet der Verrat der jungen Protagonistin, der die ältere Frau seelisch verletzt zurücklässt. Dazu kommt noch eine äußere Traumatisierung, als sie auch noch Opfer eines Verbrechens wird. Nicht nur die mangelhafte Gestaltungsfähigkeit schlägt zu Buche - weiterhin ist zu bemängeln, dass so ziemlich jedes aktuelle gesellschaftliche Thema in diesem Roman verwurstet wird. Ergebnis ist ein Gemischtwarenladen, der wie anhand einer to-do-Liste konzipiert scheint. Insgesamt eine enttäuschende Lektüre.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 23.04.2021

Der Pianist und sein Chronist

Hauskonzert
0

Es gibt die Musiker, die weit über ihre künstlerische Tätigkeit hinaus die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich ziehen. Bei Igor Levit war es früh, bereits am Anfang seiner Karriere, sein Bestreben, ...

Es gibt die Musiker, die weit über ihre künstlerische Tätigkeit hinaus die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich ziehen. Bei Igor Levit war es früh, bereits am Anfang seiner Karriere, sein Bestreben, sich nicht beschränken und begrenzen zu lassen auf die Rolle des Tastenlöwen, der zufrieden ist mit der Relevanz, die die Gesellschaft bereit ist, dem Künstler zuzubilligen.

Wahrscheinlich selten bei dieser Art Buch: geschrieben für Musikliebhaber wie für Klassikbanausen, für Hobbymusiker und auch für Profis, für alerte Zeitgenossen und diejenigen, die den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen nur wenig Aufmerksamkeit zollen. Was Igor Levit auszeichnet, ist neben seiner exzeptionellen Aufführungspraxis eine geistige Präsenz, Wachheit, Betroffenheit von unserem Heute, so dass er wirklich etwas zu sagen hat.

Gewiss, sein Interviewpartner ist legitimiert, über diesen Pianisten und Zeitgenossen etwas zu sagen. Problematisch aber, dass dieser Chronist, der ganz bewusst die Corona-Krisenzeit wählt, um das intendierte Buchprojekt auf den Weg zu bringen, so gar keine Distanz zu seinem Gegenüber wahrt. Allzu sehr gewinnt der Leser den Eindruck, dass der Co-Autor ganz und gar Verstärker und Sprachrohr dieses Musikers ist, dass er sich ihm übermäßig anempfindet, geradezu als Levit 2.0 figuriert. Die Zerrissenheit dieses Ausnahmekünstlers dem Publikum verdeutlichen zu wollen, bedeutet ja gerade nicht, als sein Echo aufzutreten. Eine nüchternere Sprache, ein emotionaler und gedanklicher Abstand wäre eher geeignet, die spezielle persönliche Verfassung dieses Pianisten darzustellen.

Die Zäsur, die gefährliche Klippe jedoch, die dieses Nicht-Jahr für die gesamte Gesellschaft, den Kunstbetrieb und insbesondere für dieses hochsensible Individuum darstellt, vermag der nicht-chronologische Aufbau dieses Buches überzeugend zu vermitteln. Etliche Projekte hat Levit umgesetzt, um sich der bleiernen Betäubung durch die Pandemie entgegenzustemmen. Das Unkonventionelle, das grundlegend Neue dieser künstlerischen Ideen ruft das Buch auch für diejenigen wach, die sie nicht unmittelbar im Netz rezipiert haben. Doch ebenso präsent ist die unmittelbare psychische Gefährdung, die hoffentlich nicht zu einem willkürlichen Abbruch der aktiven künstlerischen Tätigkeit führen wird.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 14.04.2021

Männer auf dem Feuerschiff

Der Schiffskoch
0

Kurz ist Mathijs Deems Erzählung, knapp und dicht und versponnen. Auf der ersten Ebene lernen wir die Abläufe auf einem Feuerschiff kennen, das den Schiffsverkehr in vielbefahrenen Gewässern sichert. Dann ...

Kurz ist Mathijs Deems Erzählung, knapp und dicht und versponnen. Auf der ersten Ebene lernen wir die Abläufe auf einem Feuerschiff kennen, das den Schiffsverkehr in vielbefahrenen Gewässern sichert. Dann präsentiert der Autor die Besatzung: lauter Individuen, die in einfachen, klaren Worten dargestellt werden und trotzdem ihre Tiefe und ihr Geheimnis bewahren. Das Moment, das alle Ereignisse auf dem Schiff beeinflusst, als ehern geltende Regeln außer Kraft setzt, ist die Ankunft eines Ziegenböckchens, zunächst dazu bestimmt, vom Schiffskoch zu einem schmackhaften indonesischen Gericht verarbeitet zu werden. In letzter Konsequenz aber bleibt das Tier am Leben, rührt aber in den einzelnen Besatzungsmitgliedern verborgene seelische Regungen und Traumata auf. Kurz ist nicht nur der Umfang des Textes, kurz ist auch die erzählte Zeit, die nur einen Dienstzyklus der Mannschaft umfasst, eine wetterbedingte Herausforderung und mannigfaltige persönliche Krisen beinhaltet. Ein stilles Buch, genau in der Diktion, fesselnd in der feinen Austariertheit der Charakterzeichnung.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 03.04.2021

Alte Nazis, neue Revoluzzer - und im Zentrum die Juden

Teufelsberg (Wolf Heller ermittelt 2)
0

Es geht wieder nach Berlin, im Schlepptau von Kommissar Heller, wir schreiben das Jahr 1969. Der Held ist inzwischen Familienvater, die Frau krebskrank - Akzentverschiebung gegenüber der Lebenssituation ...

Es geht wieder nach Berlin, im Schlepptau von Kommissar Heller, wir schreiben das Jahr 1969. Der Held ist inzwischen Familienvater, die Frau krebskrank - Akzentverschiebung gegenüber der Lebenssituation des Helden im ersten Krimi des Autorentrios. Heller gerät von einer Mordermittlung in die ganz große Politik des Kalten Krieges, das kleine West-Berlin fast zerquetscht im Kräftemessen zwischen USA und der Sowjetunion. Destabilisierung ist die Taktik der Stunde, und so steht die jüdische Gemeinde im Fokus des russischen Geheimdienstes. Wieder wählen die Autoren geschickt ein reales Ereignis der Stadtgeschichte, ein gescheiterter Anschlag auf eine Gedenkfeier, um das sie ihre Romanhandlung spinnen. Das typische Flair dieser Zeit kommt dabei zum Tragen: alte Nazis, in allen staatlichen Institutionen noch präsent, die wilde Szene der Linken in ihren Kommunen und WGs, geistig oszillierend zwischen Anarchie und Spinnertum. Und in alle Sphären ist Kommissar Heller eingebunden. Wieder ist das lebendige Heraufbeschwören dieser Zeit das große Plus dieses Romans, umso ärgerlicher, dass es an der sprachlichen Feinarbeit mangelt. Allerlei Stilblüten und ungeschickte Formulierungen schmälern das Lesevergnügen und hätten doch von einem sorgfältig arbeitenden Lektorat beseitigt werden können!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere