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Veröffentlicht am 17.09.2018

Ein Schweizer als Held - noch Fragen?

Pest & Cholera
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Alexandre Yersin verdanken wir die Entdeckung des Pesterregers, er heißt sogar nach ihm „Yersinia pestis“. Alexandre wer? Genau! Yersin gehört zu den unbekannten großen Entdeckern der Medizin, den an eine ...

Alexandre Yersin verdanken wir die Entdeckung des Pesterregers, er heißt sogar nach ihm „Yersinia pestis“. Alexandre wer? Genau! Yersin gehört zu den unbekannten großen Entdeckern der Medizin, den an eine breitere Öffentlichkeit zu bringen, auf einen von der Sonne beschienenen Sockel das erklärte Ziel dieses Romans von Patrick Deville ist. Das hat schon einen fast politischen Impetus, zu dem sich überdies ein historischer Antagonismus gesellt, der sich ganz unpassend im Buch wiederfindet, nämlich der zwischen Louis Pasteur und Robert Koch bzw. deren jeweiligen Schülern und Trabanten. Deville scheint sich bemüßigt zu fühlen, gegen Koch und für Pasteur immer wieder Stellung zu nehmen.

„Pest & Cholera“ ist ein biographischer Roman, der im Präsens geschrieben ist und das Leben des Entdeckers Yersin verfolgt. Es geschieht alles in „Jetztzeit“, wird aber aus der Distanz des Beobachters, fast schon des Biographen geschrieben, was dem Buch etwas Dokumentarisches gibt. Die schlechteren Bücher von Alex Capus sind auch so geschrieben. Die ständigen Wiederholungen hätten dem Lektorat nicht entgehen dürfen (Joseph Meister ist der erste Mensch, der von der Tollwut geheilt wurde ...).

Im großen und ganzen ist der Roman eigentlich misslungen. Er ist vor allem langweilig. Warum? Da könnte ich kalauern:

Ein Schweizer als Held - noch Fragen?

Aber das ist es nicht. Yersin war ein Allrounder, ein Autodidakt, der zunächst auch buchstäblicher Entdecker war, etwa der vietnamesischen Hochebene, die er als Erster durchwandert und kartographiert hat. Das ist schon ein etwas bemühter Superlativ; ich beispielsweise habe keinen Verlust gespürt, dass ich von der vietnamesischen Hochebene zuvor nichts geahnt habe. Deren Vermessung lässt mich vergleichsweise kalt. Das ganze erste Drittel des Buches widmet sich der Zeit vor der Pest und ist langweilig.

Dann setzt sich Yersin in Hongkong an sein Zeiss-Mikroskop und entdeckt den Pesterreger, während sein japanischer Kontrahent, ein Koch-Schüler, völlig daneben liegt. Yersins Beitrag zur Medizingeschichte ist bedeutend – aber: Erstens hat damals jeder Pasteurschüler durch irgendein Mikroskop gelinst und nach Erregern gesucht, das ist nicht gerade originell oder das Ei des Kolumbus. Zweitens hat Paul-Louis Simond den Übertragungsweg entdeckt, die Behandlung ist erst mit Paul Ehrlich und Alexander Fleming gelungen. Yersin ist also eigentlich nur eine Viertelsensation.

Eigentlich berichtet Deville wehmütig von einer Zeit der großen Entdeckungen, die deshalb spannender war, weil eine Welt nach den Entdeckungen weniger Geheimnisse und deshalb weniger Helden besitzt. Das ist deshalb absurd, weil ja die Entdeckung als solche das Thema des Romans ist, ein sentimentaler Tonfall hat hier nichts zu suchen (S. 90).

Ich war enttäuscht und lese lieber einen dokumentarischen Roman über Pasteur oder Koch, nicht über einen Epigonen der beiden.

Veröffentlicht am 17.09.2018

Grand Tour d’Horreur - aber sehr unterhaltsam

Drei auf Reisen
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Douglas ist einer von diesen bedauernswerten schlauen Naturwissenschaftlern, die wahnsinnig intelligent sind, die Formeln der Welt kennen und über die Materie, die die Welt zusammenhält, bestens Bescheid ...

Douglas ist einer von diesen bedauernswerten schlauen Naturwissenschaftlern, die wahnsinnig intelligent sind, die Formeln der Welt kennen und über die Materie, die die Welt zusammenhält, bestens Bescheid wissen. Was nicht durch einen korrekten Versuchsaufbau mess- und beweisbar ist, hat vor ihnen keinen Bestand. Und dann stellen sie nach Jahren fest, dass Menschen nun einmal nicht mathematisch funktionieren, Beziehungen nicht ausrechenbar sind, Kinder keine Re-Produktion im Sinne eines Klons darstellen - ja, dass sie selbst auch nur ein Mensch sind. Dann stehen sie vor dem Scherbenhaufen ihres Lebens und müssen einsehen, dass die Theorie doch arg grau ist, treuer Freund, doch grün des Lebens goldener Baum.

Douglas plant die Grand Tour für seien Familie, drei auf Reisen: er, seine Frau Conny und sein Sohn Albie. Gattin und Nachwuchs entgleiten dem Planer allerdings, und die Tour wird zu einer Serie peinlicher Katastrophen. Und dennoch: Die Katastrophen führen auch zur Erkenntnis, im Schlimmsten entdecken sich die Beteiligten neu und das Leben der Drei bekommt eine Wendung, die witzig und einfallsreich ist. Douglas‘ Blick zurück auf sein Leben offenbart einen ziemlichen Trauerklos, zu dem er sich mehr und mehr entwickelt hatte, weshalb sein Prozess der Selbsterkenntnis, seine Versuchssprünge über den eigenen Schatten spannend zu lesen sind.

Ich mag Nicholls‘ Romane, und dieser bildet keine Ausnahme!

Veröffentlicht am 17.09.2018

Ein großer Schritt für die Karthago-Forschung

Die Geschichte Karthagos
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Die Geschichte Karthagos aus der Feder Hannibal Minors kann – so schreibt es der kundige Herausgeber Olde Hansen in seinem Nachwort – zurecht eine „Sensation“ genannt werden, allerdings nicht nur eine ...

Die Geschichte Karthagos aus der Feder Hannibal Minors kann – so schreibt es der kundige Herausgeber Olde Hansen in seinem Nachwort – zurecht eine „Sensation“ genannt werden, allerdings nicht nur eine „kleine“ (S. 93). Im Gegenteil: Mit diesem schmalen Band ist es gelungen, einer breiten Öffentlichkeit wie auch der Fachwelt eine authentische karthagische Stimme über Karthago – ja: aus Karthago sprechen zu lassen, wo sonst nur die Feinde der Stadt gesprochen haben. Die Geschichte wird von den Siegern gemacht, dieser Grundsatz ist Karthagos ewiges Verhängnis – gewesen. Denn mit der Darstellung Hannibals Minor ist nun die Stimme eines zeitgenössischen Historikers erklungen, die nicht eine „Verlierer-“ , sondern eine „Erfolgsgeschichte“ erzählen kann (S. 94). Wie die antike Handschrift überliefert und wiederaufgefunden wurde, ist eine dieser erstaunlichen Entdeckungsgeschichten der Kodikologie, wie sie über Parzivalhandschriften, den Codex Seraphinianus oder die Merseburger Zaubersprüche erzählt werden können. Die Übersetzer des lateinische Textes, Aake Jensen und Leif Sörensen, legen diese Geschichte in der Einleitung dar und fügen der Krone ihrer Alma Mater, der ehrwürdigen Universität Saksköbing, eine weitere Perle hinzu.

Die Geschichte Karthagos aus der Feder Hannibals Minor stellt die Entwicklung Karthagos von den sagenhaften Anfängen bis zu ihrer Zerstörung durch die Legionen Roms dar. Dabei erweist sich Hannibal Minor sowohl als guter Erzähler wie auch als kundiger Kenner der Historien sowie der zeitgenössischen Politik, Technik und Geographie.

Ausdrücklich zu loben ist der ausgezeichnete Anmerkungsapparat, den Herausgeber Hansen dem Text beifügt. Hier werden die Bezüge zu den historischen Ereignissen und zu den parallelen Überlieferungen der antiken Literatur und Geschichtswissenschaft in Kontext gesetzt und bewertet. Es zeigt sich insbesondere durch diesen gelehrten Kommentar, wie erstaunlich passgenau der kathagische Text die Lücken des bisher bekannten schließt und die bekannten Informationen auf wunderbare Weise verbindet.

Dennoch ist das vorliegende Werk sicherlich nur ein erster Schritt zu einer umfassenderen und textkritischen Ausgabe der Historia Carthaginiensis, die auch mit einigen Lässlichkeiten der Herausgeber aufräumen sollte. Zunächst ist es bedauerlich, dass der Text nur in der deutschen Übersetzung vorliegt. Eine Edition des lateinischen Textes in einer zweisprachigen Ausgabe wäre mehr als wünschenswert gewesen, um die bisweilen doch sehr lässige Jensen/Sörensen-Übersetzung umgehen zu können. Das Lektorat des Kommentarapparates ist für diesen Verlag ebenfalls ungewöhnlich nachlässig.

Insbesondere aber stellen sich weder Einleitung noch Kommentar noch Nachwort der in der Forschung aktuell vordringlich diskutierten Frage, ob Hannibal Minor tatsächlich der Autor dieses Textes ist. Die Selbstauskunft des Autors (HM I, 1) stellt für einen Teil der Antikeforschung eine Quellenfiktion dar, die die eigentliche Entstehungszeit des Textes verschleiern soll. Angesichts der Fülle an Detailinformationen aus der Zeit der vermeintlichen Abfassung des Textes erscheint es logisch abzuleiten, dass „Die Geschichte Karthagos“ später verfasst worden sein muss, da ein Autor im Jahre 106 v. Chr. Unmöglich diese Fülle an Informationen gehabt haben kann. Der Zweifel an der Entstehungszeit des Textes korrespondiert mit der Diskussion über den Namen des Autors. Hannibal „der Kleinere“ (hier haben Jensen/Sörensen aus unbekannten Gründen den Komparativ nicht übersetzt, sondern schreiben „der Kleine“) gibt sich den Namen des berühmtesten Karthagers. „Gibt sich“ ist hier die richtigere Formulierung, denn mit dem Komparativ vergleicht sich der Historiker Hannibal Minor mit dem Feldherrn Hannibal magnus – ein Vergleich, den kein Historiker dieser Zeit für sich in Anspruch genommen hätte. Auch aus der Namensgebung des fiktiven Autors ergibt sich eine vermutlich spätere Autorschaft eines Nachkommen karthagischer Flüchtlinge. Eine im Sinne der „Material Philology“ vorgenommene Analyse der Originalhandschrift offenbart ja in der Buchstabenzeichnung Verwandtschaft zum Voynich-Manuskript und legt zumindest eine in Oberitalien zu vermutende Abschrift des Textes nahe.

Abgesehen von diesen – vielleicht nur dem Experten auffallenden – Mängeln ist das von Hansen herausgegebene Bändchen für die Lektüre in Schule und Universitäten auch deshalb bestens geeignet, weil sie in frischer Übersetzung zu erschwinglichem Peis eine Rundschau über die Fachliteratur zu Karthago und vor allem eine nahezu vollständige Übersicht über die Karthago betreffenden antiken Quellen liefert.

Veröffentlicht am 17.09.2018

Epische Vogelschau auf einen Volkshelden und eine starke Volksseele

Data Tutaschchia
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Tschabua Amiredschibis Roman im Stil eines Volksbuchs erzählt die Geschichte des georgischen Volkshelden und Gesetzlosen Data Tutaschchia. Von dessen Leben ist der Chef der Kaukasischen Gendarmerie, Graf ...

Tschabua Amiredschibis Roman im Stil eines Volksbuchs erzählt die Geschichte des georgischen Volkshelden und Gesetzlosen Data Tutaschchia. Von dessen Leben ist der Chef der Kaukasischen Gendarmerie, Graf Szegedy, von Amts wegen Datas Feind und Verfolger, so beeindruckt, dass er ein Buch über ihn schreibt. Dieses – später aufgefundene – Manuskript bildet das Rückgrat der Konstruktion des Romans, der in vier Bücher aufgeteilt ist. Das erste Buch führt in die Geschichte des ehrbaren Räubers Tutaschchia ein. Graf Szegedys Manuskript wird ergänzt von den Stimmen jener Menschen, die Tutaschchia eine Zeitlang begleitet haben. So entstehen viele authentisch klingende Episoden und Abenteuer, in denen stets Tutaschchia im Mittelpunkt steht. Ihm gegenübergestellt ist sein Alter Ego aufseiten der Strafverfolgung, nämlich sein Vetter Muschni Sarandia, der von ähnlicher Verstandesbegabung ist wie Tutaschchia, aber in den Staatsdienst geht. Es soll sich darin womöglich zeigen, dass es nicht nur ausreicht, persönlich integer zu sein, sondern dass man auch sorgsam auswählen muss, in welcher Sache Dienst man sich stellt.

Das zweite Buch folgt dem Muster, nun aber geht es vermehrt um das Thema „Moral“, so dass manche Episode den Charakter eines „Exempels“ trägt, eines Lehrstückes. Tutaschchia ist ein durch und durch moralischer Mensch, eine „edler Räuber“ und erinnert manchmal an Robin Hood oder Kara ben Nemsi. Was ein „Abrage“, ein Gesetzloser, ist, wird unmittelbar zu Beginn des zweiten Buchs erklärt: Er wird vom Volk sowohl gefürchtet wie verehrt, vielleicht weil er sich die Freiheit nimmt und den Autoritäten trotzt (S. 147). Tutaschchia allerdings ist bisweilen von den Menschen enttäuscht und von der Wirkung seiner guten Taten erschreckt, die nämlich häufig zur Katastrophe führen. Das führt zur Vereinzelung Tutaschchias, der an seinem Dasein als Gesetzloser auch schätzt, mit keinem Menschen verbunden zu sein und gleichzeitig allen – dem Volk. Überhaupt geht es im zweiten Buch sehr viel um das Volk Georgiens und seiner historischen Herkunft sowie seinem von den Geschicken bestimmten Wesen. Den Stimmen des zweiten Buches ist gemeinsam, dass sie den Zustand Georgiens in der Klammer des Zarenreiches beklagen. Dem Volk sei die Liebe entzogen worden: „Die Liebe zur Freiheit, zur Heimat, zum Staat.“ (S. 225) Ausgerechnet in einem Abragen wie Tutaschchia aber scheint sich diese Dreifaltigkeit zu manifestieren. In einem zentralen Gespräch beim Gesetzlosen und Wirt Gogi werden diese Ansichten eines nationalen Aufbruchs thematisiert: „Wohl keine zwei Dinge bedingen einander so sehr wie die Moral des Einzelnen und die Geschicke seines Volkes.“ (S. 231). Wer ist dieser einzelne? Jedermann? Tutaschchia?

Im dritten Buch verlegt sich der Schwerpunkt der Handlung auf Tutaschchias Vetter Sarandia und dessen Karriere im Staatapparat. Es wird verdeutlicht, wie der Weg nach oben den Mann mit denselben edlen Anlagen letztlich korrumpiert. Seine Kniffe und Tricks entbehren dabei nicht der Heimtücke. Sarandia allerdings meint, man müsse der Moral mit „Hinterlist und Böswilligkeit“ auf die Sprünge helfen (S. 462) und verkennt dabei, dass die Moral auf diesem Weg bereits auf der Strecke geblieben ist. Angesichts von Sarandias moralischem Offenbarungseid ringt auch Graf Szegedy um die richtige Position eines gerechten Menschen gegenüber dem Staat und dem Zaren auf der einen und dem edlen Gesetzlosen, der dem Volk dient, auf der anderen Seite. Es ist deutlich, dass Tutaschchia mit seiner Haltung zwar ein Ende finden muss, aber aufrecht stirbt, wohingegen Sarandia buchstäblich dahinsiecht. Wer die Wahrheit verdreht um der Wahrheit willen, dient ihr schlecht. So lobt er: „Ich glaube, dass Dienste zur Verbreitung von Gerüchten eine großem Zukunft haben, sie werden die mannigfaltigsten Formen annehmen; ich sehe es schon kommen, das Zeitalter der massenhaft betriebenen geistigen Sabotage.“ (S. 417) Auch wenn sich diese Feststellung auf den Kalten Krieg bezieht, erweist sich der Autor Amiredschibi geradezu höchstaktuell.

Das vierte und letzte Buch beginnt mit einem Fremdkörper innerhalb des abenteuerlichen Heldenbuches, denn es widmet sich der Zeit Tutaschchias im Gefängnis. Hier nimmt die Geschichte unmittelbares Zeitgeschehen auf, nämlich die unruhigen Jahre vor der Oktoberrevolution. Schon ab 1905 recken sich die Roten Fahnen in die Höge, weshalb ihre Träger als politische Gefangene reihenweise in die zaristischen Gefängnisse wandern. Tutaschchia flankiert hier einen Gefängnisaufstand und die Selbstorganisation der Gefangenen, ohne sich einer Gruppe richtig anzuschließen – das wäre nicht seine Art als heldenmütiger Einzelgänger. Mag dem Autoren diese Episode besonders wichtig gewesen sein – immerhin saß Amiredschibi als politischer Häftling hinter Gittern –, das Politische scheint nicht zum archaischen Helden Tutaschchia zu gehören. Zum Ende des vierten Buches kehrt der Roman zu seinen Anfängen zurück und findet seinen Ton wieder.

Nur Data Tutaschchia betrachtend, dient das erste Buch dazu, ihn als edel und menschlich zu charakterisieren und seine lebenslange Flucht zu begründen. Im zweiten Buch zieht er aus dem Übel, das aus seinen guten Taten entwächst, den Schluss, sich lieber völlig herauszuhalten und gar nichts zu unternehmen, wobei dies seinem Ruf erheblich schadet. Im dritten Buch sieht sich Tutaschchia uneinig darüber, wo er sich in der Gesellschaft verorten soll, und gerät auf der Suche nach „dem bürgerlichen Georgier“ in einer Reihe philosophischer Gespräche, um im vierten Buch letztlich zu erkennen, dass man das Schlechte in der Welt nur bekämpfen kann, indem man Gutes tut.

Fazit

Das episodenhafte Erzählen sorgt dafür, dass die Gesamthandlung immer wieder Pirouetten dreht und nur Langsam vorankommt. Das ruft den leisen Verdacht hervor, dass das Buch eigentlich zu lang ist. Verwirrend sind freilich die vielen Namen, insbesondere wenn Vor- und Nachname die Zehn-Silben-Grenze durchschlagen. Dabei sind manche der auftauchenden Figuren auch in späteren Episoden bedeutsam: Die starken Episoden um Data Tutaschchia nämlich spielen immer eine Rolle, werden aus anderer Sicht neu erzählt und fortgeschrieben. Das verleiht der Handlung einen roten Faden.

Der Roman ist lang und besitzt Längen. „Kürze vermag das Wesentliche zu entstellen“, heißt es aus Seite 450; Länge aber auch. Im vierten Buch scheint auch die Entstehungszeit der Geschichte hindurch – konzipiert in den 1960er Jahren, veröffentlicht 1975. Dem Autoren Amiredschibi ist es darum gelegen, die Stellung des Einzelnen im Kollektivstaat darzulegen sowie Georgiens innerhalb des Sowjetreichs. Da er schon zuvor bei den sowjetischen Autoritäten angeeckt ist, drückt er sich klausuliert aus, bisweilen sogar in der Sprache des Kommunismus. Das ist ermüdend und nicht mehr aktuell. Die Geschichte des Helden hingegen, der sein Schicksal annimmt und ihm trotzt, ist überzeitlich und unbedingt lesbar. Lob hier an die Übersetzerin Kristiane Lichtenfeld, sie hat ein ansprechendes Deutsch gefunden. Ein Namensverzeichnis wäre hilfreich gewesen.

Kurzum: eine Leseempfehlung für alle, die Heldengschichten lieben und das Wesen der kaukasischen Völker verstehen wollen.

Veröffentlicht am 17.09.2018

Die Überlegenheit der Taube

Wie hoch die Wasser steigen
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Anja Kampmann erzählt mit schönen Sätzen, poetischem Bick und synästhetischen Details die Wochen des Bohrinselarbeiters Waclaw, nachdem dessen Kabinennachbar und Freund Mátyás in der Finsternis des Atlantiks ...

Anja Kampmann erzählt mit schönen Sätzen, poetischem Bick und synästhetischen Details die Wochen des Bohrinselarbeiters Waclaw, nachdem dessen Kabinennachbar und Freund Mátyás in der Finsternis des Atlantiks verschwunden ist. Waclaw macht sich auf, nach den Spuren von Mátyás zu suchen und begibt sich gleichzeitig auf eine Suche in eigener Sache.

Zu Beginn ist Waclaw ganz im Nebel seines Traumas gefangen: Der Verlust ist kaum zu fassen, die Welt um ihn verliert an Wirklichkeit. Kampmann setzt dies wunderbar in Sprache um, indem sich Gedanken, Handeln und Umgebung Waclaws ebenfalls in einen diffusen Nebel begeben, häufig wechseln und in der Unfähigkeit, die Wirklichkeit zu fassen, zu unterscheiden und zu beurteilen, alles glich wichtig oder unwichtig erscheint. Erst auf Seite 49 getraut sich Waclaw, Mátyás‘ Verschwinden auszusprechen: ein „accident“, vielleicht. Nun nimmt Waclaws Reise an die Orte, die beiden wichtig waren, Fahrt auf, schält sich ein Ziel heraus, das mehr ist als nur eine Flucht von der Bohrinsel: nach Ungarn, in Mátyás Dorf. Waclaws Weg mäandert nun durch die Zeiten und rund um das Mittelmeer, immer auf den Spuren. Hat er Mátyás geliebt? Waren sie ein Liebespaar? Ja, doch wird es nie explizit ausgesprochen.

Spätestens nachdem Waclaw in Mátyás‘ kleinem ungarischen Dorf gewesen ist, begreift er, dass sein Weg eine Reise rückwärts durch das eigene Leben ist. Dass er sich auf den Spuren seiner selbst bewegt, und einen Halt in sich sucht, der mit dem Tod seines Freundes weggebrochen war. Dieser innere Halt ist die Heimat, und die Heimat sind die Menschen, die ihm auf seinem Weg wichtig gewesen sind, Waclaw reist nach Italien, sucht nach Milena, nach dem Husten des Vaters, nach der Zeche im Ruhrpott. Die ganze Zeit verlässt der melancholische Nebel den Weg des Lesens nicht, hellt nur bisweilen auf, wenn mit Mátyás‘ Schwester Patrícia oder des Vaters Freund Alois echte Menschen in Waclaws Weg treten. Die Bedeutung der Tauben in diesem Roman liegt in ihrer Fähigkeit, ihre Heimat wieder zu finden. Darin sind sie Waclaw überlegen, und er weiß es.

Warum hat mir der Roman dennoch nicht gefallen?

Zunächst ist es die Detailverliebtheit der Autorin, die anfangs als erzählerisches Konzept wunderbar funktionierte, aber irgendwann zur Mache mutiert, der Handlung und der Erkenntnis im Weg steht. Die völlige Gleichgewichtung von elementarer Erinnerung und Fliegenleichen auf der Windschutzscheibe erregt in mi den Eindruck, der Erzählung eines Autisten zu folgen, der Wesentliches nicht aus dem Unwesentlichen herausfiltern kann.

Das Waclaw auf einer Reise zu sich ist, benötigt meines Erachtens nicht so viele Orte. Die Beliebigkeit, in der von Tanger nach Kairo, von Budapest nach Parma, von Bottrop nach Rotterdam gesprungen wird, wirkt bisweilen wie hektische Kulissenschieberei und lässt Waclaws Reiseumfeld zerfasern.

Kampmann liegt sprachlich nicht immer ganz richtig. Jungenkörper, die ins Wasser springen, machen nicht „klackklack“ (S. 195) Anglizismen wie „Waclaw erinnert dies oder jenes“ (z.B S. 52, 118) liegen unter dem sprachlichen Niveau Kampmanns und stören gewaltig. Auch das Fehlen der Anführungszeichen als Kennzeichen wörtlicher Rede hemmt Lesen und Verstehen der Begegnungen im Text unnötig.

Am meisten aber stört mich, dass Kampmann mit einem Arbeiter auf einer Bohrinsel einen harten Kerl aus einer extrem maskulinen Welt zu ihrem Protagonisten macht, ihn aber eigentlich nie in dieser Welt zeigt. Waclaw ist nachdenklich, traumatisiert, sensibel - also alles andre als ein harter Kerl. Schlimmer noch: Er ist nicht einmal männlich. Ich habe den Eindruck, Kampmann hat die Männer oder zumindest diesen Mann nicht verstanden.

„Wie hoch die Waser steigen“ steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2018, was ich nachvollziehen kann, weil Kampmanns Sprach ein hohes Niveau hat. Aber für meien Shortlist reich es nicht.