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Veröffentlicht am 28.08.2020

Licht und Schatten und kein Lied des Wolfes

Das Lied des Wolfes
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Vaelin al Sorna ist zurück – der Held der „Rabenschatten“-Trilogie erlebt im ersten Band der Reihe „Rabenklinge“ neue, blutige Abenteuer, die das Schicksal ihm vorherbestimmt hat. Dass es eine Vorgängertrilogie ...

Vaelin al Sorna ist zurück – der Held der „Rabenschatten“-Trilogie erlebt im ersten Band der Reihe „Rabenklinge“ neue, blutige Abenteuer, die das Schicksal ihm vorherbestimmt hat. Dass es eine Vorgängertrilogie gibt, ist wichtig zu wissen, denn auf den ersten einhundert Seiten arbeitet sich Ryan an den notwendigen, hinreichenden oder wissenswerten Informationen der Rabenschatten-Romane ab. Einiges ist unwichtig, anderes hingegen essentiell – die Erläuterungen darüber etwas, was ein inneres „Lied“ eigentlich bedeutet, warum Vaelin al Sorna in der ganzen Welt als Heerführer bekannt ist oder warum er seinen Mitstreiter Nortah „Bruder“ nennt – sie waren im selben geistlichen Ritterorden in Ausbildung. Als Leser dürfte einen sehr häufig das Gefühl beschleichen, etwas verpasst zu haben, wenn man das „Lied das Wolfes“ nicht als viertes Buch über Vaelin al Sorna liest, sondern als erstes. Deshalb: Rabenschatten zuerst lesen.

Ist der Auftakt zur neuen Trilogie gelungen? Im Grunde genommen ja, aber: Der Abschlussband von Rabenschatten war so schlecht, dass Ryan gezwungenermaßen ein Drittel seines neuen Romans aufwenden muss, um Fehler zu heilen – etwa den Fehler, in eine Fantasywelt zu erschaffen, die keine wirklichen Götter besitzen soll. Vaelin al Sorna ist gelernter Atheist, er hat nämlich erfahren müssen, dass es die Götter, an die er glaubte, nicht gibt. Entsprechend abgeklärt ist sein Umgang mit Menschen seiner Welt, die an göttliches Wirken glauben. Macht das in einer Fantasywelt Spaß Nein. Es erklärt nämlich vor allem nicht die Magie in er Welt, zu der ja das innere Lied Auserwählter auch gehört. Es erklärt auch nicht, was dann eigentlich den großen Widersacher „des Guten“ antreibt, die Weltherrschaft an sich zu reißen.

Asch so – dieser große Widersacher war „der Verbündete“, von dem man im „Lied des Wolfes“ auch hört, als sein „Bote“ nämlich die Handlung ins Rollen bringt. Der „Verbündete“ aber ist nicht mehr, untergegangen im Chaos der Vorgängergeschichte, Nun ab er gibt es etwas „noch Größeres“, von dem auf 500 Seiten nur zu erfahren ist, dass es den Anführer des Barbarenstammes der Stahlhast – Kehlbrand die „Dunkelklinge“ – verführt und zu gottgleicher Führung seines Volkes verholfen hat. Diese Stählerne Horde droht nun, das westliche Kaiserreich zu überrennen, und Vaelin al Sorna ist zur Stelle, obschon er eigentlich nur seine ehemalige große Liebe Sherin retten möchte.

Ryan benutzt zwei Erzählperspektiven: Von den inneren Vorgängen der Stahlhast berichtet ein chronikaler Text von Luralyn, Wahrträumerin und Schwester des hochfahrenden Anführers. Diese Chroniktexte fungieren als Prologe der großen Abschnitte und geben Einblicke in die faschistoide Welt eines barbarischen Reitervolkes. Der Rest der Handlung wird von einem auktorialen Erzähler berichtet, der die Vorgeschichte mitreferieren muss. Dieser Erzähler besitzt eine eindringliche und gefällige Stimme, die es auch braucht, um die Lektüre durch die länglichen ersten 250 Seiten zu tragen. Dann aber nimmt die Handlung rasante Fahrt auf, und Ryan bugsiert seine Leser mitten ins Schlachtgetümmel.

Gelungen sind die Hauptfiguren: Vaelin und Sherin auf der der einen, Luralyn und Kehlbrand auf der anderen Seite. Ausbaufähig sind de Nebenfiguren, die als klischeehafte Abziehbilder in der Kulisse stehen oder effektvoll verbraucht werden.

Gelungen ist die Sogwirkung der Handlung zum Ende des Bandes hin, ausbaufähig die Glaubwürdigkeit der Geschehnisse. Ein bisschen weniger Zufall („Deus ex machina“) wäre ansprechender.

Gelungen ist die politische Struktur des Kontinentes, auf die „Das Lied des Wolfes“ uns führt, als Fantasywelt aber ist sie das Gegenteil von „High Fantasy“. Mit der ansprechenden Idee einer wachsenden Zahl von „Begabten“ mit unterschiedlichen magischen Fähigkeiten mag sich das ändern.

Sehr gut gefällt der Cliffhanger, mit dem Ryan den Leser fast zwingt, den nächsten Band zu erwerben, um der Spannung hinterherzuhecheln. Vielleicht erfährt man dann auch endlich, was das sein soll, dieses kaum erwähnte „Lied des Wolfes“.

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Veröffentlicht am 21.08.2020

Heydrich und ich. Oder besser: Ich und Heydrich

HHhH
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Laurent Binet wollte schon immer einen Roman über Reinhard Heydrich schreiben bzw. über die beiden Attentäter Jozef Gabčík und Jan Kubiš. Und hat er das getan? Nein – er schrieb einen Roman über eine, ...

Laurent Binet wollte schon immer einen Roman über Reinhard Heydrich schreiben bzw. über die beiden Attentäter Jozef Gabčík und Jan Kubiš. Und hat er das getan? Nein – er schrieb einen Roman über eine, der immer schon einmal einen Roman über Heydrich und seine beiden Attentäter schreiben wollte. Was anfangs noch wie eine ausgeweitete Captatio benevolentiae ausgesehen hat, krankt zunehmend an der ständigen Sucht des Autors, den Schreibprozess und die damit verbundenen Entscheidungen (Darstellung, Auswahl, Recherche, Blickwinkel etc.) zu reflektieren. Um es mit Binet zu sagen: „Diese Geschichte wird zu meiner persönlichen Angelegenheit.“ (S. 148) Leider.

Man darf annehmen, dass jeder Autor, der seinen Roman oder sein Sachbuch einem Thema widmet, sich mit diesem intensiv befasst und bis zur Besessenheit hineingekniet hat. Insofern ist Binet nichts Besonderes wiederfahren, vielleicht aber hat er gemerkt, dass nichts Besonderes aus seinem Roman herausgekommen wäre. Darum impfte er ihn mit seinen Metabetrachtungen – vielleicht auch, weil Jonathan Littells „Die Wohlgesinnten“ ebenfalls das Sujet des Menschen im Nationalsozialismus ausleuchtet und es so extrem gut machte.

Binet stolpert nun also durch die Geschichte, indem er Heydrichs Leben und Werdegang kolportiert, hin und wieder Szenen formuliert, um ihre Textgenese anschließend zu kritisieren (Was ist erfunden? Was ist nachprüfbar? Was kann man erzählen? Was darf man erzählen?), weshalb er sich dem Kriegsverbrecher Reinhard Heydrich kaum nähert. Er kreist um ihn – und endlich später auch um die tschechoslowakischen Fallschirmspringer und Freiheitskämpfer –, ohne dass sich eine einzige historische Erkenntnis aufschließen würde, die jeder Handbuchartikel liefern könnte. Die Aneinanderreihung von Anekdoten, Kolportagen, Geschichtchen und die zwischengeschaltete Metabetrachtung von Binets Näherung zum Thema gärt zu einem blubbernden, undefinierbaren Cocktail. Bisweilen schleicht der Verdacht heran, dass Binet es sich womöglich leicht machen wollte, „… da ich mir nicht die Zeit genommen habe, eine vertiefte Recherche zum Thema durchzuführen.“ (S. 192). Den möglichen Vorwurf entkräftet der Text rhetorisch, indem er ihn selbst äußert und indirekt abzuschmettern versucht.

Dass es nicht auf das Detail ankommt, solange der Kern sichtbar wird, thematisiert Binet selbstredend auch. Doch setzte er es nicht um, obschon doch „der Erzähler beinahe uneingeschränkte Freiheiten“ besitze (S. 189). Binet nutzt seine Freiheiten zur Metaanalyse des Biographieschreibvens, was legitim, aber auch fad ist. Nicht eine historische Wahrheit, eine anthropologische Erkenntnis oder ein erhellendes Verständnis lässt sich aus diesem Sachbuch-Roman ziehen. Ob ein Roman über Reinhard Heydrich korrekt sein kann, ob man sich „sicher sein“ kann (S. 256), fragt sich Binet, statt sich zu fragen, ob er wahr sein kann. Denn eine historische Wahrheit misst sich nicht nur am korrekten Detail (schwarzes Auto/grünes Auto), eine literarische Wahrheit noch viel weniger. Und genau diese literarische Wahrheit vermisse ich hier schmerzlich.

Rezensionen von Binets Heydrich-Text kreisen um die Bemerkungen auf der Metaebene und räsonieren über die Rechercheproblematik bei historischen Romane, die Binet so plastisch darlege. Dabei äußert keiner, dass hier selbstverständlich ein Text den Leser massiv manipuliert und mit dem texinhärenten Ich keinesfalls der Autor gleichzusetzen ist! „Aber ich bin eben keine Figur“, schreibt Binet auf Seite 217 – aber ist es freilich doch! Sogar die Hauptfigur.

Ist das ironisch? Zum Beispiel auch, wenn Binet über das Pathos in Alan Burgess‘ Attentats-Roman von 1960 klagt (S. 243), um wenig später Gabčík und Kubiš den „heiligen Boden“ Prags betreten zu lassen (S. 248)? Überhaupt setzt sich der zweite Teil des Romans über die Metaüberlegungen des ersten Teils hinweg und erzählt die Geschichte des Attentats romanhaft (und gut). Hier liest sich der Text wie ein historischer Thriller und liefert dem Leser Erkenntnisse über die Drangsal des totalitären NS-Regimes im Protektorat, über die inneren Mechanismen des Machtapparates und die Bedeutung, die Heydrichs seelenloser Bürokratismus und karrieregeile Menschenverachtung besaßen.

„HHhH“ ist weder Fisch noch Fleisch, weder Biographie noch Roman, ist voller inkonsequenter Erzählhaltungen und setzt sich m.E. viel zu wenig mit der Frage der Wahrheitssuche in der Geschichte auseinander, weil zu sehr die Mechanik derselben im Vordergrund steht.

Ich verstehe nicht, warum Binet den Prix Goncourt du Premier Roman bekommen hat. Vielleicht habe ich aber auch den ganzen Roman nicht verstanden.

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Veröffentlicht am 15.08.2020

Zwischen Fakten und Fiktionen

Doppelte Spur
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Ilija Trojanow mischt sich immer wieder in die Debatte um abschmelzende Bürgerrechte, den Machthunger des staatlichen Leviathans und die Korruption der Mächtigen ein, hier denkt man vor allem an die Zusammenarbeit ...

Ilija Trojanow mischt sich immer wieder in die Debatte um abschmelzende Bürgerrechte, den Machthunger des staatlichen Leviathans und die Korruption der Mächtigen ein, hier denkt man vor allem an die Zusammenarbeit mit Juli Zeh zu „“Angriff auf die Freiheit“. In seinem neuen Roman steigt Trojanow - er sich selbst als handelnden Journalisten innerhalb des Romans literarisiert - in die Whistleblower-Szene ein und versucht das Dokumentendickicht nach der Wahrheit zu durchdringen, das ihm zwei Whistleblower zugesteckt haben. Eine von Westen, einer von Osten - FBI und KGB.

Im Zentrum stehen die Machenschaften von „Schiefer Turm“ (= Donald Trump) und Mikhail Iwanowitsch (=Wladimir Putin), also wie in der implodierenden UdSSR der KGB mit seinen Apparatschiks den Staat und die Wirtschaft übernehmen konnte, und wie in den USA ein windiger Geschäftemacher bei seinen Immobiliendeals die Nomenklatur aus Mafia, politischer Korruption und Spionage vereint und dabei offenbar einen Geldbeutel ohne Boden hat. Gipfel des Romans ist ein Gesprächsprotokoll zwischen Schiefer Turm und Mikhail Iwanowitsch, bei dem der täppische US-Präsident als unwissentliche, aber willige Marionette des skrupellosen Russen dasteht. Der hinter der Romanfigur Geoffrey Wasserstein hervorschimmelnde Jeffrey Epstein ist ein besonders pointiertes Ekeldetail.

Die „Doppelte Spur“ spielt mit Fakten und Fiktion - eine Fülle an überraschenden Details und Fakten zu den sinisteren Milieus in beiden Zentren der macht überzeugen einerseits - andererseits steht stets die Frage im Raum: Faktum? Oder Fiktion? Wenn diese bemerkenswerte Konzentration verurteilter Verbrecher und Spione unter den Bewohnern des Newyorker Trump-Towers Fakt ist, dann will ich das lieber als überprüfbares Fanal investigatorischen Journalismus in einer vertrauenswürdigen Zeitung lesen, um mir aus den Informationen ein Urteil bilden zu können, das nicht aus einem Roman gewonnen wurde, der jederzeit behaupten kann, dieser Teil sei doch der erfundene.

Trojanows Roman ist Littératur engagée und liest sich so gänsehauterregend, wie man Oliver Stones „JFK“ anschaut. Die Vielzahl an Fragen, die sich angesichts der aufgereihten Fakten schreiend aufwerfen, verstört und empört gleichermaßen. Gleichzeitig kann man sich zu keiner Zeit sicher sein, das der Roman die Reaktion nicht manipuliert - mithin also ein Beitrag zur Verschwörungstheorie ist, obschon er eigentlich das genaue Gegenteil sein möchte.

Hätte „Doppelte Spur“ nicht auf den letzten 20 Seiten eine erhellende, neue Wendung genommen, die das Augenmerk weg von den Protagonisten des alltäglichen Politdramas auf die supranationalen Akteure lenkt, wäre der Roman beinahe bei mir durchgefallen. So bleibt dennoch das Bedauern, dass Faktum und Fiktion nicht immer trennbar sind und das erlaubte Mittel des literarischen Lückenschließens durch Erfindung eben nicht die Antwort auf den fehlenden letztgültigen Beweis gegen Trump & Co. darstellen.

Wenn lesen, dann jetzt lesen - ab November 2020 könnte Trump schon Geschichte sein.

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Veröffentlicht am 11.08.2020

Zwischen Bleiben und Gehen

Der letzte Satz
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Was stimmt nicht mit Seethalers melancholischem Mahler-Romänchen „Der letzte Satz“? Dass er nur 120 Seiten hat, auf denen luftig großer Durchschuss den Zeilen viel Platz lässt, ist es nicht, denn die Erzählung ...

Was stimmt nicht mit Seethalers melancholischem Mahler-Romänchen „Der letzte Satz“? Dass er nur 120 Seiten hat, auf denen luftig großer Durchschuss den Zeilen viel Platz lässt, ist es nicht, denn die Erzählung von Gustav Mahlers letzter Reise liest sich gewandt und gefällig. Was also hat mich so gestört, das ich mit dieser Rezension fast zwei Wochen schwanger gehen musste? es hat wohl mit diesem Satz zu tun: „Man kann über Musik nicht reden, es gibt keine Sprache dafür. Sobald Musik sich beschreiben lässt, ist sie schlecht.“ (S. 65)

Seethaler schreibt nicht über Musik, sondern über einen Komponisten und Dirigenten. Das macht er sehr gut, es finden sich alle wichtigen Stationen aus Mahlers Leben auf den 120 Seiten - ganz plastisch erscheint das Gerüst dieser außergewöhnlichen Vita, wenn ich sie mit dem zu Rate gezogenen Wikipedia-Artikel vergleiche. Aber Seethaler schreibt nicht - oder nur kaum – über die Musik. Welchen Sinn ergibt es, über einen Musiker zu schreiben, wenn man so wenig über die Musik erfährt? Immerhin, und das sind die m.E. stärksten Passagen, kreist der innere Monolog des moribunden Musikers um das Komponieren. Woher kommt die Musik? Was sieht Mahler, das uns ihn hören macht? Eindrücklich über Mahlers innige Musikwerdung durch die Wahrnehmung sowohl des Äußeren (Vögelgezwitscher u.ä.) wie auch des inneren Genius, des autonomen Schöpfers: „Er hätte die Harmonien seines Körpers komponieren sollen. Und noch vielmehr die Disharmonien.“ (S. 114) Gemeint sind Mahlers instabile Gesundheit, der schwere Verlust der älteren Tochter und das zerrüttete Verhältnis zur viel jüngeren und von einem anderen Genius umworbenen Ehefrau Alma.

Beim Lesen sitzen wir nicht nur mit dem totgeweihten Mahler in seinem Deckstuhl auf der letzten Reise aus den USA nach Europa, gezeichnet von der Herzmuskelentzündung, an der die Ärzte in New York, Paris und Wien verzweifelten (und Mahler selbst auch, und zwar immer wieder in diesem Roman), wir sitzen auch mit ihm in seinen Komponierhäuschen. Hier destilliert Mahler die Natur in seine Musik, und Seethaler erspart uns diese klischeehaften Passagen nicht.

Klischeehaft und wie aus dem Lehrbuch zur Textgestaltung wirken allerdings auch andere Absätze: Man nehme ein Ortsdetail, eine innere Ansicht, einen Vergleich und einen synästhetischen Sinneseindruck – anlässlich des Besuchs bei Siegmund Freud auf Seite 98 klingt das so: „In einem Café tranken sie heiße Limonade mit Honig, dann machen sie einen Spaziergang entlang der Rapenburg-Gracht (Detail!). Mahler erinnerte sich (innere Ansicht!) an das das ölige, flaschengrüne (Vergleich!), unter den Brücken und im Schatten der Boote tiefschwarze Wasser. Es war mitten im Sommer, doch es roch schon nach Herbst, faulig und feucht (Synästhesie!).“ Das ist einerseits perfekt erzählt. Andererseits wirkt es auch mechanisch, lehrbuchhaft und damit platt. Überhaupt erscheint es zum Scheitern verurteilt, alle wichtigen biografischen Details Mahlers auf so wenig Seiten mehr listenartig als listenreich abzuhaken.

Abgesehen davon, dass zu wenig Musik auf diesen 120 Seiten erklingt und zu viel schwarze Galle aus der Melancholie von Mahlers umfassenden Abschied vom Leben, der Welt, der Musik und seiner Frau tropft, muss man freilich auch über den Titel des Buches nachdenken: „Der letzte Satz“.

Mahler lässt die Entstehung seiner neunten Sinfonie und die letzten drei Jahre Revue passieren lässt: Diese neunte wird - wie bei Beethoven oder Bruckner Mahlers letzte sein, mithin der vierte Satz auch Mahlers "letzter Satz". Dieser endet bemerkenswerterweise mit der Spielanweisung "ersterbend" - und genau in dieser elegischen Abschiedsstimmung trifft man lesend Mahler an Bord des Schiffes an. Ich wäre gespannt gewesen, wie Seethaler die Entstehung des letzten Satzes der 9. Sinfonie und das Ersterben Mahlers literarisch konvergieren lässt. Das passiert allerdings nicht, denn die Musik spielt in diesem Roman ja nicht die erste Geige.

Eine andere Spannung aber konstruiert Seethaler, nämlich aus dem letzten Satz, den Mahler in diesem Roman sagt, und dem letzten Satz des Roman schlechthin: „Ich sollte noch ein wenig bleiben“, sagt Mahler auf Seite 118, doch das unerbittliche Ende lautet: „Und das war gut, denn es war Zeit, zu gehen.“ (S. 126)

Diese Spannung zwischen Bleiben und Gehen gelingt Seethaler immerhin durch das Gegenüber von melancholischer Rückschau und Dialog mit dem jugendlichen Decksstewart, der den „Direktor“ bedient und zur interessantesten Nebenfigur wächst.

Mein letzter Satz: „Der letzte Satz“ liefert nicht mehr als der Wikipedia-Artikel zu Gustav Mahler, ist aber deutlich schöner zu lesen.

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Veröffentlicht am 21.07.2020

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Paradise City
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Liina lebt in einer „schönen neuen Welt“, in der Krankheiten und Armut überwunden sind und vor allem die Katastrophen längst Geschichte sind, die von unserer Zivilisation zu Beginn des 21. Jahrhunderts ...

Liina lebt in einer „schönen neuen Welt“, in der Krankheiten und Armut überwunden sind und vor allem die Katastrophen längst Geschichte sind, die von unserer Zivilisation zu Beginn des 21. Jahrhunderts ausgelöst wurden: Pandemien haben ganze Städte entvölkert, der Klimawandel lässt die Küsten versinken und Verbrechen sind fast nicht mehr bekannt und die staatlichen Medien berichten über die Großartigkeit der modernen Welt. der Preis, den jede/r Einzelne dafür bezahlt, ist die Einschränkung der persönlichen Freiheit. Gesundheit und Sicherheit stehen an erster Stelle, die Rechte des Individuums stehen dahinter zurück. Das Individuum etwa wird durch sein Smartcase sowie die Gesundheits-App „KOS“ überwacht. KOS gibt nicht nur Hinweise zum Gesundheitsstatus, sondern auch zur Fitness, Ernährung und Medikamentierung. KOS ist ein von Menschen erdachtes Programm, das für die optimale körperliche Verfassung der Bürger sorgen soll - und das Programm versieht seine Aufgabe nach paternalistischem Algorithmus ohne Kompromisse. Der Staat verfährt ganz ähnlich mit dem „Volkskörper“: Teil des Systems ist, wer produktiv, arbeitsam, gesund und willig ist. Wer sich dagegen sträubt, kann bei den „Parallelen“ leben, nicht aber in den Genuss der Zivilisation neusten Standards in Deutschland gelangen.

Der Roman, der irrtümlich als „Thriller“ gekennzeichnet ist, verwendet sehr viel Zeit auf das Setting, den Kontext und das gesellschaftliche Arrangement, wobei allerdings der Verlust der Nordseeküste, der Untergang Berlins oder die technische Beschaffenheit der Smartcases eigentlich nur Kulisse sind, nicht Handlung. Immerhin ist Adenauers Traum doch noch wahr geworden: Frankfurt wurde Hauptstadt. Die eigentliche Handlung - eine mysteriöse Tote in der Uckermark, die tödlichen Attacken auf Mitarbeiter der letzten unabhängigen Presseagentur „Gallus“, die Zusammenhänge mit dem Programm KOS und deren Entwicklerin Simona Arendt - diese Handlung kommt zwischen der Dystopie-Folklore kaum voran.

Zoe Beck habe das, was derzeit geschehe, nur konsequent weitergedacht und daraus eine Gesundheitsdiktatur konstruiert, erläuterte die Autorin in mehreren Interviews. Dieses Arbeitsprinzip gilt für alle Dystopien - und das macht ihren Reiz und ihre Gegenwartsrelevanz aus. Becks Gedanken mitzudenken, ist deshalb gewinnbringend und erschreckend zugleich: Was passiert, wenn ein Staat oder eine künstliche Intelligenz unbarmherzig alle Abweichungen von der Norm zu korrigieren versucht? Was ist eigentlich „normal“? Wo bleib die individuelle Freiheit, ja: das Individuum in einem solchen System? Schafft sich eine demokratische Gesellschaft womöglich aus Bequemlichkeit selbst ab, weil sie wichtige Entscheidungen lieber einem Algorithmus überlassen möchte? Weil sie irrtümlich annimmt, „Sicherheit“ sei ein „Supergrundrecht“, wie ein Innenminister der Bundesrepublik wirklich schon einmal fantasiert hat?

„Paradise City“ regt zu vielen guten Gedanken an, die sich so oder so ähnlich aber auch in Aldous Huxleys „Schöne Neue Welt“ von 1932, Kazuo Ishiguros „Alles was wir geben mussten“ von 2005 und Juli Zehs „Corpus Delicti“ von 2009 finden. Eigentlich ist es deshalb umso beunruhigender, dass unsere Gesellschaft mit ihrem Gesundheitswahn, der Lust an der einfachen Antwort und der Selbstaufgabe persönlicher Rechte immer noch weiter macht und Becks Roman deshalb so aktuell ist.

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